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Kapitel 2

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Seit die Spuren seines fortgeschrittenen Alters sich nicht mehr verbergen lassen, tarnt er seine zahlreichen Falten und seinen Haarausfall mit einem tief ins Gesicht gezogenen Cowboyhut, einer dunklen Piloten-Sonnenbrille und einer schwarzen Perücke. Diese Maskerade soll Jugendlichkeit und Extravaganz signalisieren und ihn von der Masse abheben. Aber das misslingt. Zwischen den Passanten auf dem Berliner Alexanderplatz sieht er aus wie ein als Cowboy verkleideter alter Mann, der von einer Kostümparty nach Haus kommt. Er erinnert den Autor, der auf ihn wartet und ihn beobachtet, an eine Figur aus einer Novelle von Maupassant: einen alt gewordenen Friseur und ehemaligen Frauenhelden, der mit der Maske eines schönen Jünglings regelmäßig auf Parties erscheint. Dann tanzt er wild und ausgelassenen mit allen weiblichen Gästen, bis er unter seiner Maske nicht mehr genug Luft bekommt und zusammenbricht. Auch Ulli schnauft etwas, als er schließlich mit einem routinierten Lächeln und einem weichen Händedruck den Wartenden begrüßt. Er arbeitet an einer Biografie dieses mysteriösen Mannes und will von ihm persönlich mehr über ihn erfahren. Deshalb hat er sich mit dem umstrittenen Regisseur zu einer gemeinsamen Autobusfahrt durch Berlin verabredet. Beim Besteigen des Busses beobachtet er fasziniert, wie Ulli dem Busfahrer sorgfältig seinen Fahrpreis abzählt, ohne daran zu denken, auch den Fahrschein des Autors zu bezahlen. Mit dem Ticket für 2,40 Euro in der Hand schwingt er sich schließlich auf einen Sitz in der ersten Reihe auf dem Oberdeck des Busses. „Wo sonst sollte der alte Cowboydarsteller einen für ihn geeigneten Platz in einem gelben Doppeldeckerbus finden, der vom Berliner Alexanderplatz in den Wilden Westen ans andere Ende der Stadt fährt?“ denkt der Autor erheitert und setzt sich neben ihn. Ulli Lommel war in den 60ern des letzten Jahrhunderts ein berühmter Filmschauspieler und ist heute ein heftig umstrittener Regisseur. Aber keiner der Fahrgäste erkennt ihn, was nicht wirklich erstaunlich ist. Es ist schließlich fünfzig Jahre her, dass er mit der großen Hildegard Knef, mit dem „Seelchen“ Maria Schell und dem unvergleichlichen Heinz Rühmann längst in Vergessenheit geratene Filme drehte. Die Mädchen himmelten ihn damals als „deutschen Alain Delon“ auf dem Cover und als Starschnitt der Jugendzeitschrift „Bravo“ an. Der Boulevard berichtete pausenlos über ihn und er war ein Liebling der Klatsch-Journaille wegen seiner zahllosen Affären mit schönen und berühmten Frauen. Er arbeitete jahrelang als ein Hauptdarsteller mit Fassbinder zusammen, der ihn eines Tages sogar zum Regisseur eines seiner Filme machte. Der Film war in Deutschland erfolgreich und sollte auf einem Filmfestival in New York seine amerikanische Premiere feiern. Weil weder Fassbinder noch Kurt Raab, der das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hatte, Lust auf den Trip hatten, boten sie Ulli an, dort als Regisseur aufzutreten. So kam es, dass er zu dem Festival nach New York flog, um dort den Film zu präsentieren. Mr. Lommel erzählt dem Autor die Ereignisse am Tag seines Abflugs: „ An einem brütend heißen Sommertag im August 1977 stand ich in der Abflughalle des Riemer Flughafens. Ich hielt meine Reisetasche fest umklammert, in der sich der kleine Perserteppich befand, in den mich meine Mutter während unserer Flucht von Sulęcin nach Berlin eingewickelt hatte. Ich war auf dem Weg nach New York, wohin ich zu einem Filmfestival eingeladen worden war, um dort meinen von Fassbinder produzierten Film `Die Zärtlichkeit der Wölfe` zu präsentieren. Das Werk war in Deutschland ein großer Erfolg bei den Kritikern und von ihnen hochgelobt worden. Aber mein Beitrag zur Herstellung des Films war in Wirklichkeit eher bescheiden gewesen. Die Hauptarbeit hatte Kurt Raab erledigt, der das Drehbuch geschrieben, die Kamera bedient und dann mit Fassbinder zusammen den Film geschnitten hatte. Ich hatte als sein Assistent ab und zu ein Kabel gehalten und auf Raabs Anweisungen die Scheinwerfer justiert. Da er sich aber die Vermarktung des Filmes wegen seines Alkoholismus nicht zutraute und Rainer Amerika hasste, hatten sie mir nach Fertigstellung des Films vorgeschlagen, offiziell als Regisseur des Films zu fungieren und ihn in New York zu promoten. Ich sagte sofort zu. Ohne die geringste Ahnung zu haben, dass ich damit wie ´Hans im Glück` im Märchen einen Goldklumpen erhalten hatte. Versonnen schaute ich dem leicht torkelnden, weil wieder einmal völlig betrunkenem Kurt und dem wie immer hektisch an einer Zigarette ziehenden Rainer hinterher. Sie hatten mich zum Flughafen gefahren und strebten nach unserem kurzen Abschied dem Ausgang der Abflughalle zu. Ich ahnte nicht, dass dies das vorläufige Ende der München-Episode in meinem Leben war. Jahre würden vergehen, bis ich dorthin zurückkehren würde. Mit meinem Flug nach New York sollte für mich ein vollkommen neues Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten beginnen. Die professionell freundliche Stewardess brachte mir nach dem Start des PanAm-Jumbos einen Stapel internationaler Zeitungen und den bestellten Cuba Libre mit viel Eis. Gierig trank ich den süffigen Mix aus Cola und Rum auf ex und fühlte mich sofort besser. Es war mir doch etwas mulmig zumute, so ganz allein in New York den Film promoten zu müssen, dessen Aussage ich in Wirklichkeit damals nicht so ganz verstanden hatte. Es ging um einen Massenmörder, der seine Opfer zerteilte und dann aufaß. Schön schrecklich. Aber was sollte das bedeuten? War das eine Metapher? Und wenn ja, welche? Ich versuchte mich zu erinnern, was mir Kurt Raab bei einem abendlichen Gelage zu erklären versucht hatte. Doch mir fiel trotz hartnäckigem Nachdenkens einfach nicht mehr ein, was er damals alles gesagt hatte. Ich seufzte und gab es auf. Sollte ich in New York auf dem Filmfestival mit zu tiefgründigen Fragen konfrontiert werden, würde ich einfach so tun, als reichten meine Englischkenntnisse nicht aus, um sie zu verstehen und zu beantworten. Sie würden doch meinetwegen nicht extra einen Dolmetscher kommen lassen. So bedeutend war ich wirklich nicht, beruhigte ich mich und griff mir die New York Times, die die Stewardess mir gerade gebracht hatte. Als ich den Kulturteil öffnete, fiel sie mir fast aus der Hand. Die ganze erste Seite war eine Kritik des Films. Ein Foto von mir war direkt neben der Überschrift ´A star is born – Ulli Lommel´s masterpiece` platziert. Mit offenem Mund las ich die Hymne auf das Werk. Mir wurde ganz schlecht wegen des gigantischen Lobes für den Film, das ich nicht verdient hatte. Oh Scheiße, die Amis nahmen mich ernst. Vermutlich also doch ein Dolmetscher. Ich richtete mich leicht in meinem Sitz auf und drückte den Rufknopf in der Paneele über meinem Kopf. Wenig später tauchte eine Stewardess neben mir auf und fragte nach meinen Wünschen. `Bitte bringen Sie mir eine Flasche Rum, eine Flasche Cola und einen Kübel mit Eis.` Die Stewardess sah mich verblüfft an, brachte aber wenig später das Gewünschte auf einem Silbertablett. Als die Maschine am JFK-Airport zur Landung ansetzte, waren die Flaschen leer und ich hickehacke voll. Ich hatte die Wirkung des Alkohols in über zehn Kilometer Höhe völlig unterschätzt. Mühsam wuchtete ich mich hoch und holte mir mein Handgepäck aus dem Abteil über meinem Sitz. Dann schlurfte ich mit der Tasche über meiner Schulter schwankend Richtung Ausgang des Flugzeuges. Die Stewardessen, die dort ihre Positionen eingenommen hatten, um sich von den Passagieren zu verabschieden, schauten mir mit hochgezogenen Brauen besorgt hinterher, wie ich torkelnd die Gangway hinabstieg und in dem auf die Passagiere wartenden Bus verschwand. Die nächsten zwei Stunden stand ich in einer der ewig langen Warteschlangen vor den Einwanderungsformalitäten und hielt mich nur mühsam auf den Beinen. Endlich war ich an der Reihe. ´Are you here for business or holiday`, fragte mich der schwarze Immigration Officer und sah mich prüfend an. ´Holiday`, log ich ihn an, um weiteren Fragen zu entgehen und die Prozedur zu beschleunigen. Er stempelte meinen Pass und reichte ihn mir mit einem breiten Grinsen. ´Enjoy your stay in New York, Sir. It´s the City that never sleeps.` Ich nahm meinen Pass und lächelte. Ich dachte an die zahllosen Nächte, die ich mir mit Fassbinder in München um die Ohren geschlagen hatte und konnte mir nicht vorstellen, dass mein Aufenthalt hier ebenso strapaziös werden könnte. Noch hatte ich keine Ahnung, dass ich bald ohne eine Minute Schlaf unzählige Nächte in Manhattan durchmachen würde. Allerdings auf einem ganz anderen Niveau als mit Rainer. Der weltberühmte Popart-Künstler Andy Warhol wurde nämlich wegen der enthusiastischen Kritik des Films in der ´New York Times` auf mich aufmerksam und lud mich in seine ´Factory` ein. Andy mochte nicht nur den Film, ihm gefielen mein gutes Aussehen, mein schüchternes Auftreten und mein liebenswürdiger Charme. Als ich ihm eine spontan entwickelte neue Filmidee von mir erzählte, war er begeistert. Er erklärte sich bereit, den Film mit mir zu produzieren. Von da an war ich sein neuer ´Superstar`. Mit seiner sanften Art war Warhol das genaue Gegenteil von Fassbinder, der wie ein boshafter Despot Abhängigkeit und Unterdrückung züchtete. Wenn Andy jemanden mochte, verschaffte er ihm Kontakte und Publicity. Fassbinder hatte das nie gemacht, unter seiner Sonne wuchs nichts. Das war einer der gravierenden Unterschiede zwischen diesen beiden Ausnahmekünstlern. Ich zog täglich mit Andy und dessen Entourage, die aus schönen, außergewöhnlichen oder sehr berühmten Menschen bestand, durch das Nachtleben von New York. Der für seine Alkoholexzesse bekannte Schriftsteller Truman Capote war fast immer dabei, manchmal stieß auch David Bowie dazu. Beim Abendessen saßen Andy und ich meistens mit Bianca Jagger, Capote und Jackie Kennedy zusammen. Jackie trug immer Chanel und hatte eine piepsige Babystimme wie Marilyn Monroe. Der berühmte Schriftsteller war meistens blau und trug fleckige Jeans zu gammeligen Turnschuhen, Größe 39. Ich liebte seinen Roman ´Frühstück bei Tiffany`. Als Truman einmal auf meiner Couch übernachtet hatte und als Frühstück einen Cognac mit einem Schuss Kaffee trank, fragte ich ihn, ob er eigentlich schon jemals bei ´Tiffany's` gewesen sei. Er sagte nein. Fünf Minuten später saßen wir in einem Taxi, das uns zu dem dank Trumans Buch berühmten Juweliergeschäft an der 5th Avenue fuhr. Im Laden war es still wie in einem Mausoleum. Keiner der Verkäufer erkannte ihn - und bei so was wurde Truman ungemütlich. Er legte sich wie ein Penner der Länge nach vor den Ausgang und schloss die Augen. Als der Wachmann des Geschäfts "What the fuck!" rief, herbeirannte und ihn hoch heben und abtransportieren wollte, begann er mit seiner Eunuchenstimme zu kreischen. Ich sagte zu dem schwitzenden Wachmann, der grob an Truman herumzerrte: ´Sir, das ist der Schriftsteller Truman Capote, der Ihren Laden berühmt gemacht hat.` Er sah mich wütend an. ´Und wer sind Sie? Jack Nicholson?` Der Manager rief die Polizei und wir wurden auf das Revier Midtown Manhattan gebracht. Wo wir einige Stunden festgehalten wurden, bis sich aufklärte, wer wir waren. Arm in Arm stiegen Truman und ich nach unserer Entlassung aus dem Polizeigewahrsam die Stufen vor der Polizeistation herunter. Nach diesem Abenteuer waren wir echte Buddies, echte Freunde geworden.“


Ulli im Glück

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