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Wunden lecken
ОглавлениеSamstag, 6. Juli 2019, 13.35 Uhr
André war ganz schummerig zumute. Eine Hand umklammerte grob seinen lädierten Oberarm und ließ ihn laut aufstöhnen.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, herrschte ihn eine knarzige Männerstimme an. Wie in Zeitlupe drehte er den Kopf, sein Nacken schmerzte, hinter ihm erkannte er den älteren der beiden Polizisten von vorhin.
»Den, den da unten müssen Sie verhaften!«, stöhnte er kraftlos. Dem Asiaten schien es nicht viel besser zu gehen als ihm. Er kauerte noch immer auf dem Boden. Neben ihm kniete der andere der beiden Beamten.
André versuchte halbherzig, sich dem Griff des Uniformierten zu entwinden.
»Freundchen, du bleibst schön hier. Ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, ob du getrunken oder gekifft hast oder einfach nur bescheuert bist, aber eines verspreche ich dir: Dieser Tag wird für dich in einer Zelle enden.«
André schwieg. Er war noch zu benommen, um die völlig chaotische Situation zu überblicken. Auf der Straße hatte sich der Verkehr gestaut. Eine Traube von Gaffern umringte ihn und seinen Bewacher. Er sah, wie das Blut seiner aufgeschürften Handflächen auf den staubigen Boden tropfte. In der Ferne, aus Richtung des Hauptbahnhofs, hörte er ein Martinshorn. Das Letzte, was er wahrnahm, war ein Schwindelgefühl, das ihn in sich zusammensacken ließ.
*
»Keine Sorge, Ihrem Bekannten geht es soweit gut, es war nur ein kurzes Kreislaufversagen«, hörte er wie im Traum etwa 15 Minuten später eine Stimme neben sich sagen. Er lag auf dem Rücken, die Hände ertasteten Stoff unter sich. »Alles okay, ich bin da«, säuselte Irina in einem merkwürdig nachsichtigen Ton, als spräche sie mit einem Kleinkind. Gleichzeitig spürte er ein aufmunterndes Schulterklopfen.
Zögerlich, noch etwas betäubt, schlug er die Augen auf und wandte den Kopf in die Richtung, aus der er ihre Stimme vernommen hatte. »Wo bin ich?«, krächzte er.
Dabei musterte er verwirrt das in nüchternem Weiß gehaltene Mobiliar mit allerlei Schubladen und Staufächern um sich herum.
»Du liegst in einem Krankenwagen, hier in der Nähe vom Wasserturm.«
Sofort machte sich Anspannung in ihm breit. »Und wo … wo ist dieser Kerl ohne Finger?«
»Die Krankenwagenbesatzung kümmert sich gerade um ihn.«
»Ist er … ich meine … lebt er?«
Irina lachte. »Außer, dass er von Rad gestürzt ist und dann ein Problem mit einem tief fliegenden Roller hatte, saß er schon wieder aufrecht, als ich ihn vor fünf Minuten gesehen habe.«
»Ihr müsst ihn … Hörst du, ihr müsst ihn festhalten, bis Frank kommt«, stammelte André hektisch und versuchte, sich zu erheben.
»Keine Sorge, vorhin stand einer der beiden Polizisten beim ihm.« Irina legte eine Hand auf seine Schulter und drückte ihn auf die Pritsche zurück.
»Du wirst hier brav liegenbleiben, der Sanitäter meinte, du musst in die Klinik zum Röntgen. Du hast dir wohl einige Knochen verstaucht, oder was auch immer.«
André bewegte jedes seiner geschundenen Glieder vorsichtig, als würde er einen systematischen Selbstcheck durchführen. Phasenweise verzog er dabei schmerzerfüllt das Gesicht.
»Schon gut, nichts Ernstes«, kommentierte er das Ergebnis.
»Na ja, deine Hände sahen jedenfalls aus wie Spaghetti Napoli«, erwiderte Irina grinsend.
»Wie Spaghetti was?«, fragte er verwirrt.
»Na, so, als hättest du damit Tomatensoße gerührt.«
»Was?«, fragte André noch immer benommen.
»Um es für dich verständlicher auszudrücken, alter Mann: Die Abriebfestigkeit deiner Haut war wohl dem rauen Asphalt nicht gewachsen. Im Klartext, du hast hier alles vollgeblutet. Hier sieht’s aus wie auf dem Mannheimer Schlachthof.«
Erst jetzt schien André wahrzunehmen, dass seine Hände in dicke Verbände verpackt waren, die wie überdimensionierte Fäustlinge anmuteten.
»Ach was, das sind doch nur Kratzer«, entgegnete er. Beim Versuch, die Finger zu bewegen, entglitten ihm die Züge.
»Trotzdem werde ich mich nicht in irgendein Krankenhaus verfrachten lassen, wo sie mich womöglich Tage wegsperren. Zum Arzt kann ich auch in Speyer gehen«, brummte er störrisch und erhob sich mit einer schmerzverzerrten Grimasse.
Irina wusste, dass es sinnlos war, ihn am Aufstehen zu hindern. Sie hatte mehr als einmal die Erfahrung gemacht, dass es hoffnungslos war, gegen seine Sturheit anzukämpfen. Er würde selbst schnell merken, wie ramponiert sein ganzer Körper war.
»Bleiben Sie bitte unbedingt liegen!«, rief ein Sanitäter, der sich gerade durch die Menschentraube drängte, die sich mittlerweile rund um die Unfallstelle gebildet hatte.
Ungerührt schob sich André von der Pritsche und stellte sich mit einem leisen Stöhnen auf die Füße.
»André, nein!«
Unwirsch, wie ein halsstarriger Junge, schüttelte er den Kopf und wandte sich Richtung Seitentür. Wackelig suchte er mit den verbundenen Händen an allen möglichen Griffen ungeschickt Halt und arbeitete sich schwerfällig zur Schiebetür des Krankenwagens vor. Irina gab den Widerstand auf und half ihm beim Aussteigen. Als er den Fuß von der etwas höheren Stufe hinab auf dem Pflaster aufsetzte, stöhnte er erneut.
»Stopp, Sie gehen auf keinen Fall von hier weg!«, herrschte ihn nun einer der beiden Polizisten an. Der Sanitäter hatte sich neben ihm aufgebaut und machte Anstalten, ihn wieder in den Wagen zurückzudrängen.
»Es reicht, dass uns der andere Irre schon mit einer gebrochenen Rippe davongelaufen ist, bevor wir seine Personalien aufnehmen konnten«, fauchte er kopfschüttelnd.
»Was! Sie haben ihn entkommen lassen?«, schrie André empört.
»Entkommen!« Der Beamte lachte laut auf. »Sie sind ein Witzbold. Vielleicht hatte er nur Angst, dass Sie ihm nun auch noch die Krankentrage hinterherwerfen.«
André brummelte mürrisch unverständliche Worte vor sich hin und humpelte einige Schritte fort vom Wagen.
Der Polizeibeamte eilte an seine Seite und packte ihn resolut am Arm. »Muss ich Ihnen erst Handschellen anlegen, damit Sie bleiben?«, brüllte er verärgert.
»Das müssen Sie nicht. Ich übernehme ihn. Er ist ein Kontaktmann von uns und gerade in unserem Auftrag verdeckt tätig.«
Es war Frank Achill, der seinem völlig perplexen Kollegen den Dienstausweis unter die Nase hielt.
»Ludwigshafen!«, zischte der abschätzig.
»Ganz recht, Ludwigshafen. Das hier ist eine länderübergreifende Ermittlung, die Sie gerade gefährden, da Sie den Verdächtigen haben laufen lassen. So, und nun machen Sie Platz. Um die Sache mit dem Roller kümmere ich mich. Meine Kollegin hat ihn gerade sichergestellt, und ich nehme mich des Herrn hier an! Alles Weitere können Sie via E-Mail mit mir klären. Hier ist meine Karte«, sagte Achill auf eine Art, die keinen Widerspruch duldete, und drückte dem verdutzten Mannheimer Beamten eine Visitenkarte in die Hand.
*
Als Ernst Berger gegen 19.30 Uhr die Haustür aufschloss, empfing ihn seine Ehefrau Karin nicht wie sonst an der Tür.
Sie saß im Wohnzimmer auf der Couch und starrte apathisch mit tränennassen Augen vor sich hin. Das Nächste, was ihm auffiel, waren die Latexhandschuhe, die sie sich übergezogen hatte. Vor ihr auf dem Couchtisch stand eine pinkfarbene Pappschachtel. Wie aufgebahrt auf einem Samttuch lagen darin vier rötlichbraune Fellwürste, die ihn an ihren Kater Sunny erinnerten.
Er trat rasch näher und beugte sich über die Schachtel. Noch immer verstand er nicht, was er da vor sich sah.
»Sunny … Sunny … Das sind Sunnys Beinchen!«, schluchzte sie und verlor alles Stoische, das sie bisher gezeigt hatte.
Berger sackte seinerseits das Blut in die Beine. Er begriff sofort, in welchem Kontext das hier stand.
Hastig wollte er nach dem kleinen Anhänger greifen, der an das Geschenkband geknüpft war, das die Katzenbeinchen wie ein Bündel zusammenhielt.
»Du darfst es nicht anfassen. Die Polizei …«, begann seine Frau kraftlos. Mit ihrem Latexhandschuh hielt sie ihm, sorgfältig an den Rändern gepackt, den Anhänger hin, sodass er ihn lesen konnte.
»Liebe Grüße aus Moskau, deine Natascha!«, war darauf in einer groben unregelmäßigen, kindlich wirkenden Handschrift geschrieben.
Er hat das getan, durchzuckte es Berger. Nun war es also Gewissheit, dass er all das tun würde, was er angedroht hatte. Seine Ehe, das Leben von Frau und Tochter, auch sein eigenes, standen auf dem Spiel, würde er nicht das tun, was der Russe von ihm verlangte.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Karin, der sein grüblerisches Schweigen signalisierte, dass er über etwas nachdachte.
»Nichts«, krächzte Berger, noch immer in Gedanken versunken.
»Wir müssen die Polizei anrufen! Simone wird bald nach Hause kommen. Sie ist noch im Fitnessstudio. Du musst Sunny suchen!«
»Nein!«, erwiderte Berger hart.
»Wieso nicht? Du kannst ihn doch nicht einfach irgendwo da draußen rumliegen lassen.«
»Natürlich werde ich nach ihm sehen. Aber keine Polizei! Hörst du? Keine Polizei!«, flehte er.
Karin schaute irritiert zu ihm auf. Sie konnte das nicht einordnen. Er, der sonst immer geradlinig auf ein Höchstmaß an Ordnung Wert legte, wollte das einfach so auf sich beruhen lassen? »Wieso?«, fragte sie ihn eindringlich. »Was hat das mit dieser Natascha auf sich?«
»Nichts. Nichts.«
Er löste sich von dem Karton und ging unschlüssig ein paar hektische Schritte durchs Wohnzimmer, das Gesicht in seinen Händen vergraben.
»Ich … ich geh raus, nach ihm suchen«, stammelte er und schlüpfte durch die Haustür ins Freie. Er musste sich sammeln, darüber nachdenken, was er ihr sagen sollte.
Karin schluchzte laut auf, als er die Tür hinter sich schloss. Was hatte das alles zu bedeuten? Was verschwieg er ihr? Er war schon die letzten Tage so seltsam gewesen. Erst das mit seinem kleinen Finger und nun das hier. Er hatte ihr erzählt, es sei beim Werkeln mit der Kreissäge bei einem Arbeitskollegen passiert. Dabei wusste sie nichts von jenem Kollegen, dem er angeblich bei der Holzdecke geholfen hatte. Als sie nach dessen Namen gefragt hatte, hatte er nur unwirsch abgewunken. Warum hatte er sich nicht, wie jeder andere vernünftige Mensch, im Krankenhaus behandeln und den Finger wieder annähen lassen? Das war nicht der Ernst, wie sie ihn kannte. Wo war seine übliche Pedanterie? Wo waren die Formulare für die Unfallmeldung und die Versicherung? Er würde doch so etwas nie einfach so auf sich beruhen lassen und ohne Weiteres zur Tagesordnung übergehen. Dann hatte er heute Morgen vorgegeben, dass er in der Brauerei zurzeit so viel zu tun hätte – und das mitten im Sommer. Zum Jahresanfang, wenn es darum ging, die Bilanz zu erstellen, war sie das von ihm gewohnt – aber jetzt? Samstags bis um 19.00 Uhr im Betrieb zu hocken, war alles andere als normal. Und was hatte das mit diesem Gruß von Natascha auf sich? Ging er etwa fremd, und es war die Rache eines gehörnten Ehemanns? Aber auch das passte nicht. Ernst war kein Lebemann, dem die Frauen hinterherliefen. Er war nicht so, wie es jetzt wirkte.