Читать книгу Agrippina. Kaisermacherin - Kaisermörderin - Ute Schall - Страница 12
Livia Augusta
ОглавлениеSeit Tagen schon hatte Agrippina mit dem Schlimmsten gerechnet und auch ihre Kinder, zumindest die älteren, auf den Tod des Vaters vorzubereiten versucht. Die Ereignisse hatten sie dennoch in ihrem Innersten getroffen. Viele Stunden lang besprach sie sich mit Philokratos, der ebenso bestürzt war wie seine Herrin, befragte die Dienerschaft, drohte manchem sogar die Folter an, ohne auch nur einen Schritt weiter zu kommen. Sie vermied es, ihre Trauer offen zur Schau zu stellen, war ganz Gebieterin und würdige Nachfolgerin ihres Mannes. Sie wusste, es hätte ihm gefallen, der Schwäche nicht schätzte. Nur nachts, wenn sie allein war oder sich doch dafür hielt, geschah es, dass sie mit tränenerstickter Stimme seinen Namen rief oder sich verzweifelnd auf sein Lager warf, um sich wenigstens an seinen Geruch zu erinnern.
Sie ordnete an, vom Leibarzt unterstützt, die Gemächer ihres Palastes zu durchsuchen, die unendlichen Flure und Zimmerfluchten, Gänge und Kellergewölbe, doch es fanden sich nur Bann und Zauberspruch, die sogleich unschädlich gemacht wurden, aber nirgendwo Spuren von Gift. Und dennoch gab es in dem großen Haus keinen, der nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass Germanicus Opfer seiner Feinde geworden war.
Antiochia, die leicht verruchte Stadt am Orontes, hatte sich, über das Vorgefallene nicht weniger entsetzt als die Familie, erboten, dem Verstorbenen das Leichenbegängnis auszurichten, eine Feier, an der die gesamte Bürgerschaft teilnahm, die weniger aus Neugier als aus einem Gefühl der Dankbarkeit heraus zusammengeströmt war. Die vornehme Leiche, auf goldbestickte Purpurdecken gebettet, wurde auf den Scheiterhaufen gehoben, und im Nu brannte dieser lichterloh. Agrippina, von ihren Kindern umgeben, verharrte schweigend. Philokratos hatte ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. Nach der feierlichen Zeremonie vertraute sie ihrem Leibarzt an, es käme ihr vor, als wäre sie in jenen Stunden selbst gestorben.
„Erst jetzt weiß ich“, sagte sie bitter, „was Tod bedeutet. Und ich werde mich in Zukunft vor nichts mehr fürchten. Denn was mir auch widerfahren mag, nichts wird mir mehr anhaben können als dieser Verlust.“ Mit einer hilflosen Geste wandte sie sich ab und trat ans Fenster, das den Blick auf einen herrlichen Garten freigab. Aber Agrippina sah nichts. Ein undurchsichtiger Tränenschleier hatte ihre Augen verhüllt.
Wie es römischem Brauch entsprach, wurde das, was von den Flammen nicht gänzlich verzehrt worden war, aufgesammelt und die Asche sorgfältig zusammengekehrt.
Agrippina hatte sich bei einem Steinkünstler die schönste aller Urnen ausgesucht, ein bauchiges Gefäß aus fast durchscheinendem Alabaster, mit Götterfiguren reichlich geschmückt. Sie presste es an ihre Brust und schwor beim Leben ihrer Kinder, sich vor den Mördern des Gatten nicht zurückzuhalten, sondern sie beim Namen zu nennen, und auch ihren Kindern nicht zu verschweigen, wer für dieses Verbrechen verantwortlich war.
„Tiberius“, schrie es in ihr. „Und es würde mich nicht wundern, wenn die alte Hexe, Livia Drusilla, einmal mehr ihre Hände im Spiel hätte.“
Seit Tagen war alles für die Heimreise vorbereitet. War ihr Rom überhaupt noch Heimat? Vielleicht wäre es ja besser gewesen, überlegte die leidgeprüfte Frau, sich auf Dauer auf einer der griechischen Inseln niederzulassen und ihre Kinder fern von Intrige und vermeintlicher Staatskunst aufwachsen zu sehen. Aber hatte sie nicht Germanicus versprochen, in den Schoß der Familie zurückzukehren, falls ihm etwas Schlimmes zustieße? Und was gab es Schrecklicheres als den Tod des Feldherrn, der nicht einmal auf dem Schlachtfeld rühmlich gefallen, sondern auf gemeinste Weise aus dem Weg geräumt worden war? Sie alle hatten unter seinem Schutz gestanden, doch zuletzt hatte er nicht einmal sich selbst zu schützen vermocht.
„Schöne Familie“, wandte sie sich an Philokratos, „die nicht davor zurückschreckt, das eigene Blut zu vernichten. Tiberius, möge er für alle Zeiten verflucht sein!“
Der Leibarzt sprang erschrocken auf sie zu und presste ihr die Hand vor den Mund.
„Schweig, Weib!“, herrschte er sie an, jeglichen Respekt vergessend. „Hat man dir nicht gesagt, dass alle Paläste Ohren haben, auch der unsere?“ Mit eisigem Blick sah ihn Agrippina an. „Ich fürchte mich nicht, Philokratos. Was könnte mir jetzt noch geschehen?“
Soviel also stand fest: Germanicus’ sterbliche Reste sollten neben denen seines Vaters im Grabmal der Julier am Tiber, das einst Augustus für sich und sein Geschlecht als Ruhestätte errichtet hatte, beigesetzt werden. Niemand hätte vorausgesagt, dass es eine so lange und gefährliche Reise nach Rom werden würde.
Noch war die Witterung für eine Seefahrt günstig. Erst in einigen Wochen würden die gefürchteten Herbststürme einsetzen, die eine Rückkehr an den Tiber unmöglich machten. Kein Römer, der auch nur über geringen Verstand verfügte, vertraute sich während der Wintermonate freiwillig den Elementen an. Aber auch jetzt galt es, vorsichtig zu sein. Agrippina musste sich, unerfahren, wie sie war, auf ihre Leute verlassen. Der Schiffsführer ordnete an, mehrere Inseln anzulaufen und sich erst später aufs offene Meer zu wagen, denn man bemerkte Kriegsschiffe, die in der Ferne gespenstisch aufkreuzten und wieder verschwanden, als hätten sie Order, die Heimkehrer zu beobachten. Ob es Pisos Schiffe waren? Keiner vermochte es mit Bestimmtheit zu sagen.
Nach vielen Tagen unsteten Umherirrens entlang der Küsten und auf hoher See näherte sich die Reisegesellschaft dem Hafen von Brundisium, am Ende der von Rom kommenden Via Appia gelegen, der aufsteigenden Stadt am südöstlichsten Ende der italischen Halbinsel, von der aus sich die Truppen in den Ostteil des Reiches einschifften. Längst übertraf Brundisium den Hafen Ostia vor den Toren Roms an Bedeutung. Kaufleute und Händler hatten sich hier niedergelassen und der einst bescheidenen Siedlung zu einem unerwarteten Wohlstand verholfen. Die wertvollsten Güter kamen hier an, wurden von hier in die verwöhnte Hauptstadt weitergeschickt: Schimmernde Seide aus dem fernen China, Gold aus dem geheimnisvollen Land Punt und die herrlichsten Edelsteine aus dem Inneren Asiens.
Schon von fern sahen die Reisenden die Statue des Augustus, der alle, die an der italischen Südspitze landeten, mit seiner erhobenen Rechten willkommen hieß. Die Kunde des Unglücks war ihnen vorausgeeilt, und die Bewohner der Hafenstadt belagerten in Scharen die Kais, um ihrem toten Helden die letzte Ehre zu erweisen.
Als Agrippina das schwankende Schiff verließ, die Urne mit der Asche des Geliebten fest an die Brust gedrückt, zog Raunen und Stöhnen durch die Menge. Rufe von feigem Mord und Verrat waren zu vernehmen und auch manche Drohung, man werde den Tod des beliebtesten Mitglieds des Kaiserhauses nicht gelassen hinnehmen. Rache schworen viele, und der Name des Princeps Tiberius war in aller Munde.
Der hatte indessen eine Abordnung von Soldaten dem Trauerzug entgegengeschickt, weniger, um diesen auf der Weiterfahrt nach Rom zu beschützen als allzu großen Sympathiebekundungen für den Toten vorzubeugen.
Agrippina war empört. Der Kommandeur der Truppen hatte sich erboten, ihr wenigstens die Last der Urne abzunehmen, denn die Erschöpfung war der tapferen Frau deutlich anzusehen. Doch sie wies sein Ansinnen brüsk zurück. Sie fragte ihn, ob es dem Oheim nicht genüge, Germanicus um sein Leben betrogen zu haben. Ob man nun etwa auch sie um das Wenige bringen wolle, was ihr von ihm geblieben sei. Erst nach Tagen, als sie sich nur noch mühsam vorwärts schleppen konnte, erklärte sie sich damit einverstanden, dass ihr der junge Offizier die schwere Last abnahm. Aber sie beobachtete ihn scharf, bis ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen.
Kurz vor Rom entlang der Via Appia dann überall das gleiche Bild: Menschen, die drohend die Fäuste zum Himmel reckten, Frauen in Trauergewändern mit gelöstem Haar, die sich, alle laut klagend, Gesicht und Brüste zerkratzten. Da wusste Agrippina, dass ihr Mann im Herzen der Bewohner des Imperiums weiterleben würde, was auch immer geschehen sollte.
Und es geschah viel. Auch vor den Toren Roms hatten sich Heerscharen von Trauernden eingefunden, und die ganze Stadt war auf den Beinen, als man die Asche des Getöteten hinaus aufs Marsfeld trug. Es war, als bereiteten die Römer ihrem Heroen einen letzten Triumph. Immer lauter skandierten Mutige Germanicus’ Namen und nannten Tiberius unverblümt ‚Biberius‘, den Trinker. Denn es hatte sich herumgesprochen, dass der Princeps immer öfter dem unvermischten Wein verfiel. Schon gab es Gerüchte, er trage sich mit dem Gedanken, Rom den Rücken zu kehren, sich auf der Insel Capri niederzulassen und die Regierungsgeschäfte an einen Stellvertreter abzugeben, der aber noch nicht gefunden war, obwohl an mehr oder weniger geeigneten Bewerbern kein Mangel herrschte.
Der Herr der Welt nahm übrigens an den Trauerfeierlichkeiten nicht teil. Er hatte sich, missmutiger noch als sonst, ins Innere seines Palastes zurückgezogen und vor sich hingebrummt, das Problem Germanicus sei erledigt, endlich. Der werde ihm und seinem leiblichen Sohn Drusus nun keine Schwierigkeiten mehr machen. Und mit der aufsässigen Witwe und den verzogenen Bälgern werde er auch noch fertig werden.
Vergeblich warteten die Kinder auf die Rückkehr des Vaters, fragten die Mutter, ob Isis nicht auch ihn aus dem Schattenreich zurückholen könne, wie sie es mit ihrem eigenen Gatten Osiris getan hatte. Bei jedem Klopfen an das hohe Tor waren sie freudig erregt, konnte es doch nur der Vater sein, der endlich den Weg nach Hause gefunden hatte. Und es klopfte oft. Viele kamen, die leidgeprüfte Familie zu besuchen. Neugierige, die über die Umstände seines Todes Näheres erfahren wollten, Freunde, um den Hinterbliebenen ihr Beileid auszudrücken, Feinde, die sich an der Trauer der Angehörigen zu weiden gedachten. Nur der Vater kam nicht. Aber als der Frühling ins Land zog und die Vögel zwitscherten, verblasste allmählich Germanicus’ Bild. Nur die Büste, die die Mutter bald nach seinem Tod in Auftrag gegeben hatte, erinnerte noch an die Tage, als sein Lachen durch die weiten Flure geklungen war und ihre Herzen hatte höher schlagen lassen.
Ganz im Sinne ihres Gatten führte Agrippina das große Haus am Palatin weiter. Sie empfing regelmäßig Gleichgesinnte, die einflussreichsten Senatoren der Stadt, die ebenso wie sie davon überzeugt waren, dass Germanicus Opfer eines Giftanschlags geworden war. Freilich wagte niemand, Tiberius in der Öffentlichkeit für die Bluttat verantwortlich zu machen, und so war es auch nur Piso, der sich schließlich einer Mordanklage ausgesetzt sah. Die Beweise waren erdrückend. Da kamen die Intrigen ans Tageslicht, die der Statthalter gesponnen hatte, um Germanicus’ Soldaten auf seine Seite zu bringen, übrigens ohne Erfolg. Da war von maßloser Eifersucht die Rede, da der Adoptivsohn des Princeps bei seinen Leuten äußerst beliebt war, Piso sich hingegen wachsender Kritik ausgesetzt sah. Der Eine verkörperte den Erfolg schlechthin. Dem Anderen haftete das Unglück an wie erkaltetes Pech. Zudem galt der Statthalter als tumber Befehlsempfänger, der sich wahrscheinlich auch nicht gescheut hätte, seine eigenen Kinder ans Messer zu liefern, hätte man es nur von ihm verlangt. Tatsächlich war er ja Germanicus unterstellt gewesen, als adiutor, Helfer bei der Einrichtung der Provinzialverwaltung. Germanicus hingegen war von Tiberius mit dem Imperium Maius ausgestattet worden, der höchsten Vollmacht, die die Staatsführung vergab.
Agrippina, die, in ein wallendes Trauergewand gehüllt und von ihren Kindern umringt, im Prozess als Zeugin gehört wurde, erinnerte sich an Einzelheiten. Sie berichtete von kurzen Gesprächen des Prokonsuls mit Dienern und Dienerinnen, als dieser Gast in ihrem Hause war. Hatte er das Personal bestochen? Wenn ja, wen? Sie sprach davon, dass er sich aufmerksam in ihren Räumen umgesehen hatte, als hätte er beabsichtigt, jeden Winkel zu erkunden. Und auch daran erinnerte sie sich: Als Germanicus und sie einst, gemeinsam mit dem Prokonsul und der unsympathischen Plancina, beim Nabatäerkönig Arcetas zu Gast waren. Der König überreichte Germanicus und Agrippina damals goldene Kränze. Piso und seine Gattin mussten sich mit kleineren Exemplaren begnügen. Da schleuderte der Statthalter die Gabe wutentbrannt zu Boden und bemerkte, solche Geschenke könne man dem Partherkönig machen, nicht aber dem Vertrauten des römischen Kaisers …
Sklaven, die peinlich verhört wurden, konnten schließlich nicht anders als zu gestehen, dass dem Prinzen Gift verabreicht worden war, das Plancina besorgt hatte, sagte man ihr doch nach, mit der bekanntesten Giftmischerin Roms, einer gewissen Martia, eng befreundet zu sein.
Es konnte jedoch nicht zweifelsfrei geklärt werden, wer Germanicus tatsächlich umgebracht hatte, und so blieb den Prätoren, die die Gerichtsverhandlung leiteten, nichts Anderes übrig, als – in dubio pro reo – den Angeklagten hinsichtlich des Giftmords freizusprechen. Es war freilich ein Freispruch zweiter Klasse, und wer immer von da an Pisos Namen in den Mund zu nehmen hatte, tat es mit Abscheu, und mancher spuckte dabei sogar heftig auf den Boden.
Agrippinas anfängliche Enttäuschung wich langsam der Einsicht, dass immer etwas hängen bleibt – „semper aliquid haeret“ – pflegte sie jetzt häufig zu sagen, und auf ihrem immer noch makellosen Gesicht breitete sich ein Hauch von Genugtuung aus.
Nach Pisos sensationellem Freispruch hatten die Senatoren schließlich doch noch ein Haar in der Suppe gefunden und dem Statthalter vorgeworfen, eigenmächtig ein Heer aufgestellt zu haben, um die Herrschaft über Syrien an sich zu reißen. Dies wurde als Beginn eines Bürgerkriegs interpretiert, als Hochverrat, auf den nach den römischen Gesetzen die Todesstrafe stand. Obwohl es Piso vorzog, einem Schuldspruch durch Selbstmord zuvorzukommen, bestand die Mehrheit der Senatoren darauf, posthum ein Urteil zu fällen. Und Tiberius sah keine Möglichkeit, sich schützend vor den einstigen Vertrauten zu stellen, ohne sich nicht selbst noch verdächtiger zu machen. So wurde Piso in diesem Anklagepunkt verurteilt, sein Vermögen zu Gunsten der Staatskasse eingezogen. Trauerkundgebungen wurden untersagt und seine Bildnisse eingeschmolzen oder zerstört. Nichts mehr sollte an ihn erinnern. Er war der Tilgung des Andenkens verfallen.
Als man Agrippina ein Jahr später meldete, Gnaeus Calpurnius Piso habe seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, konnte sie ihre Freude nicht verhehlen.
Piso hatte seinen Abschied übrigens theatralisch gestaltet. In einem umfangreichen Brief hatte er seine 37-jährige Senatszugehörigkeit geschildert und darauf hingewiesen, dass er dem Staat stets treu gedient habe und für seine Verdienste sogar in die Reihe der Sodales Augustales aufgenommen worden sei, ein Gremium, in das, wie jedermann wisse, nur die angesehensten Senatoren berufen würden.
Es gehörte in Rom gerade zum guten Ton, im Haus von Livia Drusilla zu verkehren, der Witwe des Augustus und Mutter des derzeitigen Herrschers, die sich jetzt Iulia Augusta nannte. Seit dem Zerwürfnis mit Tiberius lebte sie draußen vor den Toren der Stadt in der Villa ad Gallinas, wo sie trotz ihres hohen Alters und mancher Gebrechen ein offenes Haus führte. Alle Damen der Gesellschaft machten ihr regelmäßig ihre Aufwartung, nur Agrippina hatte es bisher verstanden, sich dieser Verpflichtung zu entziehen.
Eines Tages kam ein Brief der alten Frau, in dem diese in den höchsten Tönen flötete:
„Herzchen“, las Agrippina ihrer Zofe vor, „ich habe von deinem Unglück erst kürzlich erfahren. Ich kann gut nachfühlen, wie dir zu Mute ist, war Germanicus doch auch mein Enkel, Sohn meines geliebten Drusus, den mir ein missgünstiges Geschick bereits in jungen Jahren raubte. Auch ich habe einen Gatten verloren, den mir am nächsten stehenden Menschen, mit dem ich über Jahrzehnte in Liebe und gegenseitiger Achtung vereint war, Octavianus, den sie den Erhabenen nennen. Auch ich habe dem Tod in unserer Familie so oft in die Augen gesehen.
Ach, Kindchen, gern möchte ich dich trösten und dir Mut zusprechen, zumal auch deine liebe Mutter nicht mehr unter uns weilt. Ich würde dich gern sehen, dich und meine Urenkel, damit ich mich davon überzeugen kann, dass unser Geschlecht nicht aussterben wird. Ich erwarte dich an den nächsten Nonen und hoffe, du wirst den Weg zu mir finden und wenigstens einige Tage in meinem Haus verbringen.
Vale!
Deine dich liebende Großmutter
L.A.”
Agrippina kannte die alte Hexe gut. Wenn Tiberius in seiner bisherigen Regierungszeit je etwas richtig gemacht hatte, dann war es das, sie aus seinem Gesichtskreis zu verbannen. Denn schwerlich hätte Rom die herrschsüchtige Alte länger ertragen.
„Es ist geradezu lächerlich“, bemerkte Agrippina. „Jedes Wort dieses Briefs ist eine Lüge, wie sie dreister nicht sein könnte. Sie weiß sehr gut, was ganz Rom hinter vorgehaltener Hand flüstert: Dass nämlich sie verantwortlich ist für die vielen mysteriösen Todesfälle, die unsere Gens getroffen haben. Man könnte lachen, wenn es nicht so zum Weinen wäre. Da hat sie jeden, der ihrem Hätschelsohn hinderlich war, skrupellos aus dem Weg geräumt, meine Mutter, meine Schwester und meine drei Brüder. Nicht einmal vor ihrem eigenen Fleisch und Blut hat sie Halt gemacht. Hat man nicht auch davon geredet, dass sie den Tod meines Schwiegervaters Drusus, ihres jüngeren Sohnes, beschleunigte? Gut, er mag vom Pferd gefallen sein, damals in Germaniens düsterem Norden. Aber hat man je davon gehört, dass das für einen geübten Reiter ein Todesurteil war? Und wofür das alles? Dass schließlich er, den sie Zeit ihres Lebens gefördert hat, sie jetzt ausschaltet. Damit hat sie sicherlich nicht gerechnet, und es muss ihr bitter aufstoßen. Vielleicht steckt sie ja auch hinter Germanicus’ Ermordung. Vielleicht hat sie ja gehofft, von ihrem Sohn wieder in Gnade aufgenommen zu werden, wenn sie diesen Rivalen beseitigt. Was meinst du, Antonella, sollen wir ihre Einladung annehmen?“
Agrippina schien wirklich nicht zu wissen, wie sie sich verhalten sollte. Das um Rat gefragte Mädchen fühlte sich geschmeichelt.
„Es wird dir nichts Anderes übrig bleiben, Herrin. Gehst du nicht, wird sie es dir im besten Fall als Feigheit, im schlimmsten als Missachtung auslegen. Sie ist zwar alt, aber weiß man, wie weit ihre Macht noch reicht? Nur die Kinder, Herrin, verzeih, die würde ich lieber nicht mitnehmen oder doch nicht alle. Gaius vielleicht und Agrippina. Er hat noch jede Frau mit seinem Charme begeistert, und die Kleine versteht es besonders gut, sich in die Herzen alter Damen einzuschleichen. Selbstverständlich musst du die Leibwächter mitnehmen, solltest sie aber als deine Diener tarnen.“ Agrippina wusste, dass Antonellas Rat vernünftig war. Wie so oft, konnte sie sich auf den gesunden Menschenverstand des alternden Mädchens verlassen.
„Wirst du mich begleiten und dich um die Kinder kümmern?“
„Ich folge dir, Herrin, bis in den Tod. So habe ich es versprochen“, erwiderte die treue Dienerin geschmeichelt.
Düster und unheimlich duckte sich Livias Haus in einem Hain hoch gewachsener Bäume, die es gleich einem Schutzschild umgaben. Es sah wie das ganze Anwesen etwas verkommen aus, und es war bescheiden, überhaupt als Witwensitz für eine Frau, die noch vor wenigen Monaten die mächtigste des Imperiums gewesen war. Die hohen Baumriesen ließen die im Inneren herrschende Dunkelheit ahnen. Der Garten war ungepflegt. Überall Gestrüpp und vermoderndes Holz, die wenigen Blumenbeete von Unkraut übersät. Nur ab und zu das Leuchten blühender Rosen, gelb, weiß und rot, die Lieblingsfarben der Augusta, wie Agrippina wusste.
Die marmorne Außenfassade des Bauwerks war von schmutzigem Grau, an vielen Stellen bröckelte der Stein. Aber die kunstvollen Verzierungen, Halbsäulen und Pilaster mit korinthischen Kapitellen, erzählten noch von der einstigen Pracht. Ein Porticus, der an der Breitseite des Gebäudes entlang führte und vor dem sich mehrere Katzen in der Sonne räkelten, spendete möglichen Spaziergängern Schatten. Doch niemand erging sich darin. Das ganze Areal schien menschenleer, ein Zauberpalast inmitten verwunschener Gärten, den seine Bewohner schon vor Generationen aufgegeben hatten.
Von ferne war das Gackern von Hühnern und das Krähen eines Hahns zu vernehmen. Livias Landsitz glich mehr dem verkommenen Gutshof eines kleinen Adeligen als dem feudalen Palast einer Augusta. Er war tatsächlich ein etwas besserer Hühnerstall und machte seinem Namen ad Gallinas alle Ehre. Agrippina fragte sich, wie sich denn eine Frau wie Livia Augusta, die über Jahrzehnte die erste Dame des Reiches gewesen war, inmitten dieses einfachen Lebens wohl fühlen konnte.
Sie nahm beherzt ihre beiden Kinder an die Hand und beschritt, jegliche Ressentiments ablegend, den Kiesweg, der zu dem großen Eingangstor führte.
Livia saß, umringt von ihren Dienerinnen, in einem Berg fülliger Kissen, die sie fast erstickten. Sie wirkte zart und zerbrechlich. Ihr Gesicht, das eine beherrschte Strenge verriet, war von tiefen Falten zerfurcht, und ihre gichtigen Hände waren mit braunen Flecken übersäht.
„Ich grüße dich, Töchterchen“, rief sie Agrippina mit einer Stimme, die an das Krächzen der Rabenvögel erinnerte, entgegen. „Willkommen in meinem bescheidenen Haus.“ Dabei streckte sie beide Arme in Richtung der Ankommenden aus.
Gaius äffte die Alte sofort nach, was diese mit Missfallen zur Kenntnis nahm.
„Garstiger Bengel“, schnaubte sie. „Hat dir denn niemand Manieren beigebracht?“
Agrippina entschuldigte sich für das Benehmen ihres Sohnes und nahm auf der ihr angebotenen Kline Platz. Ihre kleine Tochter, die sich vor der runzligen Urgroßmutter sichtlich fürchtete, verkroch sich sogleich hinter den Röcken der Mutter, betrachtete von Zeit zu Zeit mit misstrauischer Miene die alte Frau, um sich sofort wieder zu verstecken. Immer wieder wollte sie von ihrer Mutter wissen, wann man denn wieder nach Hause fahren könne. Erst als die Kammerzofe ihr anbot, mit den Sklavenkindern im Garten herumzutollen, verlor sie langsam ihre Scheu. Und da Gaius den Auftrag bekam, auf seine Schwester aufzupassen, ließ sich diese schließlich überreden, ihm ins Freie zu folgen.
„Nun, da wir ungestört sind, Kindchen, wollen wir reden“, begann Livia Augusta in kameradschaftlichem Ton. „Es ist mir zu Ohren gekommen, dass man Piso wegen des Todes deines Gatten, meines überaus geliebten Enkels, den Prozess gemacht hat und du an der Anklage maßgeblich beteiligt warst. Wenn man ihm bis zuletzt nichts nachweisen konnte, liegt das daran, dass es nichts nachzuweisen gibt. Glaube mir, der Mann ist unschuldig! Germanicus ist einer Krankheit erlegen, so sehr ich mir auch wünschte, für seinen Tod einen Verantwortlichen zu finden. Willst du etwa das Schicksal anklagen, dem wir alle unterworfen sind? Und deine Abneigung gegen Munatia Plancina! Du musst wissen, dass ich sie sehr schätze, hat sie doch unserer Familie schon manchen Dienst erwiesen.“
Ja, dachte Agrippina, zuletzt den, dass sie deinen Sohn von einem unliebsamen Nebenbuhler befreite. Aber sie zog es vor zu schweigen und die gefalteten Hände in ihrem Schoß zu betrachten. Für den Bruchteil eines Augenblicks dachte sie daran, wie es wäre, die alte Krähe ihr gegenüber zu erwürgen.
„Es ist eine Schande, dass sie überhaupt in die Sache hineingezogen wurde“, fuhr die Alte, jetzt in strengerem Ton, fort. „Versprich mir, Töchterchen, dass du dich mit ihr versöhnst! Bedenke, sie entstammt einer der angesehensten Familien Roms!“ Abrupt sah Agrippina auf.
„Verzeih, Großmutter Livia, wenn ich gerade das nicht versprechen kann! Es würde mich doch zuviel Überwindung kosten, mir die Kehle zuschnüren. Dazu sehe ich keine Notwendigkeit. Ich kann versprechen, Plancina zu meiden, schon zu meinem eigenen Schutz. Der Tod meines Mannes liegt einige Monate zurück, und ich habe gelernt, mich mit meiner Lage zu arrangieren. Jede Begegnung mit dieser Frau risse aber alte Wunden auf. Wozu? Würde mein Mann dadurch wieder lebendig? Nein, Augusta, ich bete zu den Göttern, mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich bin noch jung, und ich kann warten. Piso und Plancina werden für ihre Tat die Quittung erhalten sowie jeder andere, der an ihr auf welche Weise auch immer beteiligt war. Davon bin ich fest überzeugt.“
Agrippina bemerkte, wie sich die schmalen, von unzähligen Falten gesäumten Lippen der Alten zu einem winzigen Strich zusammenzogen und die Greisin hinter ihrer verrunzelten Stirn Rachepläne zu schmieden begann.
Über dem Gespräch war es Abend geworden. Die Sonne stand tief und tauchte den Audienzraum in ein blutrotes, Furcht einflößendes Licht. Die kostbare Wandbemalung löste sich auf. Vögel fielen wie Steine vom Himmel, die Blätter der kunstvollen Bäume rieselten Schneeflocken gleich zu Boden, und die Wasserspiele verstummten. Das Zimmer füllte sich mit langen, düsteren Schatten. Agrippina war, als schwebte sie in einer anderen Welt. Das Standbild ihres Großvaters Augustus bewachte die Ein- und die Ausgehenden. Sein jugendliches Gesicht wurde plötzlich von einem Lichtstrahl erhellt, und es schien, als wollte der Verstorbene seine Enkelin warnen. „Großvater“, flüsterte sie gedankenverloren. Und sie erinnerte sich an sein Lachen, wenn sie ihm zu Füßen auf seinem Ruhebett saß und seinen Erzählungen und Ratschlägen lauschte. „Du musst dich bemühen, schön zu schreiben, Agrippinchen“, hörte sie ihn mahnen. „Und achte auch darauf, wie du sprichst! Vergiss nie, du bist die Enkelin des römischen Kaisers. Auch du wirst bald zu denjenigen gehören, an denen das Imperium die Tugend seiner Frauen misst.“ Sanft hatte er sie dabei gestreichelt, und sie hatte sich unter seinem Schutz geborgen gefühlt.
„Ich werde immer daran denken, Großvater. Das verspreche ich dir.“
Jetzt, da sie dieser Schlange in Menschengestalt gegenübersaß, bedauerte sie den alten Mann, der er für sie schon damals gewesen war, als er sich nach dem Tod des Vaters ihrer und ihrer Geschwister angenommen hatte. Wie hatte er es nur ein Leben lang mit ihr aushalten und auf dem Sterbebett ihre Ehe auch noch glücklich preisen können? Bestand denn die ganze Welt nur aus Lug und Trug?
Livia hatte inzwischen das Thema gewechselt. Als hätte sie die Gedanken ihres Gastes erraten, begann sie, aus ihrer Ehezeit, die mehr als fünf Jahrzehnte gewährt hatte, zu erzählen. Dabei gab sie aber mehr Ratschläge für eine gute Ehefrau.
Für ihren Gatten, so sagte sie, sei es selbstverständlich gewesen, dass seine Frau noch die alten Fertigkeiten beherrschte, das Wollewaschen, Spinnen und Weben und die Anfertigung der Gewänder im eigenen Haus. Niemals hätte Gaius Octavius auf die von ihr gefertigten Kleider verzichtet, niemals andere getragen. Auch habe eine römische Matrone zu schweigen, selbst wenn der Gatte den Geruch fremder Betten in das heimische Schlafgemach trüge. Sie selbst habe sich in Liebesdingen immer äußerste Zurückhaltung auferlegt. „Ich habe stets in Zucht und Ehren gelebt. Ich zankte nicht, wenn er von fremden Frauen kam, sondern ging wie nichtsahnend darüber hinweg.“ Ein stolzes Lächeln glitt über das zerfurchte Gesicht und brachte ihm ein wenig der lange verlorenen Jugend zurück.
„Großmutter Livia!“ Gaius kam mit wirrem Haar ins Zimmer gestürmt.
„Großmutter Livia, Antonella sagt, du wirst uns die Geschichte deines Hauses erzählen, wenn wir dich recht schön bitten. Sie sagt, es heißt ad Gallinas, und es ist das Haus, in dem du dich am liebsten aufhältst.“ Mutig war der Junge auf die alte Frau zugegangen und sah sie mit bittenden Augen an.
Auch die kleine Schwester war neugierig geworden und trat näher an die Alte heran, hielt aber fest Antonellas Hand.
Livia musterte den Urenkel.
„Na ja“, ließ sie sich herab. „Wenn du auch nicht gut erzogen bist, wofür du nichts kannst, so scheinst du mir doch ein recht kluges Bürschchen zu sein, und niemand soll sagen, dass ich einem Kind etwas nachtrage. Es ist richtig“, begann sie, „dass dieses Haus ad Gallinas heißt. Ich habe es zusammen mit großen Ländereien von meinen Vorfahren geerbt, aber es war ein Haus ohne Namen. Kurz nach meiner Hochzeit bin ich mit Augustus hier im Garten spazieren gegangen. Wir hatten uns aufs Land zurückgezogen, denn ich erwartete von meinem vorherigen Gatten Tiberius Claudius Nero mein zweites Kind, euren Großvater Drusus, und wir wollten dem dummen Gerede in der Stadt aus dem Weg gehen. Plötzlich tauchte über unseren Köpfen ein riesiger Adler auf, der mit seinen ausgebreiteten Flügeln für einen Augenblick den Himmel verdunkelte. In seinen Fängen hielt er ein weißes Huhn, das er genau vor meine Knie fallen ließ. Wir sahen sofort nach, ob es verletzt war. Wunden hatte es nicht, aber es hielt in seinem Schnabel einen Lorbeerzweig. Wir beschlossen, das Tier, das uns gewissermaßen als gutes Omen direkt von den Göttern geschickt worden war, aufzuziehen – es war noch sehr jung – und auch den Lorbeerzweig einzupflanzen. Beide gediehen prächtig. Aus dem Zweig ist ein ausladender Baum geworden, der mir noch heute Schatten spendet, und die inzwischen zahlreichen Nachkommen der Henne werden von mir als heilige Hühner gehalten, und noch oft kommen die Auguren, um mir aus ihrer Art zu fressen meine ganz persönliche Zukunft vorauszusagen. So kam mein Landsitz zu seinem Namen, Villa ad Gallinas, und jedermann in Rom kennt sie und ihre Geschichte.“
Die letzten Worte hatte die Greisin sehr leise gesprochen und zuletzt die Augen geschlossen. Der vogelähnliche Kopf war ihr auf die vertrocknete Brust gesunken. Die Frisur hatte sich gelöst.
Eine Weile noch blieb Agrippina sitzen, schweigend, und bedeutete auch den Kindern, sich ruhig zu verhalten. Erst als sie fest davon überzeugt war, dass Livia Augusta schlief, atmete sie erleichtert auf und beschloss, das ihr unheimliche Haus auf der Stelle zu verlassen. Sie befahl Antonella, die Sachen der Kinder zusammenzupacken. Auf Zehenspitzen schlichen die Gäste durch das gewaltige Tor, und bald ratterte ihr Wagen Richtung Rom, das die kleine Reisegesellschaft nach vielen Stunden in tiefer Nacht erreichte.