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Wochenende
ОглавлениеSamstag, 6. Juli 2019, 8.35 Uhr
»Sunny – Sunny, komm endlich rein! Es gibt dein Lieblingsfutter. Wo steckst du denn?«, flötete Karin Berger durch die offene Terrassentür.
Sie hatte schon zweimal nach dem rot getigerten Kater gerufen. Nichts. Sonst war sein Katzenmagen zuverlässiger als jede Armbanduhr. Täglich, kurz vor 8.00 Uhr, der üblichen Fütterungszeit, saß er auf der Terrasse und starrte vorwurfsvoll auf den Futternapf.
Karin Berger trat barfuß vor die Tür zum Garten ihres schmucken, aufwendig sanierten Einfamilienhauses im Schwetzinger Stadtteil Hirschacker. Sie stand unter der aufgespannten Markise und ließ ihren Blick über den vor kurzem verlegten Rollrasen gleiten, der mit seinem unnatürlich satten Grün wie frisch lackiert wirkte. Sie schlenderte einige Schritte in Richtung des neuen Pools. Das Wasser darin schimmerte im morgendlich goldenen Sonnenlicht in einem antiseptisch anmutenden intensiven Hellblau. Hinter dem Becken begrenzte ein hoher blickdichter Holzzaun das Grundstück zu dem von einem etwa 100 Meter breiten Wäldchen gesäumten Bahndamm.
»Sunny, komm endlich, du alter Stromer!«, rief sie mit süßlich quäkender Stimme.
Sie spürte etwas klebrig Feuchtes an ihrer Fußsohle, das ein Störgefühl bei ihr hinterließ. Komisch, der Rasen wurde doch spät am Abend, so gegen 23.00 Uhr, gewässert. Warum war er noch nicht abgetrocknet? Sie hasste jedwede Art von Schmutz an ihrem Körper und setzte den kleinen Kontrollgang auf der mit weißen Kalksteinplatten eingefassten Poolumrandung fort. Nach ein paar Tritten verharrte sie. Sie hatte das Gefühl, an den Platten kleben zu bleiben, und senkte den Blick zum Boden.
»Aua!«, stöhnte sie reflexartig auf. Doch sie fühlte keinen Schmerz. Aber wieso dann die blutigen Abdrücke auf den hellen Steinfliesen? Sie nahm auf dem Beckenrand Platz und inspizierte ihren Fuß. Tatsächlich, auf dem Ballen befand sich ein ausgebleichter schwärzlich roter Blutfleck. Sie wischte darüber. Das Blut war schon geronnen und ließ sich nur schwer entfernen. Die Haut darunter war unversehrt. Ekel flammte in ihr auf. Sie stand auf und wollte zum Haus eilen, um sich Hände und Füße abzuwaschen.
Dabei sprang ihr ein merkwürdiges Bündel ins Auge, das vor dem großen Oleandertopf, der als Sichtschutz vor der Terrasse thronte, im Rasen lag.
Was war das nur? Rötlich braune Fellwürste, mit einem Geschenkband gebündelt? Als sie näher kam, spürte sie wieder etwas Klebriges an der Fußsohle, und zeitgleich erkannte sie, dass es Blut war, das die Enden der Fellwürste dunkelrot färbte.
Mit einem Mal traf sie die grausige Erkenntnis, was da zu ihren Füßen lag.
»Sunny«, presste sie entsetzt hervor.
*
Eigentlich hätte es ein schöner Tag werden können. André hatte sich freigenommen; seine beiden Führungen hatte er einem Kollegen übertragen. Seit Langem wieder einmal wollte er sich einen ganzen Tag Irina widmen. Sie hatten heute ihren vierten Jahrestag. Aber was bedeutete es schon, dass sie auf den Tag genau vor vier Jahren bei ihm eingezogen war. An Tagen wie diesem wurde er sich immer wieder schmerzlich bewusst, dass sie nur seine Mieterin war. Sie war weder seine Adoptivtochter, wie er im Scherz immer gerne behauptete, noch gab es ein sonstiges Band zwischen ihnen, das sie zusammenhielt. Sie konnte einfach ausziehen, wenn sie wollte. Dazu brauchte es keinen besonderen Grund. Das Ende des Studiums, das unweigerlich näherkam, eine Beziehung oder der bloße Wunsch, sich zu verändern, reichte aus.
Was er in den ersten gemeinsamen Monaten noch als Trost empfunden hatte, nämlich die Sicherheit, dass er irgendwann wieder seine Ruhe haben würde, war über die Jahre hinweg förmlich zur Bedrohung herangereift. Was würde er tun, wenn er sich nicht mehr um sie sorgen könnte, wenn sein Haus nicht mehr von ihrer Musik oder ihrem Lachen erfüllt wurde?
Zu wenig hatten sie sich die letzten Wochen gesehen. Immer häufiger fiel der Name Quirin. Gestern Abend hatte der so etwas wie einen Antrittsbesuch bei ihm absolviert. Bestimmt hatte Irina ihm gegenüber darauf bestanden. In einer konservativen russischen Familie gehörte es wahrscheinlich zum guten Ton, einen neuen Freund den Eltern vorzustellen. Es war für alle Beteiligten höchst seltsam gewesen. Ein fremder Junge, der unter Irinas strengem Blick artig bei ihm seine Aufwartung machte. Was sollte das? Wollte sie etwa Andrés Segen? Und wenn ja, würde sie dann etwa zu diesem Typen ziehen?
»Grias di, André, i bin da Quirl«, waren seine ersten Worte gewesen. Schon hatte er in Andrés Augen verloren. Er mochte es nicht, wenn ihn Fremde beim ersten Kontakt gleich duzten. Für eine solche Vertraulichkeit bedurfte es einer längeren Phase der Annäherung und der gegenseitigen Zuneigung. Im Übrigen stand es dem Jüngeren nicht zu, diesen ersten Schritt einfach so zu machen.
Als Quirin ihm dann noch erzählt hatte, dass er im Herbst ein Studium an der Uni in München beginnen wolle, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Deshalb hatte Irina vor ein paar Tagen auf den Seiten der Ludwig-Maximilians-Universität herumgesurft. André war sich sicher, dass auch sie beabsichtigte, ihren Studienort zu wechseln. Schon in ein paar Wochen würde sie das Mietverhältnis zu ihm aufkündigen und ihn verlassen, um Quirin nach München zu begleiten. Und dann war da noch das Telefonat von heute Morgen. Sie war ungewohnt albern, kicherte, ständig hörte er nur dieses »Quirl, Quirl, Quirl«, wie sie ihn scherzhaft nannte. Dann diese blöden Scherze auf Andrés Kosten. Wie hatte sie ihn doch gleich tituliert: »Mein alter Mann-vor-Ort«. Wie vertraut sie mit ihm umging. Dieses dämliche »Pfiat di, Bussi« zum Abschied ging ihm nicht aus dem Kopf.
All dies hatte André in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Er fühlte sich hintergangen, zurückgelassen und nicht ernst genommen. Und das nach allem, was sie schon gemeinsam erlebt hatten. Die negativen Emotionen legten sich wie eine schwere, nasse Decke über ihn und zwangen ihm trotz des warmen Wetters eine innere Kälte auf. Er verlor sich in trüben Gedanken, seine Glieder waren bleiern, jegliche Aktivität und aller Tatendrang waren aus ihm gewichen.
»Mach schon, der Zug wird nicht auf uns warten«, flötete sie von unten zu ihm in sein Zimmer. Noch immer stand er unschlüssig vorm Kleiderschrank. Er wollte etwas anziehen, was ihn jugendlich und elegant zugleich erscheinen ließ. Ihn übermannte die Peinlichkeit, sich eingestehen zu müssen, dass er mit diesem vor Kraft und Elan nur so strotzenden Naturburschen konkurrieren wollte.
*
Kurz darauf standen sie auf dem Bahnsteig des Speyerer Hauptbahnhofs.
Auch das noch. Er hatte sich mit der Abfahrtszeit auf der Bahn-App vertan und nicht berücksichtigt, dass am Samstag die Züge in einer sparsameren Taktung fuhren als unter der Woche. Nun mussten sie sich hier 20 Minuten um die Ohren schlagen und herumtrödeln, bis der Zug Richtung Mannheim endlich abfuhr. Die Überraschung für sie – nämlich eine eigens für sie beide organisierte Privatführung durch die Ausstellung im Gebäude des Kunstvereins auf der Mannheimer Augustaanlage – würden sie wohl versäumen. Der Zorn darüber, dass er es verpatzt hatte, kroch wie ein bösartiger Lindwurm durch seinen Magen.
*
»Mach schon, alter Mann!«, feuerte sie ihn an, als sie die Mitte der Augustaanlage erreicht hatten. Im Zug hatte er ihr von der geplanten Führung erzählt. Sie hatte sich tatsächlich gefreut und ihn ermuntert, ein Taxi zu nehmen, um es doch noch zu schaffen. Aber es war wie verhext. Wo rechts, wenn man aus dem Bahnhof trat, sonst gut 20 Taxis in mehreren Reihen standen, war heute kein einziges gewesen. Also waren sie losgelaufen. Sie hatte ihn angetrieben, und er war wie ein Hündchen hinter ihr her gelaufen. Er war mit den eleganten Lederschuhen nicht schnell genug, um mit ihr Schritt zu halten.
Als sie beim Kunstverein ankamen, der fast am Ende der etwa einen Kilometer langen Augustaanlage lag, war er verschwitzt und völlig ausgepumpt. Ihr Privatführer war längst gegangen, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als auf eigene Faust durch die Ausstellungsräume zu schlendern.
Während Irina unbefangen von Bild zu Bild schlenderte und es sich nicht nehmen ließ, André gegenüber, jedes einzelne Exponat zu kommentieren, war er in sich gekehrt und schwieg.
»Oh Mann! Du wirkst so dynamisch wie eine Schildkröte. Soll ich dir die Namen der Bilder vortanzen, dass du reagierst, oder geht es dir nicht gut?«
»Nein, alles okay, ich ärgere mich nur, dass das mit der Führung nicht geklappt hat.«
»Typisch, wenn was nicht nach Plan geht, bist du gleich eingeschnappt. Wir können uns doch die Ausstellung auch so ansehen, und in diesem Katalog hier kann man das, was der Führer gesagt hätte, einfach nachlesen. Hör endlich auf zu schmollen. Das mag ich gar nicht an dir.«
Sie hatte ja recht. Er war ein sturer Pedant, der es nicht ertrug, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen ablief. Wahrscheinlich hätte sie jetzt lieber den lustigen Quirin an ihrer Seite – besser als einen Grübler wie ihn.
*
45 Minuten später standen sie wieder vor dem Flachbau des Kunstvereins. Ihren Besuch hatten sie zunehmend schweigend hinter sich gebracht. Mehrfach hatte sie versucht, ihn aufzumuntern.
Aber er hatte sich beharrlich dem Missmut hingegeben.
»Und nun?«, fragte sie genervt. »Ich hab Hunger wie ein Bär.«
»Wir können ja essen gehen«, erwiderte er kleinlaut.
»Wie wär’s mit dem Dolceamaro am Wasserturm?«, antwortete sie schnell. So als fürchtete sie, er würde sein Angebot zurückziehen.
»Wenn du willst«, gab er einsilbig zurück.
»Schau, und einen fahrbaren Untersatz haben wir auch gleich hier.« Dabei deutete sie auf zwei jener Elektroroller, die neuerdings das Stadtbild Mannheims an jeder Ecke zierten.
»Was willst du damit? Du weißt doch gar nicht, wem die gehören.«
Irina stöhnte nur. »Mann, bist du wieder retro. Liest du keine Zeitung? Kaum nimmt man dich in eine größere Stadt mit, bist du hilflos wie ein Kleinkind.«
Das saß. Sonst hätte André sich über Irinas Spitzzüngigkeit insgeheim amüsiert, heute tat sie ihm weh.
»Entschuldigung, dass ich mich nicht für Kinderspielzeug interessiere. Ich bin bereits etwas aus dem Rolleralter rausgewachsen.«
»Roller«, sagte sie kopfschüttelnd. »Schon mal was von E-Scootern gehört?«
»Nein, brauch ich auch nicht. Mein Fahrrad reicht mir.«
»Aha, und wo ist dein Fahrrad?«
»Was soll die blöde Frage?«
Ohne auf seine mürrische Erwiderung einzugehen, zückte sie ihr Smartphone und machte sich daran zu schaffen.
»Voilà, du hast eine Einladung für 15 Minuten kostenloses Rollerfahren!«
»Rollerfahren? Hier? Jetzt? Ich? Du spinnst wohl.«
»Alter Mann, sei kein Saurier, gib schon dein Smartphone her!«
Dabei riss sie ihm sein Handy aus der Hand und begann, darauf herumzuwischen.
»Was tust du da?«
»Na, die E-Scooter-App herunterladen.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mit diesem Kinderding fahre?«
»Komm schon, tu’s für mich. Mit Quirin bin ich diese Woche auch schon gefahren.«
»Das passt ja auch zu diesem Jüngling.«
»Und was passt zu dir? Wäre dir ein Rollator lieber?«
Das saß schon wieder tief. André spürte, dass seine Wangen glühten.
»Na dann, wenn dieser Naturbursche das hinkriegt, werde ich es wohl auch schaffen.«
Für einen Augenblick wusste André nicht, wen er mehr mit dieser spontanen Äußerung überraschte – Irina oder sich selbst?
»Wow, du machst es wirklich?« Sie strahlte und hauchte ihm einen kameradschaftlichen Kuss auf die Backe.
»Aber nur, weil du mich so charmant darum gebeten hast«, sagte er und grinste schief.
Irina installierte die App, registrierte ihn mit seiner Kreditkartennummer, die er ihr ohne Widerrede diktierte, und scannte den QR-Code auf dem Lenker des Rollers mit seinem Smartphone ein. Nun konnte es losgehen.
Jetzt nur nicht zögern, dir nur keine Blöße geben, dachte André, nahm den Scooter und klappte den Ständer ein.
Er schwang sich mit einem Bein auf das Trittbrett und stieß sich mit dem anderen kraftvoll ab. Wie schwerfällig dieses Gefährt doch war. Er erhöhte die Abstoßfrequenz und legte mehr Kraft in die Trittbewegungen. Trotzdem schien das unhandliche Fahrzeug nicht recht in Fahrt zu kommen. Während er noch innerlich fluchend den Fuß in das Pflaster des Bürgersteigs stemmte, schlängelte sich Irina elegant mit beiden Füßen auf dem Trittbrett an ihm vorbei.
»Gas geben nicht vergessen!«, rief sie zu ihm herüber.
»Wie? Wo?«, fragte er irritiert.
Irina fuhr eine Schleife und kam neben ihm zum Stehen.
»Na hier, der Hebel am Lenkrad.« Dabei schüttelte sie den Kopf. »Männer und Technik.«
André spürte, wie ihm der Schweiß über die Stirn rann. Er hasste es, wenn er die Situation nicht unter Kontrolle hatte und im Begriff war, sich lächerlich zu machen. Was hatte ihn nur geritten, sich auf das hier einzulassen? Er nahm erneut kräftig Schwung und riss mit dem Daumen am Gashebel. Der Scooter machte einen Satz nach vorne, nur mit Mühe konnte er das Gleichgewicht halten.
Irina lachte. »Wow, der alte Mann beim E-Scooter-Rodeo.«
Ihm war nicht nach Scherzen zumute. Ängstlich, sich noch einmal zu blamieren, steuerte es das Gerät mit mittlerer Geschwindigkeit auf dem breiten Bürgersteig in Richtung des historischen Wasserturms, dem Wahrzeichen Mannheims.
Irina schloss zu ihm auf und beobachtete ihn lauernd.
»Du hast eine Haltung wie ein Koala. Entspann dich mal!«
André schüttelte den Kopf. »Entspannen, was für eine dämliche Idee.«
Er war froh, nicht die Balance zu verlieren. Jeder uneben verlegte Pflasterstein auf dem Gehweg, jede Bodenwelle und erst recht jeder Bordstein boten das Risiko eines schweren Sturzes. Er hatte weder Helm noch sonstige Schutzausrüstung. Es entsprach ganz und gar nicht seinen Prinzipien, seine Gesundheit für ein solch unnötiges Unterfangen aufs Spiel zu setzen.
»Übrigens, wir sind hier nicht in England. Wir haben hier keinen Linksverkehr, und auf dem Bürgersteig darf man mit E-Scootern auch nicht fahren. Bei der nächsten Kreuzung wechseln wir auf die rechte Fahrspur«, rief ihm Irina hektisch hinterher, während er nochmals beschleunigte.
Sie sollte ruhig sehen, dass er diesem albernen Gefährt gewachsen war. Er war doch nicht so dämlich, auf der vierspurigen Augustaanlage, auf der nicht selten die Autos mit 70 entlang brausten, auf einen der Fahrstreifen zu wechseln. Schließlich war das Trottoir breit genug, um den Fußgängern ausweichen zu können. Sein Sakko flatterte im Fahrtwind. Vibrationen drangen ihm durch Mark und Bein. Das schlecht gefederte Vehikel übertrug jede Unebenheit des Pflasters auf seinen Körper.
Vorsichtig ließ er den Gashebel angesichts der nahenden Ampelkreuzung los. Verdammt, ausgerechnet jetzt schaltete die Ampel auf Rot. Reflexartig stemmte er den Absatz des linken Fußes in den Boden, um zu bremsen. Scharrend glitt er über den rauen Belag, bis er endlich zum Stehen kam.
»Wow, du fährst ganz schön auf Verschleiß. Noch so eine Vollbremsung, und die Socken kommen durch. Die Handbremse benutzen, kann helfen!«, feixte Irina, die neben ihm lässig elegant zum Stehen gekommen war.
Er wollte etwas erwidern, als ihn eine knarzige Männerstimme hinter ihm unterbrach.
»So unsicher, wie Sie wirken, sollten Sie sich vom öffentlichen Verkehrsraum fernhalten. Gehen Sie das besser noch irgendwo üben. Das ist auch nicht so kostspielig. Denn für das Fahren auf dem Bürgersteig muss ich Ihnen leider ein Bußgeld von 15 Euro berechnen.«
André schaute sich um. Wo, um alles in der Welt, kamen die zwei Polizisten her? Und was war das überhaupt für ein beleidigender Unterton?
Auch das noch, dachte er, warum musste heute alles, was er anpackte, schiefgehen.
»Papiere!«, raunzte der andere, deutlich jüngere Ordnungshüter. »Sie sollten noch mal darüber nachdenken, ob das wirklich das richtige Verkehrsmittel für Sie ist – in Ihrem Alter.«
Das war zu viel. Andrés Kopf lief puterrot an. Nur mit Mühe konnte er eine Schimpftirade unterdrücken. Wortlos zog er sein Portemonnaie, fischte den Ausweis und drei Zehn-Euro-Noten heraus und reichte sie dem Beamten. »Die junge Dame ist eingeladen«, sagte er mit einem Friedhofslächeln. »Und wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir jetzt gerne unsere Fahrt fortsetzen.«
»Aber nicht auf dem Bürgersteig!«, fuhr ihn der Uniformierte an und gab ihm den Personalausweis zurück.
Artig schoben er und Irina ihre Scooter auf die rechte Fahrspur. Hinter sich hörte er, wie die Polizisten lachten. Diese Wegelagerer hatten wohl nichts Besseres zu tun, als harmlose Rollerfahrer auszunehmen und auch noch Witze darüber zu machen. Was für grobe Lackaffen, dachte André. Er spürte, wie sich tiefer Zorn wie ein bissiges Tier in seinen Eingeweiden festkrallte. Selten war er so gemaßregelt worden, und das ausgerechnet heute, im Beisein von Irina. Er hasste sich dafür, dass er sich hatte breitschlagen lassen, auf dieses alberne Spielzeug zu steigen. Den zwei Schmalspurbullen hätte er am liebsten eine verbale Abreibung und ein Disziplinarverfahren wegen ungebührlichen Verhaltens verpasst. Dafür zahlte man Steuern, um Leute zu finanzieren, die einen beleidigten.
Trotz stieg in ihm auf. Er drückte den kleinen Gashebel am Lenker auf die Maximalstellung. Er wollte nur noch das Dolceamaro erreichen und das kindische Ding loswerden.
Als ein Auto vor ihm scharf bremste, legte er wieder eine Sohlenbremsung hin. Irina schrie »Handbremse benutzen!«, und schüttelte einmal mehr den Kopf.
Endlich waren sie angekommen. Nun hieß es nur noch, einen geeigneten Stellplatz für die beiden Roller zu finden, auf dem man nicht den Bürgersteig verstellte, und er würde seine Ruhe haben. Irina war ein paar Schritte vorausgegangen, um am hinteren Ende der Außenbestuhlung unter den Arkaden einen passenden Abstellplatz zu suchen. André wartete, weil er keine Lust hatte, das Gefährt durch die rechts und links des Gehwegs stehenden Bistrotische zu schieben.
Er starrte Irina nach. Warum war sie zwischen den Tischen plötzlich stehen geblieben? Sie wendete und kam zu ihm zurück. Sie quetschte sich eng neben ihn. Auf ihrem Hals zeichneten sich rote Flecken ab. Außer Atem flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich hab dir doch die Sache mit dem Finger auf der Parkinsel erzählt. Ich glaube, da vorne sitzt der Eigentümer. Er hat einen komischen Verband, aber man sieht, dass der kleine Finger fehlt.«
»Ach was«, brummte André missmutig. »Es gibt bestimmt noch mehr Menschen mit so einer Verletzung.«
»Schon, aber ausgerechnet einen Asiaten?«
Jetzt fiel André wieder ein, dass Achill ihnen berichtet hatte, dass der gefundene Finger zu einem Asiaten gehört hatte.
»André, du musst was tun! Frank sucht doch überall nach diesem Typen.«
»Was soll ich denn tun? Ich kann ihn wohl schlecht verhören.«
»Schau, er winkt nach der Bedienung. Wenn wir ihn nicht aufhalten, ist er gleich weg.«
»Ich rufe Frank an. Du verwickelst ihn in ein Gespräch. Los, mach schon!«, drängte ihn Irina.
»Wie stellst du dir das vor?«, murrte André. Doch Irina hatte das Handy bereits am Ohr und telefonierte.
Die Kellnerin näherte sich dem Tisch des Gastes und begann, ihm die auf ihrem Bestellterminal aufgelisteten Speisen und Getränke vorzubeten. Er fischte umständlich sein Portemonnaie mit der unversehrten linken Hand aus der Gesäßtasche und schickte sich an zu bezahlen. Irina hatte recht. Würde er nichts unternehmen, wäre dieser Typ in wenigen Augenblicken verschwunden. Die Bedienung nahm ein paar Scheine von ihm entgegen, dankte ihm und zog davon. André schob den Roller durch den Durchgang zwischen den Tischen zum Platz des Asiaten. Unschlüssig blieb er stehen. Es war, wie Irina es beschrieben hatte. Da, wo der kleine Finger hätte sein müssen, schmückte ein klobiger, unprofessionell angebrachter Verband dessen rechte Hand. Noch hatte ihn der schmächtige, etwa 40 Jahre alte Mann nicht bemerkt. Zu sehr war er damit beschäftigt, unbeholfen mit der Linken den Geldbeutel wieder in der Gesäßtasche zu verstauen.
»Entschuldigung, äh, können Sie mir sagen, wo hier das Reiß-Engelhorn-Museum ist?«, setzte André holprig an, ohne die Hand des Asiaten aus den Augen zu lassen.
Sein Gegenüber sah überrascht zu ihm auf. »Wie bitte?«, fragte er in nahezu akzentfreiem Deutsch.
Jetzt schien er zu bemerken, dass André auf die Stelle mit dem Verband starrte. Er zögerte, schaute erschreckt in Andrés Gesicht. Mit einem Ruck erhob er sich und stieß krachend den Stuhl neben sich um. Er verpasste André einen Stoß, sodass er gegen den Nachbartisch taumelte, dort vergeblich Halt suchte und zu Boden ging. Zwei ältere Damen schrien schrill auf, als sich der Aperol Sprizz über ihre Kleider ergoss.
Für einen Augenblick war André desorientiert. Er hatte im Fallen die Brille verloren. Nur mühsam kam er zwischen dem Bistrotisch und dem Roller, der auf ihn gekippt war, auf die Beine. Mit zusammengekniffenen Augen sah er gerade noch, wie der Asiate ein Mountainbike schnappte und sich auf den Sattel schwang. Behände schlängelte er sich durch das Chaos aus abgestellten Fahrrädern, Parkscheinautomaten, Schildermasten und parkenden Autos auf die Busspur.
André spürte unbändigen Zorn in sich aufsteigen. Was fiel diesem Typen nur ein, ihn einfach umzustoßen und ihn vor den kompletten Bistrobesuchern derart bloßzustellen. Er sah rot. Das Limit des Erträglichen war für heute endgültig überschritten.
»So nicht, Freundchen!«, schrie er zornig mit verbissenem Gesicht. Er ergriff seinen Roller. Ohne zu zögern, holte er Schwung und nahm die Verfolgung auf. In einer halsbrecherisch engen Kurve zirkelte er um die Ecke, zerrte den Scooter über den Bordstein. Er streifte den Parkscheinautomaten und riss mit dem Ellbogen beinahe den Seitenspiegel eines Cabriolets ab. Eine Reihe Fahrräder kippte wie aufgestellte Dominosteine zur Seite. Mit vor Anstrengung und Wut geröteten Wangen schaffte er es, sich mit dem Roller auf der Fahrbahn hinter den Asiaten zu bringen. Im Zornesrausch verdrängte er alles um sich herum. Irina schaute ihm verwundert und überfordert hinterher. Was tat er da nur? Was für ein Chaos hatte er im Dolceamaro hinterlassen? Die Kellnerin tobte und forderte ihn auf zurückzukommen.
Doch er hatte nur noch eines im Sinn. Er wollte diesen merkwürdigen Grobian einholen. Es war zu seiner privaten Mission geworden, der er alles unterordnete. Mit weit ausholenden Fußschwüngen versuchte er, dem Gefährt unter sich mehr Fahrt zu geben und trieb es an wie ein stures Maultier.
Ein Pkw hatte sich vor den Flüchtigen gesetzt und ihn zum Abbremsen gezwungen. Nur drei Fahrradlängen lagen noch zwischen ihnen. Der Asiate trat mit aller Kraft in die Pedale, um wieder Fahrt aufzunehmen. André drückte den kleinen Gashebel, der sich bedenklich unter dem Daumen bog, in die Maximalstellung. Er würde heute nicht noch einmal der belächelte Verlierer sein. Er würde diesen Rüpel stellen, koste es, was es wolle.
Schnell hatten sie gut 50 Meter zurückgelegt. Rechts neben ihnen lag bereits das Kongresszentrum Rosengarten mit der roten Sandsteinfassade. Davor staute sich der Verkehr. Ein Taxifahrer half umständlich einem älteren Fahrgast aus dem Wagen. Der Asiate bremste scharf ab. Zu spät, er riss den Lenker herum und wendete stark schwankend. André erging es nicht besser. Entschlossen stemmte er den Fuß in den Asphalt, um nicht in das Heck des Taxis zu prallen. Er spürte, wie der raue Straßenbelag unter seinen Sohlen entlangschabte und ihm den Absatz vom Schuh hobelte. Er kam zum Stehen, stolperte und zerrte den Scooter in die Gegenrichtung.
Die zweispurige Ringstraße, die um den Wasserturm und die ihn umgebende Parkanlage verlief, war eine Einbahnstraße. Zu Andrés Entsetzen befuhr der Flüchtige die hochfrequentierte Straße nun in entgegengesetzter Richtung.
»Verdammt«, stöhnte André. Bei dem gewagten Wendemanöver musste ein hinter ihm fahrendes Auto scharf bremsen.
Wieder vergrößerte sich die Distanz zwischen ihnen. Auf lange Sicht würde André das ungleiche Rennen verlieren. Während der Roller bei 25 Stundenkilometern abgeregelt war, kam man mit einem Rad auf freier Strecke deutlich schneller voran.
Glücklicherweise war die Straße alles andere als frei. Wie auf eine Perlenschnur gereiht kam ihnen Auto um Auto in dichter Folge entgegen. Eng quetschten sie sich am Fahrbahnrand an hupenden Autos und ihren fluchenden Fahrern vorbei. Wenigstens für den Moment gab es für den Asiaten vor ihm kein Entrinnen. Links fuhren die Autos, und rechts war der Bürgersteig durch eine Kette abgegrenzt. Abzubremsen, abzusteigen und das Rad darüber zu wuchten, würde viel zu lange dauern und André die Chance geben, ihn zu ergreifen.
Gerade bremste der Flüchtige vor ihm mit quietschenden Reifen. Ein wuchtiges SUV kam, ohne Anstalten zu machen auszuweichen, auf ihn zu. André schloss auf. Der Abstand war erneut auf wenige Meter geschrumpft. Für einen Augenblick keimte in ihm die Hoffnung auf, ihn stellen zu können. Ein entschlossener Griff in den Pulloverrücken, und er würde ihn vom Rad zerren. Er versuchte, alles aus dem Roller herauszuholen. Obwohl er den Gashebel in Maximalstellung gedrückt hielt, holte er zusätzlich mit dem Fuß Schwung, auch wenn ihm das jedes Mal Stabilität raubte, und er drohte, das Gleichgewicht zu verlieren.
Sie erreichten den Scheitelpunkt der Ringstraße, dort, wo die vierspurige Augustaanlage auf den Friedrichsplatz stieß. Die Straße verengte sich. Am Fußgängerübergang vor ihnen endete die Begrenzungskette. Hier war einer der Hauptzugänge zum Park, der deutlich tiefer als das Straßenniveau den Wasserturm umgab.
Unvermittelt stoppte der Asiate, sprang vom Rad und schnappte nach dem Lenker des Rollers, den er mit einem Ruck querstellte. André war völlig überrascht und konnte der Aktion seines Kontrahenten nichts entgegensetzen. Den Gesetzen der Schwerkraft folgend kippte der Roller in voller Fahrt vornüber und riss André mit sich aufs Pflaster.
Er fing sich mit den Händen ab, bevor es ihn auf den Asphalt riss. Der ihm entgegenkommende Kleinbus bremste scharf. Der ihm nachfolgende Pkw fuhr, begleitet von lautem Hupen, auf. André spürte, wie seine Knochen und Sehnen in den Armen überdehnt wurden. Völlig unter Schock, noch immer von der fixen Idee besessen, den Flüchtenden zu fassen, rappelte er sich auf. Auch dem Asiaten war es nicht besser ergangen. Beim Versuch, sich wieder aufs Rad zu schwingen, kam er ins Schlingern und stürzte ebenfalls. Andrés Gehirn hatte alles um ihn herum ausgeblendet. Selbst die stark blutenden Handflächen, mit denen er den Sturz auf der rauen Straßendecke aufgefangen hatte, schien er nicht zu bemerken. Ohne zu realisieren, dass das Vorderrad des Rollers grotesk deformiert abstand, zog er das marode Gefährt mit sich und folgte dem Flüchtigen.
Dieser war erneut aufs Fahrrad gesprungen und strebte dem Treppenabgang zum Park entgegen. Ohne zu zögern, trat er in die Pedale und fuhr kurzerhand über die flachen Treppenstufen nach unten. André folgte ihm noch ein paar Schritte bis zum Ende der neben dem Abgang terrassenförmig in den Park gebauten Plattform. Rasend vor Zorn über die Boshaftigkeit, mit der ihn der Fremde vom Roller geholt hatte, schleppte er seinen geschundenen Körper bis ans Geländer der Terrasse. Er hatte verloren. Zum wiederholten Mal hatte er heute den Kürzeren gezogen. Unmöglich würde er mit dem havarierten E-Scooter oder laufend diesem Typen hinterherkommen. Der hatte in halsbrecherischem Tempo den Fuß der Treppe erreicht. Doch als er zu früh den Lenker des Rads nach links riss, stürzte er erneut. André starrte wie gebannt auf ihn, wie er sich direkt unter ihm aufrappelte. In einem verzweifelten Affekt stemmte er mit seinen ramponierten Armen den Roller hoch und warf ihn kurzerhand über die Balustrade nach unten.