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Felco

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Samstag, 23. Juni 2019, 0.55 Uhr

Ernst Berger war ein schreckhafter Mann. Linkisch schaute er alle 50 Meter über die Schulter, ob ihm jemand folgte. Zu dieser Tageszeit wäre er nie auf die Idee gekommen, sich in diesem Stadtteil zu bewegen. Dabei war der Mannheimer Jungbusch nicht mehr das, was er noch vor zehn Jahren gewesen war. Ursprünglich waren die schönen alten Häuser hier im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts für reiche Reeder und Kapitäne erbaut worden. Nach dem Niedergang der Rheinschifffahrt in den 70er-Jahren waren sie zunehmend heruntergekommen. Amüsierlokale, Prostitution und Drogenhandel hatten sich hier breitgemacht – zum sozialen Brennpunkt war der Jungbusch geworden. Doch nun siedelte sich allmählich eine neue Bevölkerungsgruppe hier an. Die Studenten der Uni und der zahlreichen anderen hier beheimateten Hochschulen – wie der unweit von hier gelegenen Pop-Akademie – machten sich mit ihren Wohngemeinschaften in den oft großzügig geschnittenen Altbauwohnungen breit. Ihnen folgte ein bunter Mix aus Szenekneipen und kleinen Läden. Der Stadtteil war im Aufwind und wurde bei der jungen urbanen Gesellschaft immer beliebter. »Gentrifizierung« nannte man das neuerdings.

Dennoch gab es nachts noch genügend finstere Gestalten, die die Gegend für Berger, den ängstlichen Buchhalter bei der Brauerei Eichbaum, zur No-go-Area machten. Er hatte am Rand der Hafenstraße geparkt und marschierte schnellen Schrittes durch die um diese Tageszeit noch trister wirkende Böckstraße mit ihrem verfallenen Mühlengebäude gleich am Straßenanfang. Er hatte sich bewusst für diese ruhige Straße entschieden und nicht die belebtere Jungbuschstraße mit der legendären Onkel-Otto-Bar und den anderen um diese Zeit stark frequentierten Kneipen genommen. Er wollte nicht, dass man ihn hier sah.

Vor einem Haus türmten sich alte Matratzen und ein Sessel mit aufgeplatztem Polster. Wilder Müll aus den Wohnungen der vier- bis fünfstöckigen Gründerzeithäuser, einfach am Straßenrand entsorgt, war hier keine Seltenheit. Vor ihm huschte eine fette Ratte über die Straße und verschwand in einem offenen Kellerfenster. Er beschleunigte sein Tempo und bog um die Ecke in die Beilstraße. Hinter sich hörte er unregelmäßige Schritte. Ein Betrunkener, der über den Bürgersteig wankte und sich hin und wieder an einem Laternenmast festhalten musste.

Was tat er nur hier? Warum hatte er sich derart beunruhigen lassen? Seit wann ließ er sich erpressen? Wer war überhaupt dieser Typ mit dem russischen Akzent, der ihn heute Nachmittag angerufen hatte? Heute Morgen erst hatte er den Umschlag mit der Aufschrift »Herrn Ernst Berger – persönlich« aus der Hauspost gefischt. Zum Glück war er noch verschlossen gewesen. Nicht auszudenken, wenn das Foto darin auf dem Tisch eines Kollegen gelandet wäre. Es zeigte ihn nackt auf dieser Blondine, die sich Natascha genannt hatte und angeblich aus Moskau kam. Es war in jenem Speyerer Bordell aufgenommen worden, das er, bis zu dessen Schließung vor zwei Jahren, einige wenige Male besucht hatte. Sollte er das Foto doch schicken, wohin er wollte, er würde nicht zahlen, redete er sich trotzig ein.

Es fiel ihm schwer, sich im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung zu orientieren. Haus um Haus näherte er sich der von diesem Typen am Telefon angegebenen Hausnummer. Warum nur machte er es so kompliziert? Wieso wollte er ihn persönlich sprechen? Warum konnte er ihm nicht telefonisch seine Forderung nennen? Um irgendwo ein paar 1.000 Euro zu deponieren oder, wie es im Erpressermilieu üblich war, ein paar Bitcoins zu transferieren, brauchte man wahrlich kein Treffen. Und Negative, die man ihm im Ausgleich übergeben würde, gab es im Digitalzeitalter sowieso nicht mehr.

»Da rein!«, unterbrach eine harsche Stimme mit osteuropäischem Akzent seine Überlegungen. Ein wuchtiger Schemen schälte sich aus der Dunkelheit eines offenen Eingangs. Er fühlte den Griff einer kräftigen Hand, die ihn in die Tür zog.

Das Treppenhaus war völlig finster. Nur durch ein kleines Fenster gelangte etwas vom fahlen Schein des Halbmonds ins Innere. Mit dessen Hilfe gelang es ihm wenigstens, die Umrisse des schmalen Flurs zu erkennen. Es roch nach modrigem altem Holz und frischem Zement. Jeder Schritt verursachte ein unangenehmes Scharren. Offensichtlich mahlte er Bauschutt, der den alten Fliesenboden bedeckte, unter den Füßen. Die feuchte Kälte der Nacht kroch ihm in die Knochen und nährte die Angst, die in ihm aufstieg. Wieso nur hatte er sich auf das hier eingelassen? Er war sich nun sicher, dass es eine riesige Dummheit gewesen war, alleine hierher zu kommen.

»Hier rein!«, herrschte ihn der Osteuropäer, der sich noch immer hinter ihm hielt, mit einer Stimme rau wie Schmirgelpapier an.

Er gehorchte. Was sollte er auch sonst tun, so schmächtig und wenig wehrhaft, wie er war.

Mit einem groben Stoß drückte ihn der Unbekannte durch eine der offenen Wohnungstüren. Die beiden Fenster des Zimmers, in das er mehr gestolpert als gelaufen war, waren größer und ließen das trübe Mondlicht in den Raum dringen. Weiterhin blieb der Fremde außerhalb seines Sichtfeldes. Er traute sich nicht, sich nach ihm umzudrehen.

Als hätte der Mann seine Gedanken gelesen, schrie er ihn nun an: »Wenn du dich umdrehst und mich ansiehst, bist du tot!«

Im gleichen Atemzug legte sich eine raue, kräftige Hand um seinen knochigen Nacken. Daumen und Mittelfinger umspannten den schlanken Hals zu drei Vierteln. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er zwischen den stählernen Backen eines mächtigen Schraubstocks eingespannt. Der Fremde musste gewaltige Hände haben. Berger wagte es nicht, sich zu bewegen, und blieb wie angewurzelt stehen. Dabei spürte er, wie seine Knie weich wurden. Für einen Augenblick fürchtete er, einfach kraftlos niederzusacken.

»Du hörst jetzt genau zu, was ich dir sage!«

»Kein Problem, ich zahle Ihnen, was Sie wollen. Ich mache Ihnen keine Schwierigkeiten«, stieß Berger mit brüchiger Stimme hervor.

»Maul halten! Ich rede. Du redest nur, wenn du gefragt wirst.«

»Jawohl!«, antwortete er servil, außer sich vor Angst.

Der Unbekannte drückte die Hand, die noch immer um seinen Hals lag, wie eine schwere Rohrzange zusammen.

Berger brachte nur ein Stöhnen heraus, das in ein heiseres Gurgeln überging.

»Du wirst das tun, was ich dir sage. Und zwar genau das. Sonst werde ich die Fotos deiner Frau schicken, du alter Hurenbock. Und danach werde ich mir deine Tochter vornehmen!« Er lachte diabolisch. »Sie hat genau das richtige Alter! Wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie kein Mann mehr anfassen. Und wenn ich gehe, werde ich ihr noch erzählen, dass sie das alles ihrem geilen Vater zu verdanken hat.« Wieder lachte er dröhnend.

»Ich tue alles, was Sie sagen, aber …« Berger kam nicht dazu weiterzusprechen, wieder schloss sich die Hand fest um seinen Hals.

»Sei ganz entspannt, mein Freund«, säuselte der Fremde süßlich. »Ich will doch nur ein paar Dosen Bier bei dir kaufen.«

»Ja, ja, natürlich«, stammelte Berger.

»Die Bestellung über 20.000 Dosen für meine russische Firma wird in den nächsten Tagen bei dir eingehen.«

»Kein … kein Problem«, antwortete Berger, in dem gerade die Hoffnung wuchs, es könnte sich doch alles in Wohlgefallen auflösen.

»Und weißt du was, mein Buchhalterchen, ich werde dir sogar dabei helfen, sie zu befüllen.«

Berger nickte hektisch.

»Du wirst am …« Jetzt stockte der Fremde, nestelte in seiner Jacke herum, Papier knisterte, ein Feuerzeug flammte auf. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Berger das Spiegelbild des Fremden, der ihn um mehr als einen Kopf überragte, in der Fensterscheibe vor ihm. Sein Haar war kurz, das Gesicht grob und pockennarbig. Zwischen seinen Lippen klebte eine selbstgedrehte Zigarette. Der Augenblick war lang genug, um seine Angst in rasende Panik zu verwandeln, aber zu kurz, um ihn je wiederzuerkennen.

»Du wirst in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli um 2.00 Uhr bei deiner Brauerei eine Tankladung erhalten und den Inhalt in die Bierdosen füllen, die dann am Mittwoch, dem 16.7., abgeholt werden. Verstanden?!«

»Aber ich bin nur Buchhalter. Sie müssen mich verwechseln, ich habe mit der Abfüllung nichts zu tun. Ich …«, wimmerte Berger.

Wieder lachte der Fremde gallig. »Dann hast du es eben ab jetzt!«

»Aber ich …«, begann Berger, bevor ihm die kräftige Hand förmlich die Stimme abdrückte.

»Weißt du, was das ist?«, dröhnte der Fremde und hielt ihm eine grobe Schere mit roten Griffen vors Gesicht.

»Eine … eine Gartenschere«, stotterte Berger heiser.

Der Fremde lachte. »Nicht irgendeine Gartenschere, es ist eine Felco, Schweizer Wertarbeit, die Königin der Baumscheren, ich hab sie extra für dich ausgesucht.«

Berger konnte sich kaum noch auf den Füßen halten, das nackte Entsetzen schlug ihm wie ein Stock in die Kniekehlen.

»Mit dieser schönen Felco werde ich dich jetzt zum Abfüller umschulen, mein Freund.«

»Bitte, bitte …«, flehte Berger.

»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie auch eine gute Gedächtnisstütze für Leute wie dich ist, die gerne vergessen, was man ihnen aufträgt!«

Berger brachte nur noch ein Glucksen heraus.

Der Hüne löste den Würgegriff um Bergers Nacken, nahm dessen knochige Hand und schob den kleinen Finger zwischen Klinge und Gegenklinge der Schere.

Berger versuchte, sich ihm zu entwinden, doch die muskulösen Arme seines Peinigers hatten sich wie riesige Tentakel um seinen zierlichen Körper gelegt.

»Nein!«, schrie er atemlos.

Ein Geräusch, als schnappe die scharfe Klinge durch ein dünnes Gehölz, wie es Berger kannte, wenn er den Zweig einer seiner historischen Rosenstöcke beschnitt, ertönte. Dann folgte ein stechender Schmerz an seiner linken Hand, der ihm für einen Augenblick die Besinnung raubte. Er krümmte sich, die Beine knickten endgültig unter ihm weg. Er glitt zu Boden.

Laut grölend hielt ihm der Fremde den abgetrennten Finger vors Gesicht und warf ihn dann kichernd auf einen Schutthaufen.

Berger wimmerte laut auf, seine Sinne vernebelten.

»Merk dir den 9. Juli um 2.00 Uhr. Wenn du die Bullen rufst oder sonst jemandem davon erzählst, werde ich diese Schere an den Fingerchen deiner Tochter ausprobieren. Verstanden?«

Berger brachte nur ein kraftloses Nicken zustande, zu sehr war er damit beschäftigt, mit einem Taschentuch das pulsierend aus der Wunde spritzende Blut zu stoppen.

Fortan nahm Berger alles um sich herum nur noch wie in Trance wahr. Die ausgerauchte Zigarette, die dicht an seinem Kopf vorbei auf den Bauschutt geschnippt wurde. Den unbarmherzigen Griff an seinem Kragen, der ihm die Luft abschnürte. Die Kaltblütigkeit, mit der ihn der Fremde über den mit Steinbrocken und Schutt übersäten Fußboden vor die Haustür schleifte und ihn wie einen Kartoffelsack einfach auf dem Bauch liegen ließ. Berger hörte, wie er die alte Holztür ächzend ins Schloss drückte. Zum Abschluss packte er ihn im Genick und schob sein Gesicht ruckartig so dicht an den Türgriff, als wollte er ihm daran die Nase zertrümmern.

»Schau her!«, herrschte er ihn an, steckte einen Dietrich ins Schloss und brach ihn ab.

»So, jetzt kannst du es dir sparen, nach deinem dürren Buchhalterfinger zu suchen. Bis du einen gefunden hast, der die Tür aufkriegt, haben ihn längst die Ratten gefressen. Und überleg erst gar nicht, ins Krankenhaus zu laufen. Man fragt dort zu viel. Und von deinen Antworten würde ich irgendwann hören, und dann wärst du tot. Ein Druckverband, und in zwei Tagen ist alles gut. Sei keine Memme, denk dran, ich habe ein Auge auf dich!«

In diesem Augenblick näherten sich Schritte. Ein einsamer Fußgänger kam auf sie zu. Eine unbestimmte Hoffnung keimte in Berger auf.

»Komm, Briederchen, der letzte Wodka war zu viel fier diiech«, lallte Bergers Peiniger leutselig. Er stützte ihn. Dabei legte er wieder seine Schraubzwingenhand um dessen Kehle und drückte sich Bergers Gesicht fest an die Brust, sodass ihn niemand erkennen konnte und er außerstande war, um Hilfe zu rufen.

Berger würgte. Die Schmerzen, dazu der scharfe Geruch nach Mentholtabak und das aufdringliche Rasierwasser forderten ihren Tribut.

Der Fußgänger, dem ein knurrender Pitbull an einer Leine folgte, schüttelte nur den Kopf.

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