Читать книгу Das Orionband - Ute Friederici - Страница 8

Оглавление

4. Kapitel

Wo ich das Folterstudio heil verlasse, aber meinem Vater fast hinterherspio­ niert hätte

Als ich am nächsten Nachmittag meine Knirscherschiene abholen konnte, ging es mir in der Zahnarztpraxis schon besser. Ganz entspannt konnte ich mich nun in dem engen Raum umschauen, in dem ich noch vor einer Woche lächerliche Erstickungstode erlitten hatte.

Gegenüber der Wand mit den vielen Kästchen standen auf einer Anrichte mehrere Tuben und kleinere Plastikeimer, die verschiedene farbige Cremes und Pulver enthielten. Hieraus hatte sich die Zahnarzthelferin letzte Woche hemmungslos bedient, als sie mir die zähe, angeblich nach Kiwi schmeckende Masse in den Mund geschoben hatte. Und hier steckte nun auf einem Gipsmodell meiner Zähne eine hübsche, aus klarem Kunststoff hergestellte, hülsenartige Schiene. Dr. Kühnle kam, setzte sie ein und überprüfte den Sitz. Alles war in Ordnung. Die Zahnarzthelferin und ich hatten gute Arbeit geleistet. Die Gipsabdrücke wurden in ein Kästchen gestellt und die Zahnarzthelferin schrieb mit rotem Filzstift meinen Namen und das Datum auf die Vorderseite. Dann erklärte Dr. Kühnle mir zum eintausendfünfhundertsiebenundneunzigsten Mal den Zusammenhang zwischen Kiefermuskulatur, nervöser Anspannung und Kopfschmerzen.

„Du solltest nicht alles so ernst nehmen“, schloss er und wünschte mir viel Spaß mit der neuen Knirscherschiene.

„Herzlichen Glückwunsch! Und viel Spaß mit der neuen Knirscherschiene!“, lachte ich draußen mit Sandra, die im Wartezimmer auf mich gewartet hatte. „Sie haben gut gewählt. Wir hoffen, Sie haben lange Freude an Ihrer Knirscherschiene. Bitte beachten Sie folgende Hinweise: Nicht für Kinder unter 36 Monaten geeignet, nicht in Feuer oder offenes Licht halten, am besten gar nicht erst in den Mund einsetzen …“

„Gehen wir ein Eis essen?“ Sandra hatte sich untergehakt.

„Bei der Kälte, du spinnst wohl!“

Die Sonne glänzte, die Luft war klar, doch es war bitterkalt.

„Dann Hamburger, komm Tilda, stell dich nicht so an.“

„Du kannst ja essen, was du willst, aber ich will ein bisschen abnehmen. Außerdem hab ich kein Geld mehr.“

„Ist dein Vater zuhause?“

„Ich glaub nicht. Warum?“

„Dann könnten wir doch jetzt Tilda und die Detektivin spielen“, schlug Sandra vor.

„Aber meine Mutter, vielleicht ist die ja da“, warf ich ein.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

Meine Eltern waren tatsächlich nicht zuhause. Leise hatte ich die Haustür aufgeschlossen.

„Warum bist du denn so leise“, flüsterte Sandra, „wenn jemand da ist, können wir doch sowieso nichts tun.“

„Und warum flüsterst du?“, fragte ich ebenso leise zurück.

Wir kicherten wie Erstklässlerinnen. So ganz wohl fühlten wir uns also nicht bei dieser Sache. Aber es musste sein, wegen Mama, sagte ich mir.

Um ganz sicher zu gehen, brüllte ich durchs Haus:

„Mama! Papa! Julian! Schwulian!“, fiel mir plötzlich ein.

„Tilda! Bist du bescheuert!?“, entrüstete sich Sandra.

„Wieso? So meldet sich die kleine Ratte bestimmt, wenn sie da ist.“

„Trotzdem. Ich finde Schwule voll in Ordnung“, sagte sie.

Ich schwieg. Sandra hatte ja Recht.

„Kennst du eigentlich diesen vietnamesischen Modemacher?“, fragte sie. „Wie heißt der noch? Ich glaub La Dong, oder so. Nein, La Hong heißt er.“

„Ja und, was ist mit dem?“

„Ich hab den vor kurzem in einem Interview im Fernsehen gesehen. Der ist total süß, aber leider auch schwul, hab ich jedenfalls gehört.“

„Wieso leider?“

„Ja, eben, weil ich ihn so süß finde.“

„Hör mal, Mädchen, weißt du, wie alt der ist?“

„Mindestens dreißig, na und?“

„Ja, wie, na und? Du bist siebzehn!“

„Erstens sieht er auch aus wie siebzehn. Und zweitens ist dein Vater mindestens 50 und Anita sechzehn“, trumpfte Sandra auf.

„Sandra, jetzt beherrsch dich mal!“, fuhr ich sie ärgerlich an. „Meine Eltern sind beide 44 und mein Vater hat nichts mit ’ner Sechzehnjährigen!“ Ein bisschen musste ich meinen Vater nun doch verteidigen.

Jetzt schwieg Sandra.

Wir schauten vorsichtshalber noch einmal in alle Zimmer: Niemand war da.

„Wo fangen wir an?“, dachte ich laut. Ich war ein bisschen nervös, jetzt, wo es endlich losgehen sollte.

„Ich würde sagen, wir fangen mit seinen Klamotten an.“

Zielstrebig steuerte Sandra auf die Flurgarderobe zu. Neben Julians diversen Jacken hing dort Mamas Windjacke, ihre graue Strickjacke, ein dicker, roter Rollkragenpullover von Papa und sein Jackett, das er nur zu besonderen Gelegenheiten trug.

„Halt!“, rief ich. Das ging mir nun doch zu weit. Wenn überhaupt, dann wollte ich selbst in Papas Taschen schauen. Sandra hielt in der Bewegung inne.

„Okay.“ Sie hatte verstanden.

Noch zögerte ich. Ich spürte, dass ich kurz davor stand, eine Grenze zu überschreiten. Für Mama, dachte ich.

Und wie von selbst langte meine rechte Hand in die rechte Seitentasche des Jacketts. Sandra sah mir gespannt zu, wie ich ein Päckchen Papiertaschentücher herauszog, dann eine kleine Cellophantüte mit Anisbonbons, wie man sie als Werbegeschenk in der Apotheke bekommt. Das war’s.

Ich langte in die andere Seitentasche: nichts.

In die Westentasche innen: nichts, natürlich nichts.

Papa war zu ordentlich.

Doch! In der Westentasche spürte ich ein längliches, zusammengefaltetes, dünnes Papier. Ein überdimensionales Zigarettenpapierchen? Ich zog den Zettel heraus, faltete ihn auseinander. Es war der Tankbeleg einer Schweizer Tankstelle, ganz in der Nähe, direkt auf der anderen Seite der Grenze. Ich runzelte die Stirn. Meine Eltern tankten nie in der Schweiz. Es gab viele Autofahrer hier in Grenznähe, die extra zum Tanken in die Schweiz fuhren. Das Benzin dort war viel billiger als auf der deutschen Seite.

Meine Eltern waren fair, wie sie es nannten. Sie wollten die Tankstellen diesseits der Grenze unterstützen, die viel weniger Kunden hatten, als die billigen Schweizer Tankstellen. Schon manches Mal hatte ich mich darüber geärgert und überlegt, ob sich meine Eltern nicht viel mehr leisten könnten, wenn sie nicht immer so bescheuert fair einkaufen würden.

„Warum tankt mein Vater in der Schweiz?“, dachte ich laut.

„Wie?“

Ich erklärte Sandra, um was es ging.

„Krass! Aber jetzt lass uns doch erst mal weitergucken“, drängelte Sandra. „Wir könnten doch jetzt den Schreibtisch durchsuchen oder den Computer. Die Ergebnisse können wir dann ja später bequatschen. Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir womöglich noch überrascht.“

>Einmal hat mich die Frau angerufen. Ich musste mich beeilen. Ich sollte sie in Tildrizfelden in der Schweiz treffen. Ich war so durcheinander. Ich vergaß, dass ich dringend tanken musste. Direkt hinter der Grenze, leuchtete schon das rote Lämpchen auf. Langsam war mir sowieso alles egal. Ich fuhr die nächste Tankstelle an. Ich wollte nur noch nach Tildrizfelden.<

„Nein!“

„Was, nein!“

„Sandra, ich komme mir irgendwie komisch vor. Ich möchte, dass wir das jetzt lassen.“

Sandra sah mich entgeistert an: „Bist du total durchgeknallt? Jetzt wird’s doch erst richtig spannend. Wieso tankt dein Vater plötzlich in der Schweiz?“

„Ich weiß es nicht. Ist mir auch egal. Bitte!“

„Na, du bist witzig! Erst jammerst du rum. Dann will ich dir helfen und jetzt so was.“

Sandra hatte kein Verständnis für meinen Sinneswandel. Ich wusste auch nicht, was mit mir los war. Es war nur so ein Gefühl.

Das Orionband

Подняться наверх