Читать книгу Elfenzeit 6: Zeiterbe - Uschi Zietsch - Страница 16
8.
Bandorchus Ausflug
ОглавлениеHügel von Tara
Bandorchu saß auf ihrem Bett im frisch errichteten Schlafgemach und spießte mit einem Zahnstocher die Augen einer unartigen Dryade auf, die man ihr auf einem Teller serviert hatte.
Ohne ihre Besitzerin waren es nur mehr tote hölzerne Klötze, in deren Mitte eine bleiche, eichelförmige Pupille saß. Das Leben eines Menschen war genauso leicht zu beenden wie das eines Baumgeistes. Es war der Widerstand, den Bandorchu so sehr an den Nicht-Elfischen genoss. Dieser kindliche Trotz, gepaart mit einem starken Willen, der im Kontrast zu ihren verletzlichen Leibern stand. Doch gegen Magie waren sie machtlos. Selbst ein einfacher Kobold wie der Springgans konnte sie dazu bringen, willenlos Befehlen zu folgen. Und genau das würde sie sich zunutze machen. Das hatte er mit dieser albernen Zahnstocherlieferung eindrucksvoll bewiesen.
Die Dunkle Königin konzentrierte sich und sog die Energien, die über die Ley-Linien zu ihr strömten, in sich auf. Ihr treuer, schattenloser Diener hatte gut daran getan, die Stäbe an den nördlichen fünf Hauptknoten zu setzen, um ihr die Quelle der Macht zugänglich zu machen.
Auf diese Weise konnte sie ihr Reservoir zur Gänze auffüllen, zu hundert Prozent auftanken, statt sich weiter mit den Häppchen zufrieden geben zu müssen, die die Menschen ihr geboten hatten. Wirre, beschädigte Seelen, die Bandorchus Diener nach dem Übertritt in diese Welt aus den abgelegenen Gassen der Städte herangeschafft hatten. Doch damit war vorerst Schluss. Jetzt, da sie auf die geballte Energie aus der Erde zugreifen konnte.
Alle würden ihr zu Willen sein, wenn sie sich erst diese Welt und die der Sidhe Crain Untertan gemacht hatte. Der nötige Grundstein war gelegt, das Basislager im Aufbau. Nun galt es, den Schlachtplan genauer auszuarbeiten. Sie brauchte noch mehr Macht, mehr Energie! Sie würde ihre Heerschar zu einem einzigen vernichtenden Schlag in den Krieg führen. Also musste jedes noch so winzige Rädchen im Getriebe einwandfrei funktionieren.
Und ausgerechnet in dieser vielleicht alles entscheidenden Stunde war ihr wertvollster Diener nicht hier! »Wo bist du?«, rief die Dunkle Königin in den leeren Raum hinein. »Komm zu mir, damit ich dich für deinen Verrat büßen lassen kann!«
Doch der Getreue tauchte nicht auf. Trotzte ihr schon wieder! Einmal mehr wünschte Bandorchu sich ihr Hündchen herbei, um es zu treten, zu würgen und sich an seinem Leid sattzusehen. Kein anderer hatte es je so lange an ihrer Seite ausgehalten, in Knechtschaft und Pein. Hin und her gerissen zwischen Verzückung und Qual.
Mit einem Wutschrei sprang die Königin auf und befahl dem Mann ohne Schatten, zurückzukehren und sich ihr auszuliefern. Das Band zwischen ihnen war eng geknüpft. Sie und ihn verband so viel mehr als nur das Streben nach Macht. Sie waren voneinander abhängig. Er brauchte sie. Er zehrte von ihr. Und er würde kommen! Kommen müssen!
Mit einem giftig-süßen Lächeln auf den Lippen straffte sie sich, rückte ihre Robe zurecht, fuhr sich durch ihr langes, seidig schimmerndes Haar und war wieder die Dunkle Königin, Herrscherin über die Verbannten, Gebieterin ihrer Gefühle. Nichts konnte sie aufhalten. Gefasst und siegessicher trat sie aus der Kammer in den steinernen Palisadengang hinaus.
Die Wände waren aus massivem Granit gebaut. Wie ein Fort, eine Trutzburg, die dereinst jedem Ansturm standhalten würde. Aber noch war es nicht soweit. Noch brauchte es Vorbereitung und weitere Planung. Und es brauchte die Menschen. Diese unerschöpfliche Welt.
Sie brauchten Nahrung und Waffen, Handwerker, Schmiede, Bauleute. Und es brauchte Informationen. Ein Netzwerk, das sich über die Welt spannte, um über jedwede Entwicklung, die ihr Vorhaben betraf, auf dem Laufenden zu sein.
Menschenseelen waren so schwach und anfällig. Ein Fingerschnipsen reichte, um sie sich dienstbar zu machen, ihren Willen zu brechen, sie als brave Marionetten auf dem Schachbrett zu positionieren und nach ihren Wünschen zu verschieben. Es wurde Zeit, die Figuren zu wählen.
Die Schritte der Dunklen Königin hallten durch die Gänge und fingen sich im Turm der Wendeltreppe, als sie im Stechschritt hinabstieg. Das erste Mal, seit sie in Tara angekommen war und den Bau ihrer Trutzburg begonnen hatte, verließ Bandorchu ihre neue Heimstatt, trat aus dem schützenden Wall heraus, um sich unter die Menschen zu mischen. Gänzlich allein. Durch ihre eigene Macht geschützt.
Der Weg ins Dorf war nicht weit. Nach ein paar hügeligen Wiesen und Feldern tauchten die kleinen Hütten und Höfe vor ihr auf. Ein typisch irisches Idyll. Durchdrungen von Schafdung und schalem Ale. Die Menschen hier liebten es einfach, herzlich und streitlustig, so viel wusste Bandorchu über das Volk der Koboldfreunde und Freiheitskämpfer.
Mit erhabenem Gang stieg sie sicheren Schrittes über die Moosfelder der Weide, öffnete das Gatter und trat wie selbstverständlich hinaus auf die Dorfstraße.
Die Sonne neigte sich dem westlichen Horizont zu, um sich niederzulegen. Die Bauern waren dabei, ihr Tagwerk zu beenden, die Tiere zurück in ihre Ställe zu bringen, sie zu füttern und schließlich an das eigene Wohl zu denken. Wer nicht daheim bei seiner Familie hocken musste, ging unter Leute. Mit dem schwächer werdenden Licht wurden die Menschen redselig und gesellig.
Doch als die Dunkle Königin in ihrer weißen, beinahe durchsichtigen Robe, ihrem glatten, strahlendblonden Haar und ihrem zartelfischen Antlitz die erste Häuserzeile erreichte, kam die dörfische Welt zum Stillstand.
»Oh, wie wunderschön«, hauchte eine Bäuerin, die gerade dabei gewesen war, ihre Wäsche abzuhängen.
»Ist das ein Engel, Mama?«, fragte das Kleinkind an ihrem Rockzipfel.
Die Männer hingegen plusterten ihr imaginäres Gefieder, reckten die Köpfe, streckten die Brust heraus und strichen sich das Hemd über ihrer Bierwampe zurecht. Ein besonders eifriger Kerl eilte herbei, zog seine Kappe vom Kopf und verbeugte sich, als wäre Bandorchu eine Balldame und er ihr ergebener Tanzpartner.
»Was fürne Ehr’, so ne hübsche Dame hier zu ham«, sagte er und lächelte sein schönstes Zahnlückenlächeln.
Doch die Dunkle Königin war nicht unterwegs, um sich Schmeicheleien abzuholen. Es gab viel zu organisieren. »Wer ist der Krämer an diesem Ort? Wer der Fleischer? Und wer hat einen ordentlichen Karren mit kräftigen Pferden, um mir die gewünschten Güter zu transportieren?«, fragte sie mit klarer, lauter Stimme.
Die Männer sahen sich an und wirkten unschlüssig. Bis auf den buckelnden Speichellecker wollte sich keiner näher wagen. Also schob sich Bandorchu die Ärmel links und rechts bis zu den Ellenbogen hinauf, ließ die Finger einmal knacken, bevor sie erst nach der Magie in der Erde und dann nach den Seelen dieser Dummköpfe griff.
Einen nach dem anderen band sie an sich, machte sie alle zu ihren hörigen Opfern, raubte ihnen die Sinne und stahl ihnen ihren Willen. Genau wie es der Springgans zuvor bei dem Schäferjungen getan hatte, um ihr Zahnstocher zu besorgen.
Ihre Magie floss in schwarzvioletten Strängen zu jedem einzelnen, der sich im Umkreis von fünfzehn Metern auf der Straße befand. Ganz egal, wie sehr die Frauen und Kinder aus der Ferne protestierten oder schrien, die Männer ließen alles stehen und liegen, wandten sich ihrem neuen Mittelpunkt zu und folgten ihrem Ruf.
»Irwin! Wo willst du denn hin, Irwin?«, rief eine Alte ihrem Mann nach.
Der Greis kam in schleppendem Gang auf Bandorchu zu, ohne zu antworten oder sich auch nur nach seiner Frau umzudrehen. Sein Gesicht zeugte von jahrzehntelanger harter Arbeit bei Sonne, Regen und Sturm. Fasziniert betrachtete die Dunkle Königin die tiefen Furchen in seiner Haut. Ledrig und spröde, fast wie Baumrinde wirkte sie. Doch Bandorchu konnte spüren, dass in seinen Knochen noch reichlich Leben steckte.
Seine großen klobigen Hände baumelten seitlich aus abgetragenen Ärmelenden. Zwei gut geschulte Werkzeuge, die blind ihre Arbeit verrichten konnten.
»Was ist dein Talent?«, fragte die Dunkle Königin, als er vor ihr stehenblieb.
»Ich bin Fuhrmann. Ich transportiere das Holz, ziehe mit meinen Gäulen die Baumstämme aus dem Wald, säubere sie von Ästen und bring sie rüber in die nächste Stadt ins Lager oder direkt zum Verladebahnhof, wenn’s Holz weiter weg reisen soll«, antwortete der Mann gehorsam.
»Sag mir deinen Namen, Fuhrmann«, befahl Bandorchu mit zuckersüßer Stimme, während die Alte immer noch keifte und zeterte.
»Liam«, kam die prompte Antwort.
»Dann hör mir gut zu, Liam«, sprach sie und fasste seinen Kopf mit beiden Händen. »Du gehörst jetzt mir. Du wirst tun, was immer ich wünsche, bis ich dir etwas anderes befehle.« Erneut ließ sie die Magie aus sich heraus strömen, ihn umschlingen und schließlich in ihn dringen. Zielsicher bahnte sich ihr Zauber den Weg zum Zentrum seines Denkens und Handelns und hinab in sein Herz und seine Eingeweide. All das würde von nun an danach schmachten, ihre Stimme zu hören und ihre Kommandos zu empfangen. In ihm gab es nur noch sie als Sonne, die er zu umkreisen hatte, und ein paar elementare Überlebensinstinkte, die ihn atmen und verdauen ließen.
»Du wirst meiner Spur folgen und uns all dein Holz bringen und was du sonst noch an Waren in deinem Lager hast. Aber vorher versorgst du uns mit so viel Essen und Wein, wie auf deinen Karren passt.« Mit einem bittersüßen Kuss auf seine Lippen besiegelte sie den Bannzauber. Er stöhnte auf. Von Grauen überwältigt und doch verzückt. Denn die Erkenntnis, gefangen zu sein, wich bereits bei seinem nächsten Atemzug aus dem Bewusstsein. Mit leergefegtem Verstand stand er da, während ihm eine letzte Träne über die Wange rann.
»Hexe! Seht, was sie gemacht hat! Sie ist eine verdammte Ausgeburt der Hölle!«, schrie die Alte und kam ihrem Mann mit hoch erhobenem Teppichklopfer nach.
Bandorchu hob belustigt die Brauen, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab. Ein bisschen Drama war nie verkehrt, als unterhaltsames Intermezzo.
»Seht ihr das denn nicht? Dass sie euch alle bezirzt?«, keifte die Frau, als sie heran war. Den Klopfer immer noch drohend erhoben, drehte sie sich, um die Umstehenden aufzurütteln. Doch die Blicke der Männer galten nur ihr – der Dunklen Königin Bandorchu.
»Schweig jetzt«, sagte sie, als die Alte immer lauter und hysterischer wurde. Eine Handbewegung reichte, um ihr die Stimme zu nehmen. Um ihr die Kehle zuzuschnüren und dann zuzudrücken.
Die Augen weit aufgerissen, die Hände an den Hals gelegt, keuchte die Greisin, kratzte sich die Haut auf bei dem verzweifelten Versuch, sich von dem unsichtbaren Henkersseil zu befreien, das sich von Sekunde zu Sekunde fester zuzog.
Oh, wie Bandorchu es genoss. Wie sehr sie es liebte, Verzweiflung zu säen, Hoffnung zu rauben und Todesangst zu schüren. Die Energie in ihr brodelte so heiß und gierig, dass ihr Herz zu hämmern begann. Brunftige Leidenschaft wallte in ihr auf, wollte einen Körper nehmen, ihn niederzwingen, sich untertan machen und schließlich genommen werden. Haut an Haut. Ineinander verschlungen. In Schmerz und Lust vereint, bis die Anspannung in einem Feuerwerk der Ekstase endete, sich auflöste und – zumindest für einen kurzen Moment – an ihre Stelle Befriedigung setzte.
»Der nächste!«, rief sie voller Gier, formte die Hand zur Faust, presste das letzte bisschen Leben aus der Frau und wandte sich den wartenden Männern zu.
Die Frau brach leblos zusammen, den Kopf unnatürlich schräg zur Seite gekippt, das Gesicht zu einer Fratze des Schreckens verzerrt. Das würde anderen eine Lehre sein.
»Schaff sie weg von hier«, befahl sie Liam.
Seine Augen spiegelten für einen Bruchteil Erkennen und Schmerz wider. Tief in ihm drinnen wusste er, was passierte, spürte er sein eigenes Herz brechen. Dennoch beugte er sich ächzend vor, packte seine tote Frau an den Haaren, als wäre sie ein Stück Holz, und zog sie routiniert die Straße hinab zurück zum Hof.
Mehr Menschen strömten aus den Häusern, redeten aufgeregt durcheinander und deuteten auf Bandorchu. Vielleicht war diese Demonstration ihrer Macht doch keine so gute Idee gewesen. Eine Tote mochte noch keine Schlagzeilen wert sein, aber ein Dutzend würde am Ende noch die Gesetzeshüter von außerhalb auf den Plan rufen. Unnötiger Trubel, der lästig werden konnte.
Also entschied sich die Dunkle Königin dafür, es für heute gut sein zu lassen. Zwei der umstehenden Burschen zog sie magisch mit sich, während sie dem Rest befahl, sich wieder um ihre alltäglichen Dinge zu kümmern. Es würde an ihnen sein, die ganze Sache ihren Familien zu erklären. Unnötig, sie auch noch zu bannen. Vorerst zumindest.
Es war so einfach, den menschlichen Geist zu verdrehen, ihn zu wenden und zu töten, wie es ihr beliebte. Die Energie, die sie dafür benötigte, war verschwindend gering, im Vergleich zu so manchem elfischen Opfer.
Kaum einer, mit Ausnahme des Getreuen, hatte sich je gegen ihre Einflussnahme gewehrt, hatte sich ihr trotzig widersetzt und ihre Nerven strapaziert. Andererseits waren es die kämpferischen Gegner, die sie schätzte. Ihre Pein war die schönste, weil in ihnen immer noch der Hoffnungsfunke glomm, sie könnten ihr entkommen. Doch das musste sie bei ihrem getreuen Diener nicht befürchten. Auch wenn er ihr trotzte, er war ihr verfallen. Mit Haut und Haar. Und eine leise Stimme sagte ihr, dass das verlorene Schaf auf ihren Ruf hin heimgekehrt war und sehnsüchtig seine Strafe erwartete.
Bandorchu lächelte grimmig bei diesem Gedanken, drehte sich um, wischte mit der Hand einmal elegant durch die Luft und trat zufrieden den Heimweg an. Ein violetter Windhauch fegte durch die Straße, umspielte die Menschen und ließ Verwirrung und Wut verrauchen, ließ sie vergessen und weitermachen mit ihrem kleinen nichtigen Leben.
Sie würde wiederkommen und erneut mit ihnen spielen. Bis sich alle Steinchen am richtigen Fleck versammelt hatten. Bis ihr Netz gespannt war und ihre Diener und Verbündeten bereit für die letzte Schlacht waren.