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1. Kapitel

Wo mein Zahnarzt sagt, dass ich ein Psycho sei und ich entdecke, dass mein Vater ein Geheimnis hat

Ich glaube, alles fing an diesem Januarnachmittag an, als mir unser Zahnarzt eröffnete, dass ich ein Psycho sei und eine Knirscherschiene bräuchte.

„Sie wollen also sagen, dass ich ein Psycho bin?“ Herausfordernd blickte ich Dr. Kühnle in die Augen.

„Nein, nein“, er lachte und schob sich auf seinem Untersuchungshocker ein Stück vom Behandlungsstuhl weg, „nein, Tilda. Das habe ich nicht gesagt.“

Er verschränkte die Arme vor seinem Bauch und sah mich ernst an: „Du hast immer wieder diese Verspannungen in der Kiefermuskulatur, du hast Kopfschmerzen und deine Mutter sagt, dass du nachts mit den Zähnen knirschst.“

Er wandte sich an die Zahnarzthelferin: „Gabriele, bringen Sie mir doch bitte mal das Zahnmodell.“

Gabriele verschwand. Irgendwohin.

„Deine Beschwerden könnten ein Hinweis auf seelische Spannungen sein. Weißt du, vielleicht verarbeitest du nachts mit den Zähnen, was du tagsüber nicht lösen kannst. Hast du Probleme in der Schule?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Oder mit deinen Eltern oder mit deinem Freund?“ Ich schwieg. War ich hier beim Zahnarzt oder beim Seelenklempner?

„Nun ja“, fuhr er fort, „geht mich ja auch nichts an, aber ...“

Genau, dachte ich, es geht dich nichts an. Außerdem gab es keinen Freund, jedenfalls zurzeit nicht.

„Wir sollten die Sache von zwei Seiten angehen“, fuhr Dr. Kühnle fort. „Ich würde dir zu autogenem Training raten und zusätzlich zu einer Knirscherschiene. Das autogene Training hilft dir innerlich zur Ruhe zu kommen und die Knirscherschiene ... geben Sie mal her!“

Gabriele reichte ihm ein Gebissmodell, das so groß war, dass es nur von einem Pferd stammen konnte.

„Die Knirscherschiene schützt deine Zähne. Denn bei der nächtlichen Knirscherei können Zähne über die Jahre hinweg richtig abgeschliffen werden.“

Er führte mit dem Pferdegebiss Kaubewegungen vor. Es machte ein hässliches Geräusch. Dann steckte er auf eine der beiden Zahnreihen eine zarte Plastikhülle. Jetzt gab es nur ein ganz feines Mahlgeräusch.

„Mit deiner Mutter habe ich heute Morgen schon telefoniert. Sie wäre damit einverstanden, dass wir die Abdrücke gleich machen. Und du?“

Schicksalsergeben nickte ich.

„Wie geht’s eigentlich deinem Vater?“, fragte er unvermittelt. „Sind seine Schmerzen etwas besser geworden?“

Wer hatte denn da nun wieder rumgequatscht? Was gingen Dr. Kühnle die Schmerzen meines Vaters an, dachte ich.

Er schien meine Gedanken zu erraten: „Deine Mutter war doch neulich mit Julian hier. Er muss übrigens zum Kieferorthopäden. Jedenfalls sieht man deiner Mutter an, dass es ihr nicht gut geht. Gabriele hat nachgefragt und deine Mutter hat gleich angefangen zu weinen und erzählt, dass dein Vater ständig Schmerzen hat.“

Meine Mutter kann ihre Klappe einfach nicht halten, dachte ich. Seit einiger Zeit hatte mein Vater immer wieder heftige Schmerzen in den Beinen. Wenn diese Schmerzattacken über ihn hereinbrachen, zog er sich zurück. Oft saß er dann mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Couch oder auf dem Bettrand und rieb sich Oberschenkel und Schienbeine. Massagen und Krankengymnastik hatten ihm bisher kaum geholfen. Erst kürzlich war er zu einer Untersuchung in Freiburg gewesen, aber ob etwas dabei herausgekommen war, wusste ich auch nicht genau. Mama hatte nur gemeint, es sei nicht ganz klar und es müssten noch weitere Untersuchungen gemacht werden. Ich wusste nicht, warum ich nicht wollte, dass andere es erfahren würden. Vielleicht, weil Papa sich auch sonst so verändert hatte. Er redete kaum noch mit uns. Früher war er lustig gewesen. Meine Mutter und er waren die witzigsten Eltern gewesen, die man sich vorstellen kann. Jetzt hing eine dunkle Wolke der Traurigkeit um ihn und lähmte uns alle.

Wenig später schob mir eine andere Zahnarzthelferin eine löffelartige Plastikschiene zwischen die Zähne. Die Schiene war mit giftgrünem Abdruckmaterial gefüllt und schien meinen Mund zu sprengen. Mit ein paar ermutigenden Worten, die so ähnlich klangen wie „Immer durch die Nase atmen und wenn du keine Luft mehr kriegst, rufst du einfach. Die Leichensäcke sind nebenan! Haha!“, ließ mich die Helferin allein. Ich konnte nicht einmal den Mund öffnen, geschweige denn rufen.

Einsam saß ich in dem winzigen, schlauchartigen Behandlungszimmer und versuchte, ruhig durch die Nase zu atmen. Die Längswand neben mir war von oben bis unten mit Regalen bedeckt, auf denen kleine Kästen gestapelt waren. An der Frontseite dieser Kästchen hatten die Helferinnen mit rotem und blauem Filzstift Daten und die Namen der Patienten notiert, deren Gebissabdrücke hier für die Nachwelt lagerten. Rot für die weiblichen Patienten und blau für die männlichen. Bald würde auch mein Name eines der Kästchen zieren. Und wenn die Archäologen in zweitausend Jahren mein Kästchen in den Händen hielten, würden sie in verblassender, roter Schrift lesen „Tilda Llewelyn, Knirscherschiene.“ Sie würden es öffnen und beim Anblick der Abdrücke meines Oberund Unterkiefers Verbindungen zum schiefen Turm von Pisa herstellen, oder zu den verfallenen Grabsteinen alter, walisischer Friedhöfe. Ich musste grinsen und verschluckte mich fast. Ich versuchte trotzdem, weiter ruhig durch die Nase zu atmen.

Durch das hohe, gardinenlose Fenster am Ende des Raumes sah ich dicke Schneeflocken herabtrudeln. Gleich würden sie eins werden mit ihren Schneeflockenkameraden auf der Erde, dachte ich melancholisch zwischen zwei Erstickungsanfällen.

Engelsgleich stand plötzlich Gabriele neben mir und erlöste meine Zähne von der hart gewordenen Masse in dem Plastiklöffel. Ich durfte mir noch den Mund ausspülen, erhielt eine Broschüre mit ersten Anleitungen zum autogenen Training und einen weiteren Termin für nächste Woche. Dann konnte ich dieses Folterstudio endlich verlassen.

Inzwischen war es fast dunkel geworden. Die weißen Hauben auf den geparkten Fahrzeugen und die feinen Schneelinien auf den Geschäftsschildern der Läden glitzerten im Licht der Schaufenster.

Ich schaute auf meine Armbanduhr: Es war 17.44 Uhr. Mein Bus würde um 17.58 Uhr am Bahnhof abfahren. Ich rannte los.

Mein langer Mantel schlug mir um die Waden, mal rutschte ich, mal watete ich durch den Schnee. Ich war fast sechzehneinhalb Jahre alt, 153 Zentimeter groß und wog gut 70 Kilo. Den Bus sah ich gerade noch von hinten.

Der nächste Bus in meine Richtung würde erst in einer Dreiviertelstunde fahren. Erschöpft ließ ich mich auf die Bank in einer Ecke des Wartehäuschens fallen und japste nach Luft. Trotz der Kälte schwitzte ich. Wenn meine Freundin Sandra mich jetzt so sähe!

Sandra besuchte die Klasse über mir. Die Mädchen aus unseren beiden Klassen hatten gemeinsam Sportunterricht. Sandra und ich waren uns beim gemeinsamen Sportunterricht-Schwänzen nähergekommen.

Sandra war aus Prinzip gegen das Unterrichten von Leibesübungen. Sie fand es lächerlich und altmodisch. Folglich hatte sie ihre monatliche Regel recht unregelmäßig und vor allem recht häufig. Die Entschuldigungen dafür schrieb sie selber. Die Unterschrift ihrer Mutter fälschte sie.

Manchmal blickte die Sportlehrerin Sandra zweifelnd an und meinte, sie solle vielleicht doch mal eine Frauenärztin aufsuchen. Irgendetwas könne mit ihrem Zyklus nicht stimmen. Schließlich sei sie siebzehn. Ob sie, die Sportlehrerin, mal mit Sandras Mutter reden solle? Nein, nein, wehrte Sandra dann ab, ihre Mutter sei Krankenschwester und kenne sich aus. Ein unregelmäßiger Zyklus bei jungen Mädchen sei ganz normal. Manchmal könne es Jahre dauern, bis der sich richtig eingespielt habe.

Ich litt wahlweise unter Asthmaanfällen, Unterzuckerung oder hatte Hüftbeschwerden wegen meines Übergewichtes, wenn ich keine Lust auf das sportliche Rumgehampele hatte.

Von gegenüber leuchteten mich durch den dichten Schleier aus fallenden, weißen Flocken die hellen Fenster des McKing freundlich an. Wie in einem Schaufenster konnte man die Jugendlichen beobachten, die in mehreren Reihen an der Verkaufstheke anstanden. Vor dem Fenster hockten sie auf hohen Stühlen und schlürften Getränke oder tunkten Kartoffelstäbchen in Soßennäpfe. Ich strich über meine festen Schenkel. Kälte kroch an meinen Beinen hoch. Ein Zug aus Richtung Schweiz rollte hinter mir langsam in den Bahnhof ein. Ich mummelte mich fester in meinen dicken, dunkelbraunen Mantel. Reisende stiegen aus. Einige zogen Metallkoffer hinter sich her. Die kamen sicher direkt vom Züricher Flughafen. Wo die wohl überall gewesen sein mochten? Ich stellte mir die Sahara vor und fröstelte. In meinem Rucksack wühlte ich nach dem Portemonnaie. Zwar hatte ich kaum noch Geld, aber irgendwo musste vom letzten Kinobesuch noch die Kinokarte mit dem aufgedruckten HamburgerGutschein sein. Eigentlich wollte ich heute nichts mehr essen. Aber da ich doch vorher fast einen Erstickungstod gestorben war, jetzt auch noch den Bus verpasst hatte und der Gutschein nur zwei Wochen gültig war, beschloss ich, mir ein Plätzchen im Warmen und eine Kleinigkeit zum Futtern zu gönnen. Ich nahm den Rucksack auf, raffte meine Mantelschöße und hechtete zwischen den fahrenden Autos hindurch auf die andere Straßenseite. Es herrschte Feierabendverkehr. Alle wollten nach Hause.

Als ich die Tür zum McKing aufstieß, empfing mich sofort das warme Leben. Eine laute Welle aus Lachen und Geschwätzigkeit rollte mir entgegen. Ich kaufte einen Riesen-Hamburger und setzte mich auf einen der Barhocker direkt am Fenster. Genüsslich begann ich zu kauen, während ich den vorbeifahrenden Autos gedankenverloren nachschaute.

Diesen einen richtig fetten Hamburger würde ich noch genießen, beschloss ich und dann ab sofort Diät halten. Im Sommer würde ich mich auf der Wiese am Seeufer im türkisfarbenen Bikini räkeln. Ich stellte mir Hennings Gesicht vor. Henning war erst vor einem Monat in Sandras Klasse gekommen. Seine Familie war aus Norddeutschland an den See gezogen. Ich hatte mich ein bisschen in Henning verliebt. Seitdem Sandra von meiner Verliebtheit wusste, erzählte sie mir immer, was mit Henning gerade so los war.

Oder würde mir zu meinen kirschrot gefärbten Haaren statt des türkisfarbenen ein grüner Bikini besser stehen, überlegte ich und wischte mir den Ketchup aus dem Mundwinkel. So ein grüner, wie der Astra, der dort vorne gerade in zweiter Reihe vor der Ampel hielt. So ein Auto hatten meine Eltern auch. Sogar das Autokennzeichen war ... das waren meine Eltern! Ich erkannte Papas langen Hinterkopf. Ich sah seinen grauen Bart, als er den Kopf zu Mama neben ihm wandte. Mama? War sie beim Friseur gewesen? Ich sprang auf und rannte auf die Straße. Ich hatte den Reißverschluss meines Rucksacks nicht richtig zugezogen und beinahe hätten sich meine Schulbücher noch auf den Bürgersteig ergossen.

„Papa! Halt an!“, rief ich aus vollem Halse, „Halt! Mama! Wartet auf mich!“ Ich hatte fast das Auto erreicht. Gleich würde ich auf den Kofferraum schlagen können, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich meinte Papas ernste Augen im Rückspiegel erkennen zu können. Sah er mich? Der Wagen fuhr an.

„Papa!“, brüllte ich, „Halt! Wartet! Mama!“

Jemand hupte hinter mir. Der Astra meiner Eltern fuhr ganz plötzlich und ganz rasch davon.

Ich war so sauer, dass ich den Rest meines Hamburgers in den Schneematsch warf.

„Scheiße!“, schrie ich, „verdammte Scheiße!“

Meine Armbanduhr zeigte 18.30 Uhr. Noch eine viertel Stunde, bis mein Bus kommen würde. Meine Bank an der Bushaltestelle war noch frei. Ich setzte mich und fror beleidigt vor mich hin.

Als ich später in die Straße einbog, in der wir lebten, war es dunkel geworden. Missmutig stapfte ich durch den frischen Schnee. Auf dem Wendeplatz, dort, wo meine Eltern unser Auto immer abstellten, wartete einsam der schwarze VW-Käfer unserer Nachbarin auf Gesellschaft. Ich schloss die Wohnungstüre auf.

„Mama!“, rief ich aus Gewohnheit. „Papa!“

Es war still. Doch es duftete nach gebackenem Käse und Spinat und im oberen Stockwerk schimmerte Licht.

„Julian!“, rief ich.

Mein kleiner Bruder tobte sich sicher mit seinem Freund Anton an einem Computerspiel aus. Das ungehemmte Lachen aus vollem Halse - typisch vorpubertäre Jungs - schallte jetzt von oben herab durch den Flur. Die Küchentür öffnete sich. Mamas kräftige Statur erschien im Türrahmen. Mama band sich die Küchenschürze ab und fuhr sich mit bemehlten Fingern durchs Haar. Der weiße Staub hinterließ feine Spuren auf ihren halblangen, dunkelbraunen Locken. Sie war nicht beim Friseur gewesen.

„Du, du, du bist ja da?!“, stotterte ich. Mein Rucksack plumpste beim Flurspiegel auf den Linoleumfußboden.

Wo war Papa, fragte ich mich. Und vor allem: Wer war die Frau neben ihm gewesen?

Meine Mutter lächelte: „Gleich gibt’s was Leckeres. Ich hab gefüllten Blätterteig im Ofen. Wie war’s in der Schule? Wie war’s beim Zahnarzt?“

Ich sagte meiner Mutter nichts von der anderen Frau in unserem Auto. Aber mein Vater, hatte mein Vater mich erkannt?

Ich verzog mich in mein Zimmer, um mir die Broschüre über das autogene Training anzuschauen. Ich legte mich aufs Bett und fühlte mich laut Anweisung aus dem grünen Heftchen ganz schwer. Klar fühle ich mich schwer, dachte ich, ich bin schwer.

>Ich hatte dich erkannt. Jemand hupte hinter mir, ich sah dein aufgeregtes Gesicht im Rückspiegel. Ich befürchtete, dass du die Frau auch gesehen haben könntest. Ich konnte dir das nicht antun. Noch nicht. Fast in Panik drückte ich den Fuß aufs Gaspedal. Deinen fassungslosen Blick fing ich gerade noch auf. <

Das Orionband

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