Читать книгу Festbierleichen - Uwe Ittensohn - Страница 8

Krisensitzung

Оглавление

Samstag, 8. Juni 2019, 8.30 Uhr

Das Sitzungszimmer der Brauerei Hirschbräu war ein lang gezogener düsterer Raum. Die mit dunklem Holz getäfelten Wände schluckten einen großen Teil des spärlichen Lichts, das sich neben der an der Schmalseite heruntergelassenen Leinwand hindurchschlängelte. Die zu einer langen Tafel zusammengeschobenen wuchtigen Holztische, deren tiefbraunes Nussbaumfurnier schon an vielen Stellen abgeplatzt war, verliehen dem Raum eine triste, angestaubte Atmosphäre. Um sie herum standen hochlehnige, mit beigebraunem, brüchigem Leder bezogene Stühle, die vom einstigen Wohlstand der Brauerei zeugten.

Auf dem vorderen rechten Stuhl im Dirndl saß Hildegard Braunleitner mit verkniffenem Gesicht. Sie war, wie die meisten im Besprechungszimmer, Mitinhaberin der Hirschbräu OHG und zuständig für die Buchhaltung und das Personalwesen. Zu ihrer Linken saß in Cordhose und ärmelloser Strickweste Georg Gruber, Braumeister und Urgestein der Brauerei. Auch seine Miene spiegelte Ablehnung wider. Allein schon die Tatsache, dass er hier still sitzen musste, während im Nebenraum gerade der neue Sud angesetzt wurde, machte ihn unruhig. Ihnen gegenüber saß eine etwa 30-jährige Frau. Sie war strohblond, trug ein schwarzes Kostüm, hochhackige Schuhe und eine rote Designerbrille. Sie hieß Grit Vermeulen, war die neueste Akquisition des Geschäftsführers, hatte in Rotterdam in Marketing-Management promoviert und anschließend bei einem multinationalen niederländischen Bierkonzern im Social-Media-Management gearbeitet. Sie folgte gebannt den Ausführungen und starrte im Drei-Minuten-Takt auf das Display des vor ihr liegenden iPads.

Neben ihr, nicht weniger eloquent wirkend, saß Angelo Sassari, Vertriebsleiter und frischgebackener Chef des Einkaufs in hautengem Hemd und einem sportlich grob karierten Anzug, der zwei Nummern zu klein wirkte.

Mit drei leeren Stühlen dazwischen bewusst abseits saßen ein alter Mann im Trachtenanzug und ein 25-Jähriger in feschen Lederhosen und sportlichem Hemd.

Bei den beiden handelte es sich um den 82-jährigen Ferdinand Braunleitner, den seit acht Jahren zurückgetretenen Seniorchef des Familienbetriebs, und seinen unehelichen Enkel Quirin Braxmeier, Sohn seiner verstorbenen Tochter. Der alte Braunleitner wusste, dass er schon lange nicht mehr erwünscht war, dass man jeden Redebeitrag von ihm jäh abwürgte und er trotz seiner 24-prozentigen Beteiligung faktisch nichts mehr zu sagen hatte.

Ähnlich erging es Quirin. Man hatte ihm, dem Bankert, wie er von seiner Tante Hildegard häufig hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, nur gnadenhalber eine Brauerlehre ermöglicht und ihn danach übernommen. Ansonsten leugnete man im täglichen Umgang mit ihm hartnäckig jegliches verwandtschaftliche Verhältnis zum Hause Braunleitner. Und dies, obwohl es jeder hier im Raum und natürlich auch die meisten alteingesessenen Einwohner der 12.000 Seelen zählenden, in der oberbayerischen Region Pfaffenwinkel gelegenen, Gemeinde Neuploching wusste. Heute war er nur hier, weil sein Großvater, der Einzige in der Familie, der zu ihm hielt, darauf bestanden hatte.

Obwohl sie unterschiedlicher kaum sein konnten, hatten sie eines gemeinsam. Alle starrten wie gebannt auf die bunten Charts und Schaubilder, die ihnen Joachim, genannt Jonny, Geschäftsführer und einziger Sohn des alten Braunleitner – wie immer höchst eloquent – auf die Leinwand beamte.

»Also, ich fasse zusammen: Unser heimischer Absatz schmilzt dahin wie die Polkappen. Im letzten Jahr haben wir wieder 50.000 Hektoliter weniger in der Region verkauft. Im Exportgeschäft besteht das Risiko, dass wir aufgrund fehlender Abfüllkapazitäten für die in Russland üblichen 0,95-Liter-Dosen den Folgevertrag mit der russischen Inter Pivo LLC verlieren werden. Durch Preissteigerungen im Einkauf und Tariferhöhungen steigen unsere Kosten ungebremst weiter, und unsere Produktionsanlagen sind veraltet!«

Jonny Braunleitner, der das Ganze in einer Art und Weise präsentiert hatte, als sei es eine Erfolgsbotschaft, machte eine bedeutungsvolle Pause, grinste süffisant und schaute in die Runde.

Dem alten Braunleitner rollte eine einsame Träne über die faltige Wange. Quirin starrte bestürzt auf seinen Großvater, als könnte dieser mit einem Wink seiner dürren Hand diesen Albtraum vertreiben. Hildegard schwieg und presste ihre Lippen, die noch schmaler wirkten als sonst, schmerzvoll zusammen. Das Gesicht des alten Braumeisters Gruber war krebsrot. Fast schien es, als würden die dünnen roten Äderchen auf seiner großen Nase platzen.

Im krassen Gegensatz dazu stand das Auftreten der rotbebrillten Marketing-Doktorin Vermeulen und ihres Tischnachbarn Sassari, der sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen breitbeinig zurücklehnte und den muskulösen Oberkörper im hautengen Hemd blähte.

Ungeduldig schob Doktor Vermeulen das vor ihr liegende Skript hin und her. Offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, ihre Sicht der Dinge zu präsentieren.

Nachdem Jonny Braunleitner die sich auf den Gesichtern der Familienmitglieder abzeichnende Bestürzung ausreichend ausgekostet hatte, fuhr er beschwingt fort.

»Frau Doktor Vermeulen wird Ihnen nun aufzeigen, mit welchen Konzepten wir den Turnaround unseres Hauses gemeinsam gestalten werden.«

Der alte Braumeister konnte seinen Ärger nun nicht länger zurückhalten. »Hättn’s uns ned zwunga, des kinesische Glump von am Hopfn in unsa guads Hirschbräu zum kippn, datn’s die Leit weida trinkn. Seit üba 100 Johr bsorgn mia unsan Hopfn in da Hallertau. Und der war scho ollawei guad.«

»Aber Herr Gruber, es dürfte auch Ihnen nicht entgangen sein, dass die von mir veranlasste Kostenbremse bitter nötig war. Wir müssen unsere Rohstoffe dort einkaufen, wo sie am günstigsten sind. Teure Traditionstümelei können wir uns nicht mehr erlauben. Ohne Herrn Sassaris Kontakte, die uns dies erst ermöglicht haben, wären wir längst pleite.«

Während Sassari generös grinste, grunzte Gruber nur ablehnend und winkte mit der klobigen Hand ab.

»So, Frau Doktor Vermeulen, darf ich Sie nun um Ihren Vortrag bitten«, säuselte Jonny Braunleitner.

Vermeulen stand dynamisch auf, zeigte lächelnd ihr makelloses Gebiss und stöckelte zur Leinwand.

»Think pink!«, sagte sie mit fester Stimme, klickte, und auf der Leinwand materialisierte sich Pixel um Pixel ein ganz in Pink gehaltener Präsentationschart mit eben diesen zwei Worten. Erwartungsvoll ließ sie den Blick über die Zuhörer schweifen. Während Jonny Braunleitner und sein Vertriebsleiter gönnerhaft lächelten, wirkte der Rest des Auditoriums verdutzt.

»Wir brauchen ein völlig neues Konzept für unseren Laden!«, fuhr sie fort und machte erneut eine Kunstpause.

»Die 2020er werden das Jahrzehnt der Frauen.« Pause.

»Mit unserer Linie Female Fun bringen wir das Bier für die moderne Frau auf den Markt.« Dabei dehnte sie das Wort »das« und zeigte wieder ihre weißen Zähne.

»Wir werden hier alles umgestalten, damit jeder sieht, für was wir stehen.« Dabei klickte sie, und es erschien eine animierte Außenansicht der Brauerei, die den Anstrich des Gebäudes in ein leuchtendes Pink übergehen ließ.

»Wir brauchen Visibility!«, sagte sie, als würde sie einen Schlachtruf ausstoßen. »Influencer, die uns mit den richtigen Social Clips viral gehen lassen. Wir leben in einer disruptiven Welt, in der wir nur durch Real-Time-Marketing unsere User auf eine herausragende Customer Journey mitnehmen. Wir müssen dabei agil und customer centered vorgehen. Wir verkaufen unser Produkt nicht mehr über die Theke, sondern für unser Female Fun gilt: mobile first und Convenience first. Das erste Bier, das man customized direkt übers Netz bezieht.«

Jonny Braunleitner war der Erste, der nach Vermeulens Vortrag zu klatschen begann. »Bravo, das ist es«, rief er verzückt lächelnd.

Sassari folgte dem Beispiel seines Chefs. »Das wird unseren Profit in ungeahnte Höhen schießen lassen«, sagte er dauernickend. Dabei gab er dem Klang des Wortes »Profit« eine amerikanische Note.

Hildegard, die mit einem Gesichtsausdruck, als würde man ihr gerade ohne Narkose ein Bein amputieren, dem Vortrag Vermeulens gefolgt war, schob ihre Papiere zusammen, stand auf und verließ wortlos den Raum.

Die Gesichtsfarbe des Braumeisters war mittlerweile in ein ungesundes Violettrot übergegangen. »Ihr kennt’s eich an andern Deppen suachn. I mach den Scheiß nimma lenga mit«, brummte er, stand auf und verließ ebenfalls benommen schwankend den Raum.

Der alte Braunleitner vergrub stumm das Gesicht in den faltigen Händen. Quirin wurde von Mitleid für seinen Großvater übermannt.

Festbierleichen

Подняться наверх