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Essenszeit

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Freitag, 7. Juni 2019, 19.30 Uhr

Das elegant minimalistisch eingerichtete Restaurant in Mannheims Norden war fast voll besetzt.

Der Einkäufer, wie er sich neuerdings nannte, war ein hünenhafter Mann mit grobem pockennarbigem Gesicht. Er war es gewohnt, dass Menschen in seiner Gegenwart ängstlich reagierten, und er genoss es.

»Was ist das?«, herrschte er mit unverkennbar osteuropäischem Akzent den zierlichen vietnamesischen Kellner an und deutete mit dem Zeigefinger, der so breit war wie bei anderen Männern die Daumen, auf die Schale, die dampfend auf der Warmhalteplatte stand. Einige Gäste horchten erschrocken auf.

»Bò nýớng – gegrillter Rinderspieß«, antwortete der asiatische Ober kleinlaut.

»Rinderspieß? Rinderspieß – so nennst du also die Fleischkrümel an diesem Mikadostäbchen. Du hast Glück, dass ich sie überhaupt unter diesem Unkraut da gefunden habe!« Dabei griff er mit angeekeltem Gesichtsausdruck mit bloßen Fingern in die kleine Schüssel vor sich. Er nahm einige der kunstvoll um die Rindfleischstücke gewickelten La-Lot-Blätter heraus und warf sie vor dem aufgelösten Mann aufs Tischtuch.

»Entweder du bringst mir jetzt einen anständigen gegrillten Rinderspieß, oder ich steck dir das hier in deinen kleinen Vietnamesenarsch!« Dabei fuchtelte er bedrohlich mit dem Holzspieß, auf dem noch einige in Blätter gewickelte Fleischstücke steckten, vor dem Gesicht des völlig fassungslosen Kellners herum.

Von hinten eilte die Eigentümerin ihrem Mitarbeiter zu Hilfe. »Kein Problem, wir werden Ihnen einen neuen Grillspieß bringen!«, sagte sie mit erstaunlich fester Stimme und gequältem Lächeln, nahm die Schale von der Wärmeplatte und marschierte mit energischen Schritten, ihren Kellner buchstäblich vor sich her treibend, zur Küchentür.

Beschämt senkten die anderen Gäste, die dem Schauspiel aufmerksam gefolgt waren, die Blicke.

*

Zu selben Zeit saß André Sartorius an seinem Lieblingstisch nahe beim Fenster im Mediterraneo, einem Café-Restaurant mit Feinkostverkauf in der Speyerer Innenstadt. In den letzten Jahren war das Mediterraneo zu so etwas wie seinem zweiten Esszimmer geworden. Gleich, ob er hier den Tag mit Cappuccino und Cornetto begann oder sich einfach zwischendurch einen eiligen Espresso gönnte, man gab ihm stets das Gefühl, willkommen zu sein. Ganz besonders liebte er es, sich eine schöne Portion Pasta zu gönnen.

Als er heute auf der Tageskarte »Linguine mit schwarzem Trüffel und Parmesan« entdeckt hatte, reservierte er kurzerhand für sich und Irina einen Tisch. Sie war nicht mehr nur seine Mieterin. Seit er sich vor fünf Jahren hatte breitschlagen lassen, einer Abiturientin aus Speyers Partnerstadt Kursk für ein sechswöchiges Auslandspraktikum eine Bleibe in seinem Haus zur Verfügung zu stellen, hatte sich einiges getan. Als sie ein Jahr später vor seiner Tür stand und ihn bat, ihm doch ein Zimmer zu vermieten, da sie kurzfristig ein Auslandsstipendium an der Uni Mannheim erhalten hatte, stimmte er widerwillig zu, dass sie bei ihm einzog. Für ihn, den Eremiten, war es schier undenkbar gewesen, sein Haus mit einem fremden Menschen zu teilen. Nun lebten sie schon vier Jahre unter einem Dach. Aus dem Mietverhältnis für ein Zimmer mit Bad war mittlerweile so etwas wie eine Wohngemeinschaft geworden. Und aus der Mieterin so etwas wie eine Adoptivtochter.

Inzwischen war es für beide ganz normal, zusammen Konzerte oder Lesungen zu besuchen, gemeinsam zu verreisen oder, wie heute, miteinander zu schlemmen.

Doch Irina, die heute Morgen noch so begeistert auf seine Einladung reagiert hatte, hatte ihn versetzt. Weder seine Textnachrichten noch seine Anrufe nahm sie entgegen. Nach einer halben Stunde hatte er es schließlich aufgegeben und sich damit abgefunden, heute alleine speisen zu müssen.

Gerade brachte ihm Camilla, die Miteigentümerin des Mediterraneo, einen Teller dampfende, in Butter geschwenkte und mit Parmesan bestreute Linguine und stellte ihn vor ihm ab. Mit einem rasiermesserscharfen Edelstahlhobel löste sie hauchdünne Späne des schwarzen Trüffels, den sie vorsichtig über die Klinge zog.

André wedelte mit der Hand den Duft des frisch gehobelten Trüffels, der sich verführerisch mit dem feinen Butteraroma vermischte, an seine Nase. Camilla, die ihn dabei beobachtete, schmunzelte nur stumm, als sie sein verzücktes Lächeln sah. So war er eben: ein Genießer durch und durch, der es liebte, wenn man für ihn einfache Gerichte aus feinsten Zutaten zauberte. Er nippte noch einmal an seinem Ca dei Frati, einem Rosé vom Südufer des Gardasees, dann bohrte er die Gabel mit einer Drehung in die Pasta.

Just als er sie zum Mund führte, meldete sich sein Smartphone. Verdammt! Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, das Gespräch wegzudrücken, doch dann siegte sein Verantwortungsgefühl. Was, wenn ihn Irina erreichen wollte, weil sie mit einer Autopanne am Straßenrand stand?

Am anderen Ende der Leitung meldete sich Kriminalhauptkommissar Frank Achill, mit dem ihn seit einigen Jahren eine enge Freundschaft verband.

»Ich hoffe, ich störe dich nicht, André.«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete er mit einem sehnsüchtigen Blick auf die dampfende Trüffelpasta vor sich.

»Könntest du Irina bei mir im Präsidium in Ludwigshafen abholen? Ich will nicht, dass sie in ihrem Zustand noch Auto fährt.«

André spürte, wie ihm ein dumpfer Schlag durch die Eingeweide fuhr. »Zustand?«, stammelte er.

»Keine Sorge, ihr ist nichts passiert. Sie musste nur etwas mitansehen, was ihr auf den Magen geschlagen ist.«

Achill hatte noch nicht ausgesprochen, da stand André auch schon. Wie in Trance zog er zwei Banknoten aus dem Portemonnaie und ließ sie neben seinem Pastateller auf den Tisch segeln. Unter Camillas völlig verdutztem Blick verließ er grußlos das Restaurant.

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