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Wieder in Rom

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Mit vielen guten Worten gelang es Germanicus, die aufgebrachten Legionäre zu beruhigen und auf Augustus’ Nachfolger einzuschwören, wie es die neuen römischen Gesetze vorsahen. Aber es war nicht leicht, und immer wieder musste er ihnen vor Augen halten, dass Tiberius nicht nur der von Augustus gewünschte Erbe, sondern vor allem ein alter Mann war, und die Herrschaft nach seinem Tod ihm zufiele, ihrem Feldherrn, der ein anderes Rom schaffen wolle, eines, in dem Frieden und Wohlstand zu Hause wären, sodass sich dann ihr Wunsch erfüllen werde.

Er verlangte seiner Überredungskunst einiges ab. Mit ihm hatten sie manche Jahre des harten Feldlagers geteilt. Viele hatte er sogar von seinem Vater Drusus oder seinem Schwiegervater Marcus Vipsanius Agrippa übernommen. Er wusste, dass er ihr Princeps bleiben würde, wer auch immer in Rom selbst auf den Thron stieg. Ihn verehrten, schätzten, ja liebten sie. Den alternden Claudier Tiberius kannten sie nicht.

Mutig hatte er sich vor sie hingestellt, das Schwert gegen die eigene Brust gerichtet, und beim Leben seiner Familie geschworen, sich eher von eigener Hand zu töten, als zuzulassen, dass er an der römischen Verfassung zum Verräter werde.

Glücklicherweise war es in seinem Lager nicht zu Gewalttätigkeiten gekommen, aber andere römische Festungen berichteten von Verletzten und sogar Toten. Und doch hatte er vorsorglich und diesmal gegen Agrippinas Protest seine Familie zu einem Stammesfürsten der Treverer über den Rhein geschickt, einem Mann, der sich in der Vergangenheit als besonders romfreundlich und zuverlässig erwiesen hatte.

Wenn er auch darauf vertraute, dass ihnen von seinen Männern keine Gefahr drohte, so war Vorsicht in dieser Lage doch am Platz. Zudem setzte er auf den psychologischen Effekt: Wie sehr musste es seine Leute kränken, wenn er die Seinen vor ihnen in Sicherheit brachte!

In der Tat brach die Unzufriedenheit rasch in sich zusammen, die Unruhestifter senkten beschämt das Haupt, und wenige Tage, nachdem man Germanicus zum Kaiser ausgerufen hatte, ging jeder wieder seiner gewohnten Arbeit nach, schweigend, ohne noch ein Wort über die Geschehnisse zu verlieren. Rom war weit, und wenn es den Göttern gefiele, würden die, denen die Heimkehr vergönnt war, noch viele Jahre unter der segensreichen Hand ihres Feldherrn leben dürfen. Vielleicht war es gut, den Dingen vorerst ihren Lauf zu lassen. Germanicus war hier. Jedermann konnte ihn zu jeder Zeit sehen und sprechen. Er hatte für alle ein offenes Ohr. Und Stiefelchens freundliches Kinderlachen durchdrang das Lager und ließ den trüben Himmel Germaniens für eine Weile freundlicher erscheinen.

Wenn der kleine Gaius doch nur wieder von den Treverern zurückkäme! Man beschloss, Germanicus eine Abordnung zu schicken, er solle doch bitte seine Angehörigen zurückholen, es werde ihnen nichts geschehen. Freilich gab es auch einige, die murrten: Den Kleinen zu holen bedeutete, dass auch die Mutter wiederkäme, Agrippina, wo doch allgemein bekannt war, dass eine Frau im Lager das Unglück anzog wie der Honig die Fliegen. Zudem machte sie ja aus ihrer Abneigung für diese Art zu leben kein Hehl. Allenthalben sah man sie mit eisiger Miene durch Höfe und Hallen schleichen, ihre Palla fest um den mageren Körper geschlungen, sah sie zum wolkenschweren Himmel aufsehen, hörte sie seufzen und erriet unschwer ihre Gedanken: Sie sehnte sich nach den duftenden Gärten Roms, nach ihren weitläufigen Palastanlagen, den zahllosen dienstbaren Geistern, die nur sie zu umsorgen hatten, Theater, Spielen, Geselligkeit und Frohsinn. Gewiss, niemand außer dem besorgten Gatten liebte diese fast unheimliche Frau. Dennoch war ihr die Bewunderung auch des letzten Pferdeknechts entlang des Rheins gewiss. Hatte sie, eine geborene Prinzessin, Enkelin des Augustus, nicht alles aus freien Stücken aufgegeben, um ihrem Mann in diese Einöde ans Ende der Welt zu folgen? Und hatten nicht sogar die Gesandten der Barbaren im Wissen um ihre Herkunft und ihren Stand demütig vor ihr das Haupt geneigt und ihre Schönheit gepriesen, die tatsächlich unter den Sterblichen nicht ihresgleichen fand?

Nur allzu lebhaft erinnerte man sich noch jenes Stammesfürsten, der bei ihrem Anblick seinen Auftrag vergessen hatte, die Augen nicht von ihr lassen konnte und ins Stottern geraten war.

Der unfreiwillige Aufenthalt bei den Galliern hatte Agrippina mit ihrem Schicksal keineswegs versöhnt. Zwar hatte sie die herrliche Landschaft an der Mosella genossen, die mancher Italiens so ähnlich war: Der liebliche kleine Fluss, der sein metallenes Band durch die Täler schlängelte. Das Grün der Weingärten und sanften Hänge. Das Lachen der Menschen, das ihr gelöster vorkam als das der stets grimmig blickenden Germanen.

Doch konnte sie nicht einmal Genugtuung empfinden, als sie die Wachen an den Toren des Lagers begrüßten und Hochrufe der Mannschaften ihren Einzug begleiteten. An der Kreuzung der beiden Hauptachsen des Kastells empfing sie mit ausgebreiteten Armen ihr Mann.

„Willkommen, Liebste“, flüsterte er ihr ins Ohr und war darauf bedacht, dass niemand seine Worte hörte.

„Ich habe gute Nachrichten für dich. Wir fahren zurück nach Rom, aber das darf noch niemand wissen. Unsere Kundschafter sind bereits vorausgeschickt. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass ich gern noch etwas länger hier oben geblieben wäre. Nicht nur wegen des mir noch allzu zerbrechlich erscheinenden Friedens. Ich fürchte mich vor dem Wiedersehen mit Tiberius, der noch eine Spur mürrischer und bösartiger geworden sein soll. Aber er selbst hat mich zurückbefohlen, und es wäre mehr als unklug, mich dagegen zu sträuben. Für dich und die Kinder ist es freilich das Beste.“

„Tiberius?“ Agrippina sah ihren Mann mit einer Mischung aus Furcht und Entsetzen an.

„Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen“, fuhr dieser achselzuckend fort.

„Es kommt noch besser. Er ließ mir ausrichten, er wolle mich mit einem großen Triumph ehren. Der große Triumph! Als hätte ich die Grenzen des Reiches erweitert und 5000 fremde Feinde getötet, wie es das Gesetz für die Zuerkennung dieser Ehre vorschreibt! Ja, wenn ich die Gefallenen aller Feldzüge zusammennehme, vielleicht. Fast scheint es, als wolle der alte Fuchs sein Gewissen erleichtern, wo er und seine von Ehrgeiz zerfressene Mutter doch so viele Jahre lang gegen mich intrigiert haben, mich, den unliebsamen Drusus-Sohn, dem man so wenig trauen kann wie man es einst seinem Vater konnte. Auch ihm warf man ja noch immer republikanische Gesinnung vor. Als hätte ich meine Loyalität gegenüber Augustus nicht vor allen anderen bewiesen! Oder sollte sich Tiberius mit der Übernahme der Verantwortung gar zu unserer aller Überraschung gewandelt haben? Du erinnerst dich sicher, dass man erzählt, auch mit Augustus habe sich, nachdem er einmal Princeps geworden war, ein Wandel vollzogen, der alle in Erstaunen versetzte.“

„Nein, Germanicus.“ Agrippina fiel ihrem Mann, bleich geworden, ins Wort.

„Das von Grund auf Böse ändert sich nicht. Wahrscheinlich weiß er nur um deine Beliebtheit bei den Truppen und glaubt, dass du ihm fernab von Rom gefährlich werden könntest. Er will dich um sich haben, um dich besser kontrollieren zu können. Wir sollten besonders vorsichtig sein. Meine weibliche Intuition sagt mir, dass Tiberius etwas gegen uns im Schilde führt, etwas, das unser Glück mit einem Schlag zunichte machen und unsere ganze Familie zerstören könnte.“ Dabei lief es ihr eiskalt über den Rücken.

Es war Winter und Sommer und wieder Winter geworden, und ein neuer Sommer stand vor der Tür. Die kleine Agrippina hatte sich zu einem kräftigen Mädchen entwickelt und schon bald nach der Heimkehr nach Rom die ersten Schritte unternommen. Gerade begann sie, einfache Worte zu lallen und den Erwachsenen mit vielen Fragen und großer Wissbegier auf die Nerven zu gehen.

Mutter Agrippina hatte für ihr lebhaftes Töchterchen wenig Zeit. Nicht nur die gesellschaftlichen Verpflichtungen nahmen sie sehr in Anspruch, seitdem sich Livia Drusilla aus Altersgründen immer öfter in ihre Villa ad Gallinas vor den Toren der Stadt zurückzog.

Noch einmal hatte der Himmel Germanicus und ihr ein Mädchen geschenkt, Drusilla, die nach der strengen Urgroßmutter benannt und jetzt sechs Monate alt war.

Nur langsam erholte sich Agrippina diesmal von der Schwangerschaft und der schwierigen Geburt, fühlte sich ermattet und zum ersten Mal alt und zu verbraucht, um noch einmal zu gebären. Sie dachte gelegentlich sogar an Gift, das man ihr womöglich in kleinen Dosen verabreichte, doch keine ihrer Sklavinnen, die zum Vorkosten der Speisen eingesetzt waren, zeigten Spuren von Übelkeit oder Ermattung. Wie auch immer. Drusilla würde, soviel stand fest, das letzte Geschenk an ihren Gatten sein.

Die noch nicht dreijährige Agrippina liebte ihr Schwesterchen, das ihr den Ehrenplatz bei den Eltern streitig gemacht hatte, nicht. Sobald die Mutter den Säugling auf den Arm nahm, um ihn zu liebkosen, oder sich auch nur der winzigen Bettstatt näherte, drängte sie sich wütend zwischen Mutter und Kind, schlug sogar auf die Kleine ein und war nur mit Mühe und vielen Versprechungen davon abzuhalten, Drusilla tatsächlich Leid zuzufügen. Trotz aller Verständigkeit, die sie in anderen Situationen zeigte, war sie damit, nun nicht länger Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein, offensichtlich überfordert. Alle guten Worte vermochten nichts, und so blieb den Erwachsenen nichts Anderes übrig, als sich wieder verstärkt der launischen Kleinen zuzuwenden, schon um das Neugeborene vor ihren Zornausbrüchen zu schützen. Die Ammen wurden zudem zu besonderer Wachsamkeit angehalten. So hatte Agrippina Minor, wie man sie jetzt nannte, um sie von ihrer gleichnamigen Mutter zu unterscheiden, erreicht, was sie wollte, und sie sollte sich in ihrem Leben immer wieder daran erinnern, wie es mit verhältnismäßig einfachen Mitteln gelingen konnte, anderen seinen Willen aufzuzwingen.

Der lange ersehnte Tag des Triumphes war gekommen. Umfangreich waren die Vorbereitungen gewesen und groß war die Aufregung, die am Morgen dieses Festtags im Haus des Germanicus auf dem Palatin herrschte. Flinke Dienerinnen hatten die Herrin und ihre fünf größeren Kinder festlich geschmückt. Die Jüngste sollte die Zeremonie auf dem Arm ihrer Amme vom sicheren Balkon des Palastes aus verfolgen.

Agrippina fühlte sich wie in Trance. Sie war in ein weißes Seidengewand gehüllt, das an ihrem schlanken Körper wie silbernes Wasser hinabfloss. Um ihre Schultern hatte sie einen blauen, mit Goldfäden bestickten Umhang gelegt, der die Pracht ihrer rötlichen Locken leuchten ließ. Das Haar hielt ein glänzendes Diadem fest. Reifen aus schwerem Gold schmückten Arme und Hals, und von den Ohren pendelten mit herrlichen Rubinen besetzte Gehänge, die an kleine kostbare Kandelaber erinnerten und bei jeder Drehung des Kopfes mit den schwarzen Augen ihrer Trägerin um die Wette funkelten. Niemals zuvor war Germanicus seine Gattin so schön erschienen. Niemals war er so stolz auf sie gewesen.

Dann war es endlich soweit. Ganz Rom war auf den Beinen. Nicht nur, dass ausgelassene Feste unter Tiberius, dem mürrischen Staatsoberhaupt, rar geworden waren. Es war auch unwahrscheinlich, dass man noch einmal Zeuge eines solchen Ereignisses werden würde, denn nur selten wurden noch große Triumphe gefeiert, und viele Römer hatten überhaupt keinen erlebt. Die Stadtbewohner und das herbeigelaufene Volk aus der Umgebung hatten ihre Festgewänder angelegt, ihren Kindern die triefenden Nasen geputzt, den Schmutz von den Gesichtern gewaschen und die kleinen Köpfe mit Blumengirlanden umwunden. Kränze und Räucherwerk schmückten die Tempel, die zu Ehren der Götter an diesem Tag offen standen.

Auf dem Marsfeld stellte sich der Zug auf. Ungeduldig tänzelten die Pferde, bis sich die gewaltige Prozession endlich in Richtung Forum Boarium in Bewegung setzte, den Weg über den Circus Maximus um den Palatinischen Hügel herum auf die Via Sacra nahm und sich zuletzt über das Forum hinauf zum Capitol wälzte. Augenzeugen schworen, es habe niemals zuvor eine eindrucksvollere Veranstaltung gegeben, und Germanicus, dessen Ehre das ganze Spektakel in erster Linie galt, war danach beliebter denn je. Noch lange sorgten die zahlreichen germanischen Kriegsgefangenen für Gesprächsstoff in Rom.

Am häufigsten aber sprach man vom Feldherrn selbst, der gottgleich auf der lorbeergeschmückten, von vier Schimmeln gezogenen Quadriga gestanden hatte, zur Statue erstarrt, erinnerte sich an seine schmale, fast überirdische Gestalt, eingehüllt in tunica palmata und Purpurtoga, auf den Locken den Lorbeerkranz des Siegers, das edle Gesicht mit Mennige rot gefärbt. In seiner Linken hatte er das mit einem Adler gekrönte Zepter aus Elfenbein gehalten, einen Lorbeerzweig in der Rechten. Germanicus war Jupiter, ein getreues Abbild des höchsten römischen Gottes. Und hätte ihm nicht der hinter ihm stehende Staatssklave die goldene Krone über das Haupt gehalten und immer wieder zu Bescheidenheit gemahnt – „Bedenke, dass du nur Mensch bist!“ – man wäre tatsächlich versucht gewesen zu glauben, der Herr des Himmels selbst hätte geruht, für eine Weile unter den Sterblichen zu wandeln.

Das Gejohle der Menge hallte nach in der Stadt, erfüllte Plätze und Straßen und drang in jede Insula und Bürgerstube ein. Niemand war auf Germanicus’ besorgte Miene aufmerksam geworden. Er allein wusste, dass das ganze Schauspiel eine geschickte Inszenierung der Staatsführung war, die einem einzigen Zweck diente: der Täuschung der Massen. Rom war dem Untergang geweiht. Zu erobern gab es nicht mehr viel. Der Germanenfeldzug war in eine Katastrophe gemündet. Tiberius hatte in Ermangelung einer ausreichenden Menge germanischer Kriegsgefangener eine große Zahl eigener Sklaven dem Zug vorangeschickt. Und die ‚Beute‘, die die Legionäre mitführten und die das Volk in Erstaunen versetzte, stammte großteils aus dem kaiserlichen Privatbesitz, wohin sie nach den Feierlichkeiten wieder zurückkehrte.

„Dumme Göre!“, schimpfte Gaius Caligula die kleine Agrippina, die sich im Wagen hinter dem Triumphator zitternd vor der grölenden Menge an den Gewändern ihrer Mutter festhielt. Er gab ihr einen heftigen Schubs. „Weiber sind doch das Blödeste, was auf der Erde herumläuft“, fuhr er altklug und verächtlich fort und wandte sich angewidert ab.

Er war mit seinen sechs Jahren jetzt doppelt so alt wie seine Schwester, zu deren Beschützer er sich gern aufspielte, der er mit erstaunlicher Geduld und dem vermeintlich natürlichen Recht des Älteren alles erklärte, was ihm in seiner kleinen Welt wichtig erschien, und die er behutsam züchtigte, wenn sie seinen Gedanken nicht gleich folgen konnte. Der Junge hatte schon früh eine außerordentliche Begabung erkennen lassen, und so hatten sich die Eltern entschlossen, ihn besonderen Hauslehrern anzuvertrauen, die er im Umgang mit seinen weniger klugen Geschwistern nur allzu gern nachahmte. Als ‚Spiel‘ genoss Germanicus’ fröhliche Kinderschar diese „Schulstunden“. Es wurde gelacht und gesungen und auch öfter getanzt, wozu die Erzieher allerdings bedenklich die Stirn runzelten. Ein anständiger Römer tanzte nicht, Prinzen und Prinzessinnen von Geblüt schon gar nicht. Bewegungen dieser Art galten als unschicklich, ja obszön. Aber was sollten sie tun, wenn sich vor allem der Vater nicht entschließen konnte, dem Treiben seiner Kleinen Einhalt zu gebieten, ja jede Klage über sie nur lachend zurückwies? Es seien eben Kinder, meinte er, und die lasse man am besten gewähren. Schließlich könne niemand voraussagen, wie lange die unbeschwerte Zeit noch fortdauere.

Caligula, der die öffentliche Ehrung des Vaters offensichtlich genoss, stichelte fort, bis seine Schwester tatsächlich zu weinen begann. Erst dann ließ er, als sei er am Ziel seiner Wünsche angelangt, von ihr ab und wandte sich noch aufmerksamer dem großartigen Schauspiel zu.

Angst stand dem kleinen Mädchen in das blasse Gesichtchen geschrieben. Der Vater so anders, so fern und so fremd. War das der gleiche Mann, der sie morgens auf die Schultern lud und mit ihr durch den Garten tollte? War das der, der sie aufhob und tröstete, wenn sie gefallen war und sich die Knie blutig geschlagen hatte? Oder der, der sie in den Arm nahm, wenn die strenge Mutter sie gezüchtigt hatte?

Auch sie, die Mutter, die so hieß wie sie selbst, die stolze Agrippina, war sie heute nicht noch unnahbarer als sonst? Noch schöner als die Statuen der Göttinnen, die zu Hause das Atrium schmückten, in dem blauen, fremdartigen Gewand mit den herrlich glänzenden Blumen- und Tierstickereien? Reglos stand die Frau auf dem Wagen, sah weder nach rechts noch nach links, starrte nur geradeaus, als wäre sie aus Stein gehauen. Nicht einmal Caligula hatte sie ermahnt, seine Schwester in Ruhe zu lassen. Ach sie, die kleine Agrippina, hatte niemand mehr lieb, soviel stand fest. Sie mochte dieses blöde Fest nicht, auf das man sie so lange vorbereitet hatte. Was hatte man ihr nicht alles versprochen? Eine neue Puppe, nur für sie allein, ein Würfelspiel, das sie noch nicht kannte, und, worüber sie sich am meisten gefreut hatte, eine Nacht im Bett der Eltern, fort von der Dunkelheit und den bösen Geistern, die jede Nacht ihr kleines Gemach aufsuchten und sie in Angst und Schrecken versetzten. Und wenn sie es wagte, sich zu beklagen oder ihrer Furcht Ausdruck zu verleihen, hieß es immer nur, Germanicus’ Tochter habe sich nicht zu fürchten. Und jetzt war sie allein unter all den schreienden fremden Menschen, einsamer noch als in der Finsternis ihrer Kammer, und wünschte sich nichts sehnlicher, als auf den Palatin zurückkehren zu dürfen, in den stillen, menschenleeren Garten, in dem es nach Blumen duftete und die Vögel sangen, zu den plätschernden Wasserspielen und den murmelnden Brunnen. Nicht einmal das wunderschöne Gewand, das man ihr heute angelegt hatte, weich und aus grünem Stoff, und der Goldreif auf ihrer Stirn vermochten sie über ihr Unglück hinwegzutrösten. Im Gegenteil! Sie hasste diese Verkleidung, in der sie sich nicht einmal schmutzig machen durfte, das hatte man ihr eingebläut – „Was würden die Römer dazu sagen?“ – , das hatte sie bei den ihr heiligsten Spielsachen versprechen müssen. Eine Prinzessin beschmutzt sich nicht. Und schon gar nicht, wenn ihr ganz Rom dabei zusieht.

Rom: Die Stadt war verändert nach diesem Fest. Nüchtern der Alltag. Nach den öffentlichen Speisungen war der Hunger zurückgekehrt, hatten sich Not, Krankheit und Tod wieder gemeldet. Auf den Stufen der Tempel, die längst wieder geschlossen waren, lungerten wie eh und je erbärmlich zerlumpte Gestalten. Der Tiber stank, dass es einem den Atem verschlug. Und in den Niederungen der Subura, die sich gleich hinter dem Tempel des Mars Ultor erstreckte und von den Kaiserforen nur durch eine hohe Brandmauer getrennt war, dem Rom der einfachen Leute, dem Rom des Pöbels, priesen Händler lautstark ihre faulige Ware an. Die Luft ging schwanger dort mit dem Geruch billiger Kaschemmen und verschnittenen Weins, mit den Ausdünstungen schmutziger Bordelle und den rauchigen Fettschwaden der unzähligen Garküchen, in denen Tausende ihren täglichen Hunger stillten, mit dem Gestank menschlicher Exkremente und verwesender Tierkadaver, ein süßlich fauler Atem, der durch die lauten, von Lachen und Kinderweinen erfüllten Straßen waberte, der Geruch von Armut, Elend und Tod. Straßenköter lechzten gierig nach blutigen Abfällen, die ihnen die Schlachter zuwarfen, Ratten huschten über das schmierige Pflaster, und Schmeißfliegen surrten über ausgeweidetem Vieh. Räudige Katzen räkelten sich auf sonnenbeschienenem Gestein. Allenthalben das Gepolter der hölzernen Wagen auf den holprigen Straßen, das Klappern von Pferdehufen, Menschen, die flohen, Menschen, die blieben, und Kindergeschrei.

Weder bei den Festlichkeiten noch in den Wochen danach hatte sich Tiberius seinen Untertanen gezeigt, Augustus’ Nachfolger, dem man die unbeschwerten Stunden verdankte, hatte doch jeder gehofft, ihm auf welche Weise auch immer zu begegnen. Gerüchte breiteten sich in der Stadt aus und drangen in jede Fischerkate und Bürgerstube ein: Er, der Herr des Imperiums, habe sich mit seiner machtbesessenen Mutter heillos überworfen. Feindlich stünden sich die beiden nun gegenüber, Mutter und Sohn, und es werde wohl erst Ruhe geben, wenn Iulia Augusta, wie sich Livia Drusilla neuerdings nannte, endgültig in ihre Villa ad Gallinas umgezogen sei und sich aus den Regierungsgeschäften ganz heraushalte.

Noch immer flüsterte man übrigens den Namen des Agrippa Postumus, der angeblich nachts in Rom umging, Augustus’ letzten Enkels, der nach dem Wunsch des Alten gemeinsam mit dem Claudiersohn die Herrschaft in Rom hätte ausüben sollen („…damit wenigstens in einem der Staatsführer das Blut der Julier, unser Blut, fließt“), nach dem Tod des Großvaters diesem aber bald in den Orkus gefolgt war. Ein Mord, den niemand befohlen hatte, den keiner verantworten wollte. Livia nicht, und auch nicht Tiberius. Der hatte sich, als er den Hinrichtungsbefehl erteilte, vage auf eine geheime Anweisung seines Vorgängers berufen, der durch die Beseitigung des Jünglings Rom und sein Reich angeblich vor Schaden bewahren wollte. Zeugen gab es dafür freilich nicht.

Die Zeichen der Zeit standen schlecht.

Auch auf den Palatin waren Alltag und Ernüchterung rasch zurückgekehrt. Wieder einmal wusste Roms unruhigster Feldherr nichts mit sich anzufangen. Keine Aufgabe, an der er sich hätte messen können. Familiengeschichten. Die Erziehung der Kinder, denen immer aufs Neue eingeprägt wurde, wie sehr sie sich von ihren Altersgenossen unterschieden. Die Kinder aus dem Kaiserhaus, die etwas Besonderes waren, in denen das Blut der Unsterblichen floss, die Enkel Caesars, des großen Augustus und des nicht geringeren Marc Anton, den man im fernen Land am Nil vor zwei Generationen ebenfalls als Gott verehrt hatte, als Fleisch gewordenen Dionysos, der mit der Gottkönigin Cleopatra in heiliger Ehe vereint war.

Unbeabsichtigt wurde die kleine Agrippina eines Abends Zeugin eines Gesprächs ihrer Eltern. Die Mutter selbst hatte sie zu Bett gebracht, sie in den Schlaf gesungen, und Germanicus, der pater familias, war eingetreten, um die Seinen zu besuchen, wie es Brauch war, ehe es Nacht wurde über Rom.

Entgegen der Überzeugung ihrer Mutter schlief die Kleine aber nicht.

„Arme Kinder!“, hörte sie Agrippina flüstern, die ihren Mann mit beinahe ängstlichen Augen ansah. „Ist dir eigentlich schon einmal durch den Kopf gegangen, dass in unserer Gens, vielleicht mit Ausnahme von Augustus, noch keiner auf natürliche Weise gestorben ist? Jedes Leben endete vorzeitig, ja es scheint, als sei unsere Sippe vom Schicksal verflucht. Der große Iulius Caesar erschlagen von Mörderhand, meine Brüder Lucius, Gaius und zuletzt auch Postumus vor der Zeit dahingerafft. Man erzählt in der Stadt übrigens immer noch, Livia Drusilla treffe an den mysteriösen Todesfällen die Schuld. Agrippa Postumus, so heißt es, gehe nachts in der Stadt um, das bluttriefende Haupt mit dem Kranz schwarzer Locken unter den Arm geklemmt, und fordere Gerechtigkeit.“

Erschrocken stürzte Germanicus auf seine Frau zu und hielt ihr die Hand vor den Mund. „Um der Götter Willen, schweig, Weib!“

„Weißt du nicht, dass in Rom jedes Haus Ohren hat, auch das unsrige? Du hast natürlich Recht. Auch ich habe Angst, und ich wäre froh, wir könnten diesem Sündenpfuhl wieder für einige Zeit den Rücken kehren und unbeschwert leben. Auf die nächste Reise werden wir übrigens alle unsere Kinder mitnehmen. Scheint mir doch unser aller Leben inmitten auswärtiger Feinde weniger bedroht als bei unserer Verwandtschaft in Rom. Aber ich sehe im Augenblick kein Betätigungsfeld außerhalb der Hauptstadt. In den Provinzen ist es erstaunlich ruhig, und sogar die Parther, unsere größten Feinde, scheinen genügend eigene Probleme zu haben. Es bleibt also nichts als abzuwarten und zu hoffen.“

Unbeeindruckt von den Ermahnungen ihres Mannes fuhr Agrippina fort:

„Drusus, dein Vater. Du weißt, dass die Römer immer noch davon überzeugt sind, dass ihn Tiberius auf dem Gewissen hat. Er, der beste Reiter Roms, und vom Pferd gefallen! Lächerlich! Sie sagen, er habe im wahrsten Sinne des Wortes ins Gras beißen müssen, weil er die Res Publica wieder einführen wollte. Und das hätten weder Augustus noch Tiberius und erst recht nicht Livia Drusilla, die wahre Herrscherin Roms, zumindest als ihr Mann noch Princeps war, dulden können. Also musste er weg. Und ausgerechnet im fernen Germanien, damit niemand die Umstände seines Todes erforschen konnte. Wie oft frage ich mich, was aus uns werden soll. Wir haben sechs Kinder, Germanicus, und auch ich werde das Gefühl nicht los, dass wir alle in Gefahr schweben. Tiberius und seine Mutter haben alle beseitigt, die ihnen im Weg standen. Sie werden auch keine Skrupel haben, uns zu vernichten, sobald sich nur eine Gelegenheit dazu bietet.“ Ein heftiges Zittern hatte sich der besorgten Frau bemächtigt.

„Vielleicht siehst du zu schwarz, Agrippina“, versuchte Germanicus sie zu beruhigen. „Immerhin sind wir eine Familie. Wie alle Römer bin auch ich davon überzeugt, dass mein Vater die Frucht eines Ehebruchs meiner allzu ehrgeizigen Großmutter Livia Drusilla mit Augustus war. Oder ist dir schon `mal zu Ohren gekommen, dass einer eine Frau zur Ehe nimmt, die das Kind eines Anderen trägt, der dann noch die Braut freiwillig herausrückt? Ich sage dir, da ist nur wenig gemeinsames Blut zwischen mir und dem Princeps Tiberius. Ich bin nur der Sohn seines Halbbruders.“

„Umso schlimmer“, unterbrach ihn Agrippina. „Dann wird er erst recht nicht zögern, uns umzubringen. Unsere Kinder tragen das Tragische in sich. Und ich kann nur hoffen, dass ihnen als Erzeugnisse eines früheren Ehebruchs nicht auch das Böse innewohnt. Soweit ich den Ärzten vertrauen kann, Germanicus, haben ihre Körper keinen Schaden gelitten. Aber ich fürchte um ihre Seelen, Geliebter, ich fürchte um ihre Seelen. Böses muss Böses gebären, heißt es nicht so?“ Und wieder diese flehenden Augen, die zu bitten schienen, nimm mir die Zweifel, teile mein Leid!

Die Kleine hatte von all dem, was ihre Eltern besprochen hatten, nichts verstanden. Doch eines war ihr doch bewusst geworden: Mit dem Instinkt eines Kindes witterte sie Gefahr. Aber jedes Mal, wenn sie ihren Bruder Caligula darauf ansprach, wenn sie ihn, dem sie in ihrer Familie am meisten vertraute, verriet, dass sie sich fürchte, lachte er sie nur aus.

„Du bist dumm, Kleine“, pflegte er dann zu sagen. „Du hast nicht mehr Verstand als die Hühner in Urgroßmutters Hof. Aber was soll man tun? Du bist eben ein Mädchen, und die sind wohl so. Vergeudete Zeit, wenn sich einer wie ich mit ihnen abgibt.“

Agrippina. Kaisermacherin - Kaisermörderin

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