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10.
Die letzte Drohung

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London – Samstag, 27. April 1715

Edmond Halley hastete, den Brief seiner Vermieterin in Händen haltend, nach Hause. Die Nachricht klang dringlich und Edmond schwante Übles.

Hatte man sie an seiner statt überfallen? War man in seine Wohnung eingebrochen und hatte sie verwüstet? Seine Unterlagen zerstört oder gestohlen? Hatten die Eindringlinge vielleicht sogar seinen Notgroschen entdeckt, den er unter einer lockeren Bodendiele versteckt hatte? Er musste sich beeilen und nachsehen.

Im Laufschritt schaffte Edmond es bis zur Abzweigung der Dartmouth Street. Von hier aus konnte er die eng aneinander geschmiegten Häuser bereits sehen.

Mistress Delainy legte keinerlei Wert auf Prunk. Nur auf Sauberkeit und Ruhe. Die Menschentraube, die sich am Eingang versammelt hatte, versprach daher zweierlei: Eine unschöne Geschichte und eine übellaunige Vermieterin noch dazu. Hauptsache, dass es ihr gut ging.

Edmond holte Atem, straffte sich und trabte das letzte Stück in möglichst angemessener Haltung. Im Grunde lief ein Gentleman nicht. Niemals. Nicht einmal, wenn es um seine Forschung ging. Aber Edmonds Sorge war zu groß. Die Regularien der Royal Society waren in vielerlei Hinsicht alt und verstaubt. Das hatte er bereits mehrfach aufgrund seines vergleichsweise modernen Forschungsfeldes zu spüren bekommen.

Als hätten die Alteingesessenen Honoratioren Angst, die Weltordnung könnte einstürzen, wenn man Anstandsregeln und wissenschaftliche Konzepte auch einmal in Frage stellte oder erweitern wollte. Dabei war dies doch der Kern allen Strebens und Lernens! Sich ewiglich neu zu entdecken, neu zu erfinden und Dinge in Zusammenhänge zu bringen, die vorher undenkbar erschienen waren.

»Da sind Sie ja!«, begrüßte Mistress Delainy ihn mit schreckensbleicher Miene und zum Himmel gereckten Armen. Sie war eindeutig am Leben.

»Ihr Bote hat mich gerade erst erreicht«, entschuldigte sich Edmond und hob, der Etikette folgend, den Hut zu einem knappen Gruß, bevor er sie nach dem Grund der Nachricht fragte.

»Sehen Sie selbst«, sagte Mistress Delainy und deutete in einer übertrieben theatralischen Geste zur Eingangstür, während sie die andere Hand mit einem ebenso meisterlich inszenierten Stöhnen an die Stirn legte.

Edmond kannte seine Vermieterin gut genug, um zu erkennen, dass sie durchaus echauffiert, aber gewiss nicht völlig außer sich war. Für gewöhnlich beschränkten sich ernsthaft schockierte Menschen darauf, nur noch zu schreien, statt einen Auftritt wie fürs Theater hinzulegen.

Ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen folgte Edmond dem Fingerzeig. Doch seine Miene gefror, als er erkannte, um was es ging.

Das, was alle anderen Schaulustigen mit vorgehaltener Hand anstarrten, und was der Parish Constable mit seinen Leuten akribisch untersuchte, war eine Katze. Eine tote, schwarze Katze, die jemand wie eine Trophäe an die Tür genagelt hatte.

Edmond musste nicht lange überlegen, wer so etwas Grauenvolles getan haben konnte. Oder warum. Erst der Drohbrief. Dann der Mann, der ihn verfolgt hatte. Und nun die Katze – schlechtes Omen, Teufelsbotin und Wiedergängerin zwischen den Welten des Diesseits und Jenseits. Die Anhänger von Blut und Wasser Christi wollten überdeutlich seinen Tod. Und bewiesen mit dieser Gräueltat, dass es auch für ihn nicht nur eine leere Drohung bleiben würde, wenn er weiter in London bleiben und die Sonnenfinsternis nicht widerrufen würde.

Glaube rührte in den Herzen der Menschen so viel mehr an als die Logik. Der kühle Kopf schien dem wütenden Herz im Zweifelsfall haushoch unterlegen. Gefühle beschworen unkontrollierbares Verhalten herauf. Chaos war einer der wenigen Mechanismen, die die Ordnung in der Welt mit einem einzigen Wimpernschlag zu Fall bringen konnten. Weil Angst mächtiger war als der Verstand. Das hatte die Geschichte bereits mehrfach bewiesen.

Edmond starrte das arme Tier an. Das Fell räudig und zerzaust. Das Maul im Todeskampf aufgerissen und erstarrt. Die Zunge hing schlaff zur Seite heraus. Auf dem Boden hatten sich kleine Blutlachen unter den in den Leib gerammten Nägeln gebildet. Doch sie waren dunkel verfärbt und angetrocknet. Der Kadaver war bereits steif. Die Totenstarre war ein Vorgang, der ein Lebewesen zu einem Ding werden ließ. Wie ein Stein, ein Holzblock oder Ziegel. Nur eben mit schwarzem, räudigem Fell drumherum.

»Es tut mir leid«, flüsterte Edmond und presste die Lippen aufeinander.

»Das sollte es auch!«, kam die prompte Antwort von der Seite. Mistress Delainy kräuselte sichtlich angeekelt die Nase. »Es ist ja wohl eindeutig, dass dieser widerwärtige Anschlag Ihnen gilt. Nicht nur, dass ich darunter leide, dass man in der ganzen Stadt diese schrecklichen Schmähungen über Sie findet, jetzt wird auch noch mein Haus Ziel dieser Anschläge. So kann das nicht weitergehen.«

Edmond kniff die Augen zusammen und wünschte sich weit fort. Warum nur war er Wissenschaftler geworden? Warum dürstete er danach, den Menschen Wissen zu bringen, wenn die meisten es weder wollten noch verdienten?

»Wenn Sie nicht fähig sind, dieses Unglück zu stoppen, sehe ich mich gezwungen, Ihnen ab Montag die Wohnung aufzukündigen. Zu Ihrem und zu meinem Wohl wohlgemerkt. Wer weiß denn schon, was diesen Fanatikern als nächstes einfällt.«

Er hatte es kommen sehen, es in ihren Augen gelesen in den letzten Tagen, vielleicht auch schon Wochen davor. Schon da hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn vor die Tür zu setzen, um sich den Ärger, den er neuerdings magisch anzog, vom Leib zu halten.

Aber sie hatte es bis jetzt nicht getan. Nicht ausgesprochen. Und das zeigte ihm, dass sie unter ihrem mit Schultertuch hochgeschlossenen schmucklosen Hauskleid sehr wohl ein weiches, liebenswürdiges Herz hatte.

Die Herzen sind Hüter unserer größten Schätze und gleichzeitig Erschaffer der ärgsten Gräuel, dachte Edmond bei sich. Es würde nichts helfen, mit Mistress Delainy zu diskutieren. Zu versuchen, es ihr auszureden. Wenn er die Wohnung behalten wollte – und das wollte er gewiss –, dann musste er sofort eine Entscheidung treffen.

»Ich werde mich an den Rat des Constable Johnson halten und die Stadt für ein paar Tage oder Wochen verlassen. Eine Reise nach Frankreich. Die Bretagne soll zu dieser Jahreszeit in geradezu magisches Licht getaucht sein. Der ideale Ort, um sich etwas Ruhe zu verschaffen und den Kopf frei für neue Ideen zu bekommen.«

Bei diesem Nachsatz zuckten die Mundwinkel der Vermieterin nach unten. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie überaus freundlich fragte: »Ich wusste gar nicht, dass Sie dort Verwandte haben?«

Oh du Schlange! Habe ich dich eben noch liebenswürdig genannt? Berechnend bist du und unverschämt!, schoss es Edmond durch den Kopf, bevor er ebenso unverbindlich freundlich erwiderte: »Ein Kollege hat dort ein hübsches Anwesen und mich bereits vor einigen Tagen eingeladen, ihm dort über den Sommer Gesellschaft zu leisten und einige wissenschaftliche Dispute zu erörtern.«

»Der gute Sir Isaac Newton?«, wagte Mistress Delainy sich weiter vor. »Wie wunderbar. Ich habe gleich bei seinem ersten Besuch gemerkt, wie gut Sie sich miteinander verstehen. Nehmen Sie die Familie mit?«

Jetzt war es Wut, die alle anderen Gefühle in Edmond verdrängte. Er presste die Lippen aufeinander, unfähig, noch etwas Angemessenes zu erwidern. Stattdessen nickte er knapp und ging auf die Tür zu. Einfach nur, um dem Gespräch zu entfliehen, bevor er die Beherrschung verlor. Doch offenbar deutete Constable Donald Leonard Johnson die Annäherung als Interessenbekundung an dem eigentlichen Subjekt des allgemeinen Anstoßes.

»Straßenkater«, sagte er, während er weitere Notizen niederkritzelte. Und als Edmond nichts erwiderte: »War wohl schon tot, als man ihn dran genagelt hat. Zu wenig Blut.« Er deutete auf die kleinen Flecken am Boden. »Wahrscheinlich vorher erschlagen. So wie’s die Leute draußen auf dem Land tun, wenn die Mäuseräuber zu faul werden. Einfach an den Beinen packen und …«

»Constable, bitte!« Edmond schloss die Augen. Er war ein Tierfreund. Für ihn hatte jedes Lebewesen eine Daseinsberechtigung. Die Vorstellung, dass man es wie ein Stück nasse Wäsche gegen etwas schlagen könnte, ließ ihn innerlich erzittern. Die Menschheit war eine Bestie, schlimmer als jedes Raubtier, das in Büchern verzeichnet war.

»Verzeihen Sie, Sir«, sagte Johnson und mühte sich im nächsten Moment um besonders eifrige Pflichterfüllung. Er zählte die symbolischen Bedeutungen einer toten Katze auf und zog am Ende dieselben Schlüsse wie Mistress Delainy zuvor. »Solange die Sache mit der Sonnenfinsternis noch offen ist, erscheint es mir äußerst ratsam für Sie, unterzutauchen.«

Edmond rieb sich über sein Gesicht, drehte sich zur Straße und blickte über die vielen Menschen, die dicht gedrängt am Zaun hingen und gafften. »Ich verreise«, sagte er schließlich. »Mit dem Schiff. Gleich morgen früh werde ich mich erkundigen, wann das nächste Passagierschiff nach Frankreich ausläuft.«

Johnson hatte aufgehört, zu schreiben und stellte sich neben ihn. »Ist nicht leicht, die Speerspitze zu sein. Verstehen Sie, was ich meine? Sie stehen mit Ihrer Forschung ganz vorn in der ersten Reihe. Da trifft’s einen am härtesten. Da bekommt man sowohl die Kugeln ab, als auch die Bajonette. Die Ersten sind die mit der größten Leidenschaft. Weil sie sehenden Auges gegen den Feind anstürmen und sich für alle, die nach ihnen kommen, opfern. Aber manchmal ist es selbst in der ersten Reihe klug, innezuhalten und in Deckung zu gehen.«

Edmond spürte, wie der Constable ihm die Hand auf die Schulter legte und sie einmal kräftig drückte. Seine Worte waren auf so vielfältige Weise wahr. Und sie waren so tiefsinnig, dass sich Edmond fragte, wie ein Mann mit einem geradezu poetischen und wachen Geist ausgerechnet zu so einem Beruf kam. Er hatte ganz eindeutig mehr zu bieten als man ihm auf den ersten Blick ansah. Und vielleicht auch mehr zu verheimlichen.

Edmond wagte nicht, dem Constable in die Augen zu sehen. Aus Angst, sich selbst zu entblößen. Die Andeutungen von Mistress Delainy hatten deutlich gemacht, dass es in der Londoner Gesellschaft bereits genug Gerüchte um ihn und seinen besten Freund gab.

Verbrüderung im Geiste war das eine, eine körperliche etwas ganz anders. Und genau daran dachten sie alle, wenn es um solch abgenutzte Worte wie Liebe ging. Dabei gab es so viel mehr. Nuancen der Anziehung, Freundschaft, Zuneigung. Ganz ohne, dass dies in aufgewühlten Kissen und Decken enden musste. Erfüllung ließ sich auf so viele Arten erreichen. Selbst über die Distanz hinweg. Trotz all des Fortschritts dieser Tage, gab es andererseits noch so vieles, das steinzeitlich und festverwurzelt war.

Es dauerte eine weitere quälend lange Stunde, bis der Constable schließlich genug mögliche Indizien und Spuren aufgenommen hatte und die Katze endlich abgehängt werden konnte. Langsam aber sicher zerstreute sich das Publikum. Edmond wollte gerade ins Haus gehen, als er in einem Hauseingang schräg gegenüber eine Gestalt in Kutte und Kapuze zu sehen glaubte.

Sein Puls schnellte in die Höhe. Sollte er Johnson von den anderen Vorkommnissen erzählen? Unschlüssig blickte er zwischen dem Constable und dem Häusereingang hin und her. Doch auf den zweiten Blick war der Hauseingang dunkel und leer.

Edmond hielt vor Anspannung die Luft an und ging ohne weitere Abschiedsworte auf sein Zimmer, um seine Koffer zu packen.

Elfenzeit 6: Zeiterbe

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