Читать книгу Das Orionband - Ute Friederici - Страница 6
Оглавление2. Kapitel
Wo ich meinen Vater zur Rede stelle und Sandra findet, dass mein Vater wie alle Männer ist
An diesem Abend, wie auch an den folgenden Tagen, sah ich meinen Vater kaum. Obwohl das Auto meinen Eltern gemeinsam gehörte, war er jetzt ständig mit dem Wagen alleine unterwegs. Meine Mutter war auf den Bus angewiesen, wenn sie in die Stadt wollte. Aber sie beklagte sich nicht.
Die wenigen Male, an denen ich meinem Vater morgens oder abends im Flur oder in der Küche begegnete, war er schweigsam und kurz angebunden. Mama erklärte mir und Julian, dass Papa einen besonderen Übersetzungsauftrag habe. Er müsse mit dem Auftraggeber persönlich verhandeln. Als freie Übersetzer waren meine Eltern auf jeden Auftrag angewiesen.
Ich musste immer wieder an diese Frau denken. Ob Papa sich wohl heimlich mit ihr traf? Auch Mama erschien mir in diesen Tagen ungewöhnlich ruhig. Als ich sie einmal direkt fragte, ob sie Kummer habe, meinte sie nur, sie mache sich Sorgen um Papas Beine. Aber zu einer Freundin reicht es ihm wohl immer noch, dachte ich hasserfüllt.
Meine Entspannungsübungen begannen, mir zu gefallen. Neben dem Schwererwerden der Arme und Beine spürte ich inzwischen auch die Wärme recht gut.
>Meistens fuhr ich ohne Ziel durch die Gegend, stellte den Wagen irgendwo auf einem Parkplatz ab, zog die Kapuze meines Parkas hoch und wanderte am Seeufer entlang. Ich genoss es, wenn der Wind mir unter die Kapuze in den Nacken jagte. Manchmal traf ich die Frau. Wir redeten viel. Sie verstand mich. Sie verstand mich besser als deine Mutter, Tilda. Deine Mutter dachte in dieser Zeit nur an sich selbst.<
Ich war gespannt, welche Ausrede mein Vater haben würde, um am Wochenende mit dem Auto unterwegs sein zu können. Seine so genannten Auftraggeber musste er ja wohl kaum Samstag und Sonntag treffen. Doch es gab keine Ausrede; er blieb tatsächlich daheim.
Den Samstag verbrachte er allerdings bis zum frühen Abend im Bett. Am Abend hatte Mama ein dampfendes Blech Pizza auf ein großes Holzbrett auf den Tisch gestellt. Für jeden war etwas dabei: duftende Tomaten, weich fließender Mozzarella, saftige Ananasstücke, Salamischeiben, die sich in der Hitze des Backofens gerollt hatten, und scharfe Pepperonistückchen. Julian erhob gleich Besitzansprüche auf den mit Ananas belegten Teil.
Papa erschien im Bademantel. Er setzte sich und blickte heißhungrig auf die Pizza. Die graumelierten Haare standen ihm verklebt vom Kopf ab.
„Hast du mein Haargel benutzt?“, fragte Julian interessiert.
Mein Vater fuhr sich verlegen lächelnd durch die fettigen Strähnen: „Ich glaube, ich sollte mich mal frisch machen vor dem Essen.“
Schwerfällig stand er auf. Als er an mir vorbeiging, roch ich eine leichte Alkoholfahne. Für die andere Frau, für die macht er sich bestimmt immer frisch, dachte ich bitter. Meine Mutter, die blöde Kuh, lächelte ihm auch noch aufmunternd zu: „Ja, Darling, mach dich ein bisschen frisch.“
Ich schaute ihm in die Augen und versuchte in meinen Blick so viel Verachtung zu legen, wie ich nur konnte.
Später beim Essen, nachdem er sich wenigstens die Haare gekämmt hatte, redete mein Vater tatsächlich mal mit mir. Er fragte mich wegen meines Zahnarzttermines. Er sagte, er hoffe, dass bald die Muskelkrämpfe im meinem Kiefer aufhörten.
Wenn das hier alles nicht so traurig wäre, kriegte ich statt der Muskelkrämpfe Lachkrämpfe, dachte ich. Lustlos berichtete ich von meinem Beinahe-Erstickungstod im Folterstudio. Nächste Woche Dienstag würde die Schiene fertig sein.
Julian nervte mit der Idee, ich müsse jetzt eine Zahnspange tragen. Für ihn wäre das der Super-GAU, die schlimmstmögliche Vorstellung von Peinlichkeit. Bis ihm die Ohren abfielen, versuchte ich ihm zu erklären, dass es sich bei dem mir angepassten Gerät keineswegs um eine fest eingesetzte Zahnspange, sondern um eine Knirscherschiene handele, die nur nachts getragen werden müsse. Außerdem – und dies fügte ich mit Blick auf seinen bevorstehenden Termin beim Kieferorthopäden aus pädagogischen Gründen hinzu – gäbe es, soweit ich wüsste, bereits Popstars, die mit Stolz ihren Zahnregulierungsapparat trügen. Ich wusste, mit meiner gestelzten Wortwahl konnte ich ihn ganz schön ärgern. Er schnitt eine Grimasse in meine Richtung.
Das Telefon klingelte. Mama schaute uns ärgerlich an. Papa starrte schweigend auf seinen Teller. Wir blieben sitzen. Wenn wir beim Essen saßen, wurde das Telefon nicht abgenommen.
Und was am wichtigsten sei, fuhr ich mit meinem Lehrvortrag fort, es käme schließlich auf die inneren Werte an und nicht auf Äußerlichkeiten, wie Zahnspange oder Übergewicht. Mama lächelte mir zu. Ich warf einen Seitenblick auf Papa. War die andere Frau schlanker als Mama? Ich versuchte mich an den kurzen Eindruck zu erinnern, den ich gehabt hatte. Ich hatte nur helles, halblanges Haar gesehen. Vielleicht war es ja auch ein junger Mann gewesen? Erschrocken stellte ich fest, dass ich an diese Möglichkeit überhaupt noch nicht gedacht hatte. Natürlich, wieso verdächtigte ich meinen Vater eigentlich gleich des Seitensprungs, nur weil eine mir unbekannte Person neben ihm im Auto gesessen hatte? Aber wieso war mein Vater dann mit dem Auto losgebraust? Ich war hinund hergerissen.
Das Telefon klingelte wieder.
„Vielleicht will Frau Thormann ja was.“
Mama sah meinen Vater unsicher an und verließ die Küche. Frau Thormann, war unsere Nachbarin, die mit dem schwarzen VW-Käfer im Wendeplatz. Mal brauchte sie Mehl, mal einen starken Mann, der ihr den Vorhang nach der Wäsche aufhängte oder sie hatte vergessen, sich die aktuelle Fernsehzeitschrift zu besorgen. Aber sie selbst half auch gerne aus. Und das Netteste war: Wenn sie lachte, zogen sich ihre Wangen nach oben und die Nase kräuselte sich, sodass sie aussah wie eine Katze. Und sie sah oft aus wie eine Katze.
„Kommst du mal bitte, Julian!“, rief meine Mutter aus dem Flur. „Anton ist am Apparat.“
Julian sprang auf und rannte in den Flur. Für wenige Augenblicke saß ich mit meinem Vater allein am Küchentisch. Ich hörte, wie Mama im Flur Julian einschärfte, es kurz zu machen und seine Freunde in Zukunft darauf hinzuweisen, dass wir beim Essen das Telefon nicht abnähmen. Sie schien neben ihm stehen zu bleiben.
Ich ging zum Frontalangriff über: „Paps“, fragte ich und beobachtete jede Regung in seinem Gesicht, „wer ist da eigentlich am Montag neben dir in unserem Auto gesessen, als du mich am Bahnhof hast stehen lassen?“
Papa schreckte wie aus tiefen Gedanken auf. „Wie, was sagst du?“ Er legte die Gabel am Tellerrand ab, riss sich ein Papiertuch von der Küchenrolle und tupfte sich die Lippen. „Was sagst du da, mein Bärchen?“
Ernst blickte er mir in die Augen.
Wann hatte er mich das letzte Mal Bärchen genannt? Sah ich Ertappt-fühlen, sah ich Verrat? Ich blickte in hellbraune Augen. Mir fiel auf, dass die dunklen Augen meines Vaters bernsteinfarben geworden waren. Lag das am Alter? Ich hatte seine Augen geerbt, während Julians Augen die helle, leicht grünliche Farbe meiner Mutter hatten. Als kleines Kind hatte ich geglaubt, man sähe die Welt durch unterschiedliche Augenfarben unterschiedlich gefärbt.
Inzwischen vermutete ich, dass frühkindliche Depressionen mich die Welt so dunkel sehen ließen. Mein kleiner Bruder hatte ein sonniges Gemüt.
„Du hast mich am Bahnhof stehen lassen!“, sagte ich vorwurfsvoll. „Ich bin dir noch hinterher gerannt und in unserem Auto saß eine fremde Frau!“
Die letzten Worte sagte ich ganz schnell. Ein bisschen peinlich war es mir schon.
„Wo standest du, Kind?“
„Das war am Bahnhof. Du musstest vor der Ampel warten. Ich bin zwischen den stehenden Autos zu dir hingerannt. Ich hatte dich fast erreicht, da bist du losgefahren. Und neben dir saß eine Frau“, beharrte ich. Nun sag doch schon, dass es ein Mann war, dachte ich, bitte!
„Tilda, was fällt dir eigentlich ein, in der Dämmerung mitten auf der Straße herumzuspringen? Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?“, schimpfte mein Vater plötzlich.
„Du hättest angefahren werden können. Wahrscheinlich hast du auch noch deinen dunklen Mantel getragen! Ich hab dich für vernünftiger gehalten!“
„Paps!“
Meine Mutter und Julian kamen in die Küche zurück. Sie sahen uns fragend an. Julian angelte verlegen nach einem Pizzastück.
„Für Julian ist das kein gutes Vorbild! Julian“, Papas Stimme klang streng, „hast du gehört, was deine Schwester da macht? Sie meint, sie hätte mich mit dem Wagen an der Ampel stehen sehen und turnt zwischen haltenden Autos in der Dunkelheit herum. So was ist absolut verboten! Hast du mich verstanden?“
Mein Bruder nickte brav, sah mich triumphierend an und nahm sich auch noch das letzte Pizzastück mit Ananas vom Blech.
Jetzt wandte sich mein Vater wieder mir zu: „Und dir verbiete ich in Zukunft, einen solchen Unsinn zu veranstalten! Hast auch du mich verstanden?“
„Paps, ich ...“
„Ob du mich verstanden hast?!“
„Paps!“
„Ich hatte dich etwas gefragt, mein Fräulein?“
War mein Vater jetzt völlig durchgeknallt? Aus welchem Jahrhundert stammte der eigentlich?
„Ja, mein Herrlein!“, schnippte ich, stieß meinen Stuhl zurück und verließ wutschnaubend die idyllische Abendessenrunde.
„Jetzt werd bloß noch frech!“, hörte ich ihn rufen, als ich die schmale Holztreppe zu meinem Zimmer hinaufstieg.
Zum Glück wurde ich nicht zum Abendessen zurückgerufen. Nach einer Weile schlich ich die Treppe wieder hinunter. Das Telefon war an der Wand direkt gegenüber dem Treppenabsatz angebracht. Dies war eine der Maßnahmen meiner Eltern, Geld zu sparen. Es war so ungemütlich, dort im Stehen zu telefonieren, dass die Gespräche nur von entsprechend kurzer Dauer sein konnten. Die Schnur reichte nicht einmal bis zur Treppe, wo man es sich wenigstens auf einer Stufe hätte bequem machen können. Ich hasste die Knauserigkeit meiner Eltern: Haus bauen, aber keine Kohle haben.
Wenn ich erwachsen wäre, würde ich mir eine großzügig eingerichtete, geräumige Wohnung in einem Hochhaus mieten, mit Blick über die Stadt und in jedem Zimmer ein Telefon.
Der Gedanke an meine baldige Zukunft ohne meine Eltern stimmte mich wieder etwas milder. Trotzdem wählte ich Sandras Nummer.
Wir vereinbarten, dass sie zu mir käme. Kurz bevor sie vor der Tür stünde, würde sie mein Handy kurz klingeln lassen, damit ich ihr öffnen könne. Meinen Eltern mussten nicht mitkriegen, dass ich Besuch bekäme.
„Und vergiss die Zigaretten nicht!“, zischte ich noch in den Hörer.
Aus der Küche hörte ich, wie der Tisch abgeräumt wurde und Papa mit Julian sprach. Wahrscheinlich schleimte mein kleiner Bruder sich jetzt wieder so richtig ein.
Eine halbe Stunde später saßen Sandra und ich vor meinem geschlossenen Fenster und rauchten gemütlich eine Zigarette.
Das geschlossene Fenster war ein Racheakt gegen meine Eltern: Eigentlich waren sie dagegen, dass ich überhaupt rauchte. Aber ich hatte ihnen erklärt, dass es doch besser für sie wäre, wenn ich nicht heimlich rauchen würde. Das hatten sie eingesehen und seitdem durfte ich notgedrungen in meinem Zimmer aus dem geöffneten Fenster nach draußen rauchen.
Sandra fand das Verhalten meines Vaters nicht ungewöhnlich. Es zeige eindeutig, dass er eine Freundin habe. Es sei ganz typisch für Männer, dass die zum Angriff übergingen, wenn sie sich ertappt fühlten.
„Wahrscheinlich ist seine Geliebte einige Jahre jünger als deine Mutter. Die hat ja wohl noch nichts gemerkt, oder?“
Ich vermutete das auch.
„Tja“, Sandra sog genüsslich an ihrer Zigarette, „deine Mutter scheint genauso naiv zu sein wie du.“
Dass Sandra so von meiner Mutter sprach, war mir unangenehm. Außerdem war ich auf keinen Fall naiv, protestierte ich.
„Weißt du nicht mehr, wie du die Geschichte mit Anitas Lover geglaubt hast?“ Sandra begann zu kichern.
Gut, gut, das war schon sehr peinlich gewesen: Anita war die Klassenschönste und -beste. Seit einiger Zeit trug sie ein dezentes Silberkettchen mit einem kleinen Anhänger. Den Anhänger hatte sie mir schon hundertmal gezeigt. „In Love Fredi“ war darauf eingraviert. Ich kannte Fredi nicht, aber Fredi war wohl 19 Jahre alt und ihr Lover, wie sie es nannte. Fredi trug angeblich das gleiche Kettchen mit ihrem Namen eingraviert. Anita bildete sich wahnsinnig was darauf ein, dass ihr Fredi einen roten Mazda MX 6 fuhr. Immer wieder erzählte sie mir von tollen Fahrten in die Disko und in die Berge.
„Ich will gar nicht wissen, wie die Sex auf der engen Rückbank haben“, hatte Sandra mal mit Kennermiene sinniert.
„Meinst du, die nimmt die Pille, oder so?“, hatte ich gefragt.
Sandra hatte kaum gezögert: „Spinnst du?“, hatte sie ausgerufen. „Die behält beim Sex bestimmt ihre Strumpfhose an!“
„Meinst du?“, hatte ich gezweifelt.
„Klar! Die ist doch auf dem Naturtrip.“
Sandra hatte gebrüllt vor Lachen, als sie merkte, dass ich es ihr glaubte und mir die Details vorzustellen versuchte.
„Hätte doch sein können“, maulte ich, als Sandra schon wieder so blöd grinste.
„Vermutlich ist die Geliebte deines Vaters nicht viel älter als Anita“, plauderte Sandra erbarmungslos weiter, „und wenn deine Eltern sich dann scheiden lassen“, gluckste sie, „dann gehst du zu ihr hin und sagst: Anita, darf ich Stiefmama zu dir sagen?!“ Sie hielt sich den Bauch und japste nach Luft.
Ich konnte nicht so mitlachen; bisher hatte ich meinen Vater immer anders als andere Männer gesehen. Und Papa mit einem jungen Mädchen konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.
Ich sagte es Sandra, aber die lächelte nur böse. Sie hatte eine Flasche Bier mitgebracht und nahm nun einen kräftigen Schluck daraus. Sie sah mich groß an: „Ich glaube, wir beide kriegen nie einen ab. Ich bin zu kritisch und du zu gutgläubig.“
Sie strich sich ihre dünnen, blonden Strähnen aus dem schmalen Gesichtchen. Ich musste lachen: Sie sah so jung und durchsichtig aus, aber sie sprach wie eine Sorgentante aus dem Fernsehen.
Es klopfte an der Zimmertür. Mutters dunkler Schopf tauchte um die Ecke auf. Sie linste in mein Zimmer hinein und ihre Augen schienen von dem Haufen schmutziger Wäsche auf dem Schreibtisch magisch angezogen zu werden. Dann kroch ihr Blick zum umgekippten Mülleimer auf dem Fußboden, bis zur Zigarettenkippe zwischen meinen Fingern. Ich nahm einen Zug und blies den Rauch lässig in ihre Richtung.
Na, kriegst du auch alles schön mit, dachte ich boshaft. Du solltest mal besser mitkriegen, was dein Mann so treibt.
Innerlich zählte ich einen Countdown: fünf ... vier ... drei ... zwei ... eins:
„Wenn ihr schon rauchen musst, musst ihr das dann unbedingt vor dem verschlossenen Fenster machen?“, kritisierte meine Mutter.
„Müsst, Mama“, korrigierte ich Mamas walisischenglischen Akzent. Immer, wenn meine Mutter aufgeregt war, verwechselte sie Ü und U. „Das heißt müsst, nicht musst. Ich muss, du musst, er, sie, es muss, wir müssen, ihr müsst, sie müssen. Ich glaub ich muss mal!“
Sandra gluckste.
Meine Mutter ging nicht darauf ein. Sie hatte heute keinen Sinn für Humor: „Sag mal, kannst du nicht einmal aufräumen?! Vor allem, wenn du Gäste hast, könntest du doch wenigsten deinen Ünrat entfernen. Ich finde es langsam ünerträglich.“
Dein Mann betrügt dich und für dich gibt es nichts Wichtigeres, als die Unordnung in meinem Zimmer, dachte ich wütend.
„Wenigstens den Mulleimer könntest du aufrecht hinstellen“, fuhr meine Mutter fort. Ich korrigierte sie jetzt lieber nicht. „Das ist absolüt ünhygienisch. Dass dir das vor deiner Freundin nicht peinlich ist!“
Genau diesen Ausdruck konnte ich genau jetzt überhaupt nicht vertragen: „Du bist diejenige, die peinlich ist“, zischte ich. „Geh raus aus meinem Zimmer! Raus!“
Meine Mutter sah mich einen Augenblick verdutzt, dann verletzt an. „Das ist ünser Haus!“, sagte sie scharf. Ich spürte, wie sie versuchte sich zu beherrschen und mich am liebsten angeschrien hätte.
„Schrei mich nicht an!“, brüllte ich.
„Ich schrei dich nicht an!“ Ihre Stimme wurde lauter.
„Ich spreke nür lauter.“
„Na, klar! Du hast mich überhaupt nicht angeschrien, nein, gar nicht“, provozierte ich. „Hat meine Mutter mich angeschrien, ja oder nein?“
Herausfordernd blickte ich Sandra an. Sandra zwirbelte sich verlegen eine ihrer langen, dünnen Strähnen um den Zeigefinger und blickte hilflos zwischen Mama und mir hin und her. Sie sagte nichts.
„Feigling“, zischte ich.
Meine Mutter spürte wohl, dass es besser war, hier abzubrechen. Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
Als Sandra gegangen war und ich meine Entspannungsübungen gemacht hatte, schlief ich sofort ein, träumte aber unruhig.
>Eigentlich hatte deine Mutter an diesem Abend mit dir über mich reden wollen, doch nach dieser verletzenden Vorstellung vor deiner Freundin hörte ich sie schwer die Treppe hinuntersteigen. Ich saß noch im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schaute mir die Nachrichten an. Deine Mutter setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich legte den Arm um sie. „Kannst du Tilda nicht fragen, ob sie Lust hat, die Nachrichten mit uns anzuschauen. Ich fände das so wichtig, dass die Kinder mitkriegen, was in der Welt los ist“, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen.
„Ich wollte gerade mit ihr reden, aber ich hab so einen Krach mit ihr bekommen. Ich möchte sie im Moment nicht sehen. Und ihr Zimmer sieht mal wieder furchtbar aus. Außerdem musstest du eigentlich mit ihr reden“, fügte deine Mutter noch hinzu und sah mich von der Seite an.
Ich nickte.
Wenn ich nicht diese Schmerzen in den Beinen gehabt hätte, wäre ich jetzt schnell zu dir hinaufgesprungen und hätte einen Anfang gemacht. Wenigstens einen Anfang. Dass du die Frau in unserm Auto gesehen hast, hat mich erschreckt. Ich wollte es dir auch erklären, aber noch nicht. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, wie du reagieren würdest. So schauten deine Mutter und ich noch eine Weile fern sehen.
Später an diesem Abend befiel mich eine tiefe Traurigkeit. Ich glaube nicht, dass du etwas ahntest. Du warst an
diesem Abend so sehr mit deiner Freundin Sandra und deiner Enttäuschung mit mir beschäftigt, dass dich nichts anderes erreicht hätte. Deine Mutter und ich waren zu erschöpft, um uns noch weiter mit dir auseinanderzusetzen. Wir waren zu erschöpft, um miteinander zu reden. Wir hatten beide Angst und trauten uns nicht, es uns einzugestehen.<