Читать книгу Agrippina. Kaisermacherin - Kaisermörderin - Ute Schall - Страница 8

Der Tod kommt auf gewundenen Pfaden

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Wochen vergingen, ehe Germanicus jene Erlebnisse verarbeitet hatte, das Grauen in den dunklen Wäldern, für die die Einheimischen keinen Namen kannten. Nachts fand er keinen Schlaf. Ein Umgetriebener, wandelte er in den hohen Räumen des Kastells umher, in dem Teil des Lagers, das ihm und den Seinen als Wohnstatt diente. Bei jedem noch so geringen Geräusch begann er heftig zu zittern und sah sich ängstlich um.

Mit sehnsüchtigen Augen betrachtete er die geliebte Frau und die kleine Tochter, die ihnen ein gnädiger Himmel inmitten der Wildnis geschenkt hatte. Lange hatte er um die Gesundheit der beiden gebangt, hatte sich mit Vorwürfen überhäuft, Agrippina in diesem Zustand nicht in Rom zurückgelassen, sondern den Gefahren dieser Reise ausgesetzt zu haben, von der es womöglich keine Rückkehr gab. Nicht nur die Götter wussten, er hatte alles versucht, sie zum Bleiben zu überreden. Aber sie war die Tochter des eigenwilligen Marcus Vipsanius Agrippa, des einst nebst Augustus mächtigsten Mannes des Reiches, und der selbstbewussten Iulia. Sie war eigenwilliger als ihre anderen Geschwister, und eine ganze Legion hätte sie von dem, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, nicht abzubringen vermocht. So hatte auch er schließlich nachgegeben. Was hätte er auch anderes tun sollen, wo sie doch sogar gedroht hatte, sich umzubringen, wenn er sie nicht mitkommen ließe!

Und doch! Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass alles noch viel schlimmer käme. Seine Kinder sahen einer schrecklichen Zukunft entgegen. War denn ihre Sippe verflucht? Selbst Gaius, der heute von den Soldaten gefeiert wurde, als wäre er ihr künftiger Herr, würde noch in jungen Jahren tragisch enden, er fühlte es wohl.

Bei keiner Geburt hatte er versäumt, die Orakel zu befragen, Delphi, Didyma und wie sie alle hießen, auch das der Sibylle von Cumae und Vergils kühnes Epos Aeneis, das als Ort der Prophezeiungen vor kurzem in Mode gekommen war. Übereinstimmend hatten die Vorhersagen aller zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass gegeben. Nur seine Frau durfte davon nichts wissen. Galt es doch, sie so lange als möglich zu schonen, denn auf sie wartete womöglich das schrecklichste Los.

Und er selbst? Er würde seine Familie nicht mehr lange beschützen können, soviel stand fest. In vielfältigen Vorzeichen hatte sich ihm der nahe Tod angekündigt. Die Götter Roms hatten seine Tage gezählt.

Beunruhigende Nachrichten kamen indes auch aus Rom. Beinahe wöchentlich trafen Kuriere aus der Hauptstadt ein, Germanicus möge sich allmählich auf die Heimreise vorbereiten. Noch bestünde kein Anlass zu übertriebener Eile. Aber man wolle ihn keiner Überraschung aussetzen, und die Rückreise solle gut geplant sein. Um die Gesundheit des Princeps Augustus sei es nicht zum Besten bestellt. Eigentlich lasse der Zustand in seinem Alter kaum noch hoffen.

Tatsächlich stand der Herr der Welt im 76. Lebensjahr, und es gab nur wenige, denen vom Schicksal eine ähnlich lange Lebenszeit zugemessen worden war. Bei jedem anderen hätten sich die Römer dafür dankbar gezeigt. Nicht so bei ihm, für dessen Genesung sie Tag und Nacht beteten. Niemand oder doch nur Vereinzelte erinnerten sich noch an die Tage der späten Republik, die mit seinem Erscheinen auf der Bühne des Weltgeschehens verloren war.

Ginge er tatsächlich heim zu den unterirdischen Schatten, was würde dann aus ihnen und aus Rom?

Selten zuvor hatte man die Stufen der Tempel so belagert gesehen wie in jenen Tagen des Abschiednehmens. Dass sein Tod unmittelbar bevorstand, konnte keinem entgehen.

Denn der Princeps war krank. Seit Wochen plagten ihn so heftige Leibkrämpfe, dass er manchmal wie ein Kind wimmerte. Man flüsterte hinter vorgehaltener Hand wieder einmal von Gift. Gift, das so manchen Hoffnungsträger aus dem Kaiserhaus schon in jungen Jahren dahingerafft hatte, Gift, das den Tod für die, denen er zu langsam kam, beschleunigen sollte. Und man scheute sich nicht, den Namen der Giftmischerin offen auszusprechen. Livia Drusilla, die ihres Gemahls längst überdrüssige Gattin, die Wölfin, die Hexe, habe beschlossen, dessen Platz nun endlich für Tiberius zu räumen, ihren Sohn aus früherer Ehe, Tiberius aus dem alten adelsstolzen Geschlecht der Claudier, für den sie jahrzehntelang ihr von Augustus zugefügte Demütigungen und Kränkungen mit scheinbar stoischer Gelassenheit ertragen hatte.

Nachts rotteten sich die Mutigsten zusammen, erschienen vor den Toren des herrschaftlichen Palastes und skandierten mit drohenden Gebärden Livias Namen. Und von den Wänden der Tempel des Forums hallte es unheimlich wider: Livia, Livia Drusilla, Livia!

Tiberius also, der finstere Claudier und Menschenfeind. Was hatte man von ihm zu erwarten?

War nicht Augustus selbst stets verstummt, wenn sein ungeliebter Stiefsohn in eine fröhliche Unterhaltung platzte? Und hatte der Princeps nach einer Unterredung mit ihm nicht erst kürzlich das „arme römische Volk“ bedauert, das bald zwischen Tiberius’ „langsamen Kinnbacken zermalmt“ würde?

Seit jeher ein Meister der Verstellkunst, ließ sich Augustus aber nichts anmerken. Trotz seines bedenklichen Zustands und der Warnung der ratlosen Ärzte tat er seine Pflicht. Dabei schien er von einer geradezu ansteckenden Heiterkeit befallen zu sein. Er scherzte mit den Abgesandten fremder Völker, die er im Bett liegend empfing, sodass sich diese, die ehrfurchtsvoll vor ihn getreten waren, auf das eigenartige Verhalten dieses Herrschers keinen rechten Reim machen konnten. Er besprach sich mit seiner Frau, als hätte er von den bösen Gerüchten, die über sie umliefen, nichts gehört. Wie immer, wenn er sie in Staatsdingen oder in wichtigen Familienangelegenheiten zu Rate zog – und er traf seit Jahrzehnten kaum noch eine Entscheidung ohne sie – war das, was er mit ihr zu besprechen hatte, zuvor genau aufgeschrieben worden. Er wollte schließlich nichts Unpassendes oder Falsches sagen.

Zum Schreiben freilich war der alte Mann schon lange zu schwach. Fast immer musste er jetzt seinen ab epistulis bemühen, den kaiserlichen Geheimsekretär.

Noch einmal gedachte der Princeps, eine Reise zu tun. Er mochte ahnen, dass es eine ohne Wiederkehr werden würde. Er verließ mit gewaltigem Tross das hitzeschwangere Rom, um nach Campanien ans Meer zu ziehen, wo er glückliche Zeiten verbracht und manches delikate Abenteuer erlebt hatte. Auch auf Capri zog es ihn, die sonnendurchflutete Insel, die er vor vielen Jahren von Neapolis im Tausch gegen Ischia eingehandelt und mit herrlichen Landgütern geschmückt hatte.

Sein Zustand verschlechterte sich indes zusehends. Er mochte immer noch hoffen, nach Rom zurückkehren und dort in vertrauter Umgebung sterben zu dürfen, an der gigantischen Stätte seines jahrzehntelangen Wirkens, der Stadt, die er nach eigenen Worten aus Ziegeln erbaut vorgefunden und aus der er eine Schönheit aus Marmor gemacht hatte. (Es waren genug Ziegel übrig geblieben.) Aber das Schicksal erwies sich ihm als nicht so gnädig. Er kam nur bis Nola in Campanien, wo seine Familie seit alters her ein kleines Landgut besaß. Er suchte sein Vaterhaus auf, das er so lange nicht gesehen hatte. Dort entschlummerte er sanft im Kreise seiner Lieben, und der Zufall wollte, dass er im selben Bett starb wie einst sein leiblicher Vater Octavius.

In den kühlen Nachtstunden trugen die Vorsteher der Gemeinden und Landstädte den kaiserlichen Leichnam bis Bovillae. Von dort begleitete ihn eine Abordnung römischer Ritter nach Rom, wo sie ihn im Vorraum seines Hauses auf dem Palatin aufbahrten, um den Noblen der Stadt die Möglichkeit zu geben, von ihm Abschied zu nehmen.

„Dein Großvater Augustus ist jetzt ein Gott“, wandte sich Germanicus an Agrippina, und der Gedanke daran ließ ihn lächeln. Man hatte ihn nicht weiter gedrängt, in die Hauptstadt zurückzukehren, und so hatte er beschlossen, so lange als möglich im Norden zu bleiben, wogegen seine Frau keinen Einwand erhob.

„Er ist auch dein Großvater, nepos Dei!, gab Agrippina spottend zurück. “Oder hast du schon vergessen, was in Rom die Spatzen noch immer von den Dächern pfeifen? Dass er nämlich deine Großmutter, die ach so tugendhafte Livia Drusilla, nicht nur ihrem Gatten Tiberius Claudius Nero entführt, sondern diesem obendrein noch die Hörner aufgesetzt habe? ‚Wer Glück hat, bekommt auch noch ein Dreimonatskind‘, sagten sie damals und meinten deinen Vater, der tatsächlich bald nach der skandalösen Eheschließung zur Welt kam. Vergleiche doch nur die Bildnisse des Princeps mit denen des Drusus! Ist dir die Ähnlichkeit noch nie aufgefallen?“, wollte sie wissen.

Und ernster fuhr sie fort:

„Und unsere seltene Eintracht, die geradezu sprichwörtlich ist in Rom? So können doch nur zwei zusammenleben, die gleichen Blutes sind.“

Natürlich waren auch Germanicus bestimmte gemeinsame Merkmale der beiden Männer aufgefallen. Zwar konnte er sich an seinen von den Römern so überaus geliebten Vater kaum erinnern, denn dieser war schon vor mehr als zwei Jahrzehnten als Toter von einem Feldzug aus Germanien zurückgekehrt. Aber in seinen eigenen Zügen entdeckte er oft die des Augustus: Die Nase leicht vorspringend, die Wangenknochen ausgeprägt. Dazu ein strahlender Blick, dem niemand lange widerstehen konnte, und ein Kranz heller Locken über einer hohen, oft sorgenumwölkten Stirn.

„Wenn nur aus uns so schnell keine Götter werden!“ Germanicus versuchte zu scherzen, doch lief es ihm bei dem Gedanken an einen baldigen Tod eiskalt über den Rücken. Schon Caesar, den berühmten Ahnen, hatte ein schweres Schicksal ereilt. Wie würde er enden? Welches Schicksal war ihm bestimmt?

„Stell dir vor, wir müssten ewig leben!“ Germanicus war nachdenklich geworden. „Oder eine Ehe wie die Götter führen, mit List, Betrug, Untreue und Hinterhältigkeit. Doch im Ernst. Ich bin auf das Schlimmste gefasst. Noch nie hat sich ein Machtwechsel in Rom ohne Blutvergießen vollzogen. Und ich befürchte …“

Germanicus hatte noch nicht ausgesprochen, als von draußen Furcht erregender Lärm zu vernehmen war. Im nächsten Augenblick wurde die Tür zu den Feldherrngemächern aufgestoßen. Die Leibwache stürzte herein und hatte Mühe, die aufgebrachte Menge mit ihren Speeren am Eindringen zu hindern. Agrippina zog zitternd ihre kleine Tochter an sich und drückte sie fest an die Brust. Selbst Stiefelchen Gaius suchte mit fahlem Gesicht Schutz unter den Röcken seiner Mutter. Agrippina sah sich ängstlich um und ließ den hinteren Ausgang ihres Gemachs nicht aus den Augen, den Fluchtweg, über den sie in Gedanken mit ihren Kindern immer wieder um ihr Leben und doch nur in eine zweifelhafte Freiheit gerannt war. Anders als ihr Gatte, der viele Jahre im Feldlager verbracht und mit seinen Männern alle Gefahren gemeistert und sogar das einfache Essen geteilt hatte, und so einer der Ihren geworden war, war seine Frau stets vorsichtig, kühl und zurückhaltend geblieben. Von wenigen Reisen abgesehen, hatte sie die Sicherheit ihres römischen Palastes kaum verlassen. Dass man selbst dort nicht vor allen Gefahren gefeit war, hatte sie bei den Verhaftungen ihrer geliebten Mutter Iulia und ihrer Schwester leidvoll erfahren. Grob war man mit ihnen umgegangen, ihren hohen Stand missachtend. Und doch war es nicht das Schlechteste, unter der Herrschaft eines Augustus zu leben, der allgemein als menschlich und gerecht galt und einen unbehelligt ließ, solange man nicht allzu provozierend gegen seine Spielregeln verstieß. Hatten nicht Mutter und Schwester die Staatsführung immer wieder herausgefordert und ihr Schicksal damit weitestgehend selbst verursacht?

„Was treibt euch her, Männer? Was geht hier vor?“

Die tief stehende Sonne blendete Germanicus, sodass er schützend die Hand vor die Augen halten musste und nicht gleich erkennen konnte, wer ihm gegenüber stand. Er versuchte, Strenge in seine Stimme zu legen. Aber seine Worte gingen in dem allgemeinen Tumult unter. Erst als er aufstand, den Soldaten entgegenging und, Ruhe gebietend, die Rechte hob, verstummte langsam das undefinierbare Geschrei. Einer, den zuvor das Los bestimmt hatte, durchbrach die Front der Wachleute, trat mutig auf den Feldherrn zu und blickte ihm unverwandt in die Augen. Dieser erwiderte nicht weniger unerschrocken den eindringlichen Blick.

„Sprich!“, forderte er den Mann auf. „Was wollt ihr hier. Ist das etwa die Disziplin von Männern, um die uns eine halbe Welt beneidet? Schämen solltet ihr euch, ihr habt den Namen Römer nicht verdient!“

„Nichts für ungut, Herr“, begann der Sprecher selbstbewusst. „Uns ist zu Ohren gekommen, dass Princeps Augustus verstorben ist und in den römischen Götterhimmel aufgenommen wurde. Das ist in Ordnung so. Denn sein Leben ist reich gewesen, sowohl an Jahren als auch an Ruhm. Er hat viel für Rom und das Reich getan, sodass wir ihm jede erdenkliche Ehrung gönnen. Aber einem Gott sind wir nicht verpflichtet, und einen Tiberius werden wir als Nachfolger nicht anerkennen. Augustus’ Tod hat uns von jeglichem Treueid, den wir ihm geleistet haben, entbunden. Das war schon immer so. Und wir werden nicht zulassen, mit dem Einsatz unseres Lebens nicht zulassen, dass jener Menschenschinder, der Sohn von Roms skrupellosester Giftmischerin, zunichte macht, wofür wir seit Jahrzehnten unsere Haut zu Markte tragen. Alle entlang des Rhenus Fluvius stationierten Legionäre denken übrigens wie wir. Die Besatzungen der Kastelle am Niederrhein sind in Aufruhr. Auch vom Oberrhein werden schwere Unruhen gemeldet. Unmut regt sich unter allen verdienten Soldaten. Herr, Rom hat mit dem Blut seiner Söhne die halbe Welt getränkt und ein Reich erobert, wie es die Menschheit nie zuvor sah. Du darfst nicht tatenlos zusehen, wie uns ein Einzelner gewaltsam um die Früchte unserer Mühen und Opfer bringt, du darfst nicht zulassen, dass das römische Blut umsonst vergossen wurde.“ Die letzten Worte waren dem Mann beinahe flehend über die Lippen gekommen.

„Und was soll ich eurer Meinung nach tun?“, wollte Germanicus wissen und ließ die aufgebrachten Männer nicht aus den Augen.

„Feldherr Germanicus!“, warf sich der Römer in die Brust. „Die am Rhein stationierten Legionen haben dich, den Sohn des unvergessenen Drusus, der im Dienste Roms sein Leben in jungen Jahren aushauchte, zum Princeps ausgerufen. Du sollst unser Herr sein. Hoch lebe Kaiser Germanicus! Lang lebe Roms neuer Kaiser!“ Und sogleich fielen alle in den Jubelruf ein und schlugen mit den Schwertern auf die mitgebrachten Schilde, um ihre Zustimmung und Freude zu bekunden.

Germanicus wurde blass. Auf diese Situation war er nicht vorbereitet. Nie hatte er mit dem Gedanken gespielt, einmal selbst die Spitze des römischen Staates zu erklimmen. Hatte er vor einigen Wochen auch erfahren, dass Augustus seinen Nachfolger dazu verpflichtet hatte, ihm, dem von Tiberius nicht geliebten Neffen, neben seinem eigenen Sohn Drusus die Verantwortung für Stadt und Reich weiterzugeben, so schien der Eintritt dieses Ereignisses doch so fern, dass sich darüber nachzudenken nicht lohnte. Gewiss, der Onkel war kein junger Mann mehr; er befand sich an der Schwelle des Greisenalters. Aber er war kräftig und gesund, und sein Vorgänger war ja auch 76 Jahre alt geworden, obwohl ihn zeitlebens manche Krankheit geplagt und an den Rand des Todes geführt hatte. Sicherlich, niemand kannte den Willen des Schicksals.

Aber da gab es noch jene Gerüchte, die durchaus etwas Wahres zu enthalten schienen: Noch kurz vor seiner Abreise habe sich der Princeps in einer Nacht- und Nebelaktion ohne Wissen seiner strengen Gemahlin Livia, der allseits gefürchteten Wölfin von Rom, mit seinem auf der Insel Planasia gefangen gehaltenen Enkel Agrippa, der Postumus genannt wurde, versöhnt und ihm die Teilhabe an der Macht in Aussicht gestellt. Man hatte dem zunächst wenig Glauben geschenkt und hätte sicherlich noch lange gezweifelt, hätte es nicht bald nach der Versöhnung einen mysteriösen Todesfall gegeben …

„Männer!“ Germanicus fasste sich. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen, denn Tiberius, der gierig nach der Macht war, war alles zuzutrauen. Wer konnte wissen, ob sein Arm nicht bis hierher in das entfernte Germanien reichte?

„Ich weiß eure Anhänglichkeit zu schätzen. Aber ihr werdet verstehen, dass ich euer Ansinnen nicht gutheißen kann. Würde ich mich jetzt als Kaiser aufspielen, beginge ich schändlichen Verrat. Es ist euch vielleicht nicht bekannt, dass Augustus selbst noch dafür gesorgt hat, dass Tiberius nicht willkürlich schalten und walten kann. Er hat Agrippa Postumus, den eigenen Enkel, begnadigt und ihn Tiberius zur Seite gestellt, damit auch künftig julisches Blut in den Adern der Herrschenden fließe. Beruhigt euch also, Römer, geht nach Hause und tut eure Pflicht!“

Noch näher trat der Sprecher an Germanicus heran.

„Ich sehe, Feldherr, dass dich Roms neue Staatsführung schon jetzt in Unwissenheit lässt. Wir haben sichere Kunde, dass Agrippa Postumus, der Bruder deiner Frau, gestorben ist, gefallen durch Mörderhand. Augustus selbst, so lassen Livia und Tiberius in seltener Einmütigkeit verbreiten, habe dessen Beseitigung noch auf dem Sterbebett befohlen, angeblich, um Rom vor Schaden zu bewahren. Die Wahrheit freilich, dessen sind wir gewiss, sieht anders aus.“

Zum zweiten Mal in den wenigen Minuten dieses Gesprächs erbleichte Germanicus. Er hatte das Gefühl, der Boden schwinde unter seinen Füßen. Also war Fabius Maximus, einer von Augustus’ wenigen Freunden und Zeuge der großen Versöhnung auf Planasia, doch keines natürlichen Todes gestorben. Wohin, wohin treibst du, unselige Roma? Was haben sie mit dir gemacht? Ist es schon so weit mit dir gekommen? Germanicus schlug die Hände vors Gesicht, da er sich seiner Tränen schämte. Dann bat er seine Leute, ihn jetzt allein zu lassen. Er werde sich die Sache überlegen und ihnen seine Entscheidung mitteilen. Langsam wandte er sich Agrippina zu, die, zur Salzsäule erstarrt, noch immer hinter ihm stand.

Kaum waren die Männer abgezogen, da schwanden ihr die Sinne. Antonella riss geistesgegenwärtig den Säugling an sich und ergriff den kleinen Gaius mit fester Hand. Germanicus fing seine Frau auf und trug sie vorsichtig auf ihr Lager, als wäre sie aus feinem Glas und zerbrechlich. Dort, verborgen vor den Blicken der Welt, überließ er sich ganz seinem Schmerz.

„Herrin“, flüsterte die junge Dienerin.

„Hast du noch etwas auf dem Herzen, Kind?“ Agrippina war rasch wieder zu sich gekommen.

„Es ist vielleicht nicht der richtige Augenblick“, begann das Mädchen zögernd. „Aber ich möchte nicht, dass es dir von anderer Seite zugetragen wird. Deine Mutter, Herrin …“

„Was ist mit Iulia?“ Agrippina schien Hoffnung zu schöpfen. „Darf ich sie nach all den Jahren bald in die Arme schließen. Wird sie endlich nach Rom zurückkehren?“

„Deine Mutter, Herrin, sie sagen, es war Gift.“

Antonella barg den Kopf in Agrippinas Schoß.

„Nein, nicht Tiberius. Diesmal nicht. Auch nicht Livia.“ Antonella sah auf. „Sie selbst“, sagte sie zögernd „Es heißt, sie habe ihnen zuvorkommen wollen, ihnen den Triumph nicht gegönnt, auch sie vernichtet zu haben. Denn mit dem Gedanken, sie zu töten, seien die in Rom schon lange umgegangen. Sie haben ihr keine Lebensmittel mehr geschickt. Iulia sollte den qualvollen Hungertod sterben. Sie wähnten, die lange Verbannung werde den Mord in Dunkelheit hüllen. Tapfer, einer Römerin und der Witwe Agrippas würdig, sei sie in den Tod gegangen.“

Agrippina rührte sich nicht mehr. Auf ihren Zügen stand das blanke Entsetzen. Starr saß sie, einer marmornen Statue gleich, unfähig, auch nur eine Träne zu verlieren.

Stunden vergingen. Der Abend kam leise, die Nacht. Wölfe umkreisten heulend das Lager, und in der Ferne sangen fremde Frauen Klagelieder.

Gegen Mitternacht zerschnitt ein Schrei die gespenstische Stille, ein Laut, wie man ihn nie zuvor gehört hatte, der jedem durch Mark und Bein drang, der die Welt in ihren Grundfesten erschütterte und sie augenblicklich eine andere werden ließ.

Agrippina. Kaisermacherin - Kaisermörderin

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