Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern - Валентина Май - Страница 10

6.

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Es dämmerte bereits, als Miriam ihren Wagen unweit von Pauls parkte. Die Fahrt hatte sich bei Glatteis als schwieriges Unterfangen herausgestellt. Nur langsam war sie vorangekommen und musste wegen gesperrter Straßen einen Umweg nehmen. Zwischendurch war sie versucht gewesen, wieder umzudrehen. Aber der Wunsch nach Gewissheit war stärker gewesen. In einer halben Stunde würden Herfords Läden schließen, dann würde es schwierig werden, Paul noch zu finden. Sie wusste nicht, wo er danach hinging, auch nicht, wo Sybille Vogt wohnte.

Als sie Geld in die Parkuhr werfen wollte, stellte sie fest, dass ihr Portemonnaie außer den paar Münzen fürs Parken leer war, weshalb sie zur Bankfiliale humpelte. Auf ihrem Konto musste längst die Miete der neuen Pferdeeinsteller eingegangen sein. Ein Umstand, der sie aufatmen ließ, hatte sie doch gerade in den letzten Monaten nach dem Desaster durch Melanie verzweifelt gegen die Insolvenz gekämpft. Sie steckte ihre Kreditkarte in den Schlitz des Geldautomaten, tippte Geheimnummer und Betrag ein und wartete, dass das Gerät ihr Geld ausspuckte. Stattdessen erschien auf dem Display der Hinweis, dass nur noch zwanzig Euro ausgezahlt werden könnten. Ihr wurde ganz anders. Nicht schon wieder! Aber gestern hatten doch die neuen Boxenmieter das Geld überwiesen und ihr einen Auszug vorgelegt. Außer ihr konnte nur noch Paul über das Konto verfügen. Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf. Sie ließ sich den Restbetrag auszahlen und lief wütend zu Pauls Laden, damit er ihr das erklärte.

Durch die Schaufensterscheibe des Juwelierladens jedoch sah sie nur Frau Kerber, die bereits einige der kostbaren Auslagen in den Tresor legte. Sie war allein, weder Paul noch Sybille Vogt waren zu sehen. Vielleicht sollte sie hineingehen und nach der Adresse des Kunden fragen, den ihr Mann besuchte. Miriam zögerte. Es war ihr unangenehm, Pauls Angestellte mit hineinzuziehen. Plötzlich hörte sie von Weitem Gekicher und dann Pauls Stimme. Einer inneren Eingebung folgend, presste Miriam sich in einen zurückliegenden Hauseingang neben dem Juwelierladen und spähte vorsichtig um die Ecke. Aus einem der Hauseingänge weiter rechts trat Paul mit Sybille Vogt. Miriam hielt den Atem an, als sich die Blondine bei ihm auf eine vertraute Weise einhakte, wie es sonst nur sie selbst bei ihm tat.

Als Paul Sybille Vogt spontan umarmte und innig küsste, sackte Miriams Herz Etagen tiefer. Anstatt den Laden zu betreten, schlenderten die beiden weiter in Richtung Fußgängerzone. Also doch, Paul betrog sie. Großer Gott, Susanne hatte recht gehabt. Sie kämpfte gegen die Tränen und das Gefühl, das ihr die Kehle zuschnürte. Für eine Sekunde überlegte sie, Paul zur Rede zu stellen, entschied sich aber anders, weil sie fühlte, einer Konfrontation, noch dazu in Gegenwart der jungen Frau, in diesem Moment nicht gewachsen zu sein. Sie würde in Tränen ausbrechen und sich der Lächerlichkeit preisgeben.

Es war eine Mischung aus Neugier und Masochismus, die Miriam vorantrieb, den beiden zu folgen. Im Vorübergehen warf sie einen Blick auf das Klingelschild neben dem Eingang, aus dem das Paar kurz zuvor getreten war. Ihre Namen standen beide darauf. Ihr Mann schien bereits bei seiner Geliebten eingezogen zu sein. Miriam fühlte sich, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Wie hatte sie sich nur so täuschen lassen können?

Paul und seine Geliebte waren so miteinander beschäftigt, dass sie sie nicht bemerkten und sich völlig ungezwungen benahmen. Die beiden schienen es nicht sonderlich eilig zu haben, sodass Miriam mit ihnen im Tempo mithalten konnte. Nach ein paar Metern blieb das Pärchen unerwartet stehen, um sich erneut zu küssen. Eine Gruppe Passanten ging milde kopfschüttelnd und lächelnd an ihnen vorbei. Dabei hasste Paul den Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit, wie er ihr immer wieder beteuert hatte. Sie selbst durfte ihn zur Begrüßung nicht einmal umarmen. War das wirklich noch ihr Mann, den sie seit zwanzig Jahren kannte? Miriam kniff sich vergeblich in den Arm und hoffte, aus diesem Albtraum aufzuwachen. Ihren Mann so mit einer anderen Frau zu sehen, zerriss ihr das Herz. Verdammt! Paul gehörte doch zu ihr, zu seiner Familie und nicht zu dem jungen Ding, das er im Arm hielt!

Wut und Enttäuschung brandeten in ihr auf. Wie gern hätte sie jetzt ihren Gefühlen lautstark freien Lauf gelassen, hätte ihren Mann vor der Anderen vorgeworfen, seine Familie vergessen zu haben, um sein Ego zu befriedigen. Widerwillig musste sie sich dennoch gestehen, dass sie ihn seit langer Zeit nicht mehr so glücklich gesehen hatte wie in diesem Augenblick. Es schmerzte sie, dass eine andere Frau es war, die das in ihm auslöste. Unaufhaltsam rannen Tränen über Miriams Wangen. Vor Zorn. Aus Enttäuschung. Sie spürte sie kaum, während sie sich Schritt für Schritt weiter voran quälte.

Vor einigen Postkartenständern stoppte das Pärchen und schaute sich verschiedene Motivkarten an. Dabei schäkerten und lachten sie, sodass Miriams Herz noch dumpfer schlug. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, schlich sie sich vorsichtig im Schatten eines Mauervorsprungs ein Stück näher an sie heran, um sie zu belauschen. Aus der geöffneten Ladentür klang Musik. Andreas Bourani sang „Wo ist die Liebe geblieben“. Genau das fragte Miriam sich in diesem Augenblick auch. Wo war die Liebe ihres Mannes zu ihr, seiner Ehefrau?

Zwei Frauen an einem der Kartenständer schielten neugierig zu ihr herüber, weshalb Miriam die Kapuze noch weiter ins Gesicht zog.

Alles fühlte sich so unwirklich an. Da stand sie hier und beobachtete heimlich ihren Mann mit seiner Geliebten.

Sybille Vogts Mantel war trotz der Kälte aufgeknöpft. Auch heute trug sie darunter ein enganliegendes Kleid, das ihre kurvige Figur vorteilhaft betonte. Miriam konnte verstehen, dass Paul dem Sexappeal der attraktiven Jüngeren verfallen war. Aber reichte die körperliche Anziehung aus, um ihrem gemeinsamen Leben, ihrer Familie den Rücken zu kehren?

Sibylle lächelte mit ihren sinnlich rotgeschminkten Lippen, bevor sie sie spitzte, um von Paul einen weiteren Kuss zu erbetteln. Miriam musste sich abwenden und die Hand auf den Mund pressen, um nicht aufzuschreien. Was trieb sie hier nur? Weshalb tat sie sich das an?

Immer wieder fragte sie sich, was in ihrer Ehe schiefgelaufen war, wann das Ende begonnen und weshalb sie die Zeichen nicht erkannt hatte.

Susanne wäre an ihrer Stelle beiden sicher selbstbewusst entgegengetreten, und hätte Paul den Ehering vor die Füße geworfen. Aber sie war nicht wie ihre Freundin. Sie wäre vermutlich in Tränen ausgebrochen, wenn Paul ein paar zynische Bemerkungen hätte fallen lassen. Das könnte sie nicht auch noch ertragen. Paul und Sibylle liefen weiter, und Miriam humpelte ihnen hinterher. Was war sie doch für eine gottverdammte Masochistin!

Vor einem Schaufenster stoppten die beiden erneut und betrachteten die Auslage. Miriam kannte das Geschäft von einigen Besuchen und liebte deren ausgestellten Modeschmuck. Insbesondere für ihre ausgefallenen Kreationen mit natürlichen Motiven waren sie weit über die Grenzen Herfords hinaus bekannt. Für Paul als Juwelier zählte nur echter Schmuck. Vorletztes Weihnachten hatte sie sich ein Schmuckset gewünscht, mit Ohrringen in Hufeisenform und einer Perlenkette, deren Verschluss ebenfalls ein Hufeisen gewesen war. Stattdessen hatte er sich darüber lustig gemacht und ihr einen handschriftlichen Gutschein für ein gemeinsames Wochenende im Sauerland geschenkt, den sie bis heute nicht eingelöst hatten. Jetzt hingegen wirkte er sehr beeindruckt, als seine Begleiterin auf mehrere Teile mit dem Finger zeigte. Anschließend betraten die beiden den Laden und kehrten kurz darauf zurück. Stolz präsentierte Sybille Paul ein Schmuckstück an ihrem Finger, einen Ring mit Pferdekopf.

„Du würdest eine wundervolle Gutsbesitzerin an meiner Seite abgeben“, hörte sie ihn sagen.

Sybille Vogt kicherte.

Miriams Finger krallten sich in die Hausmauer. Wut stieg in ihr auf, stärker als Enttäuschung und Schmerz. Paul hatte sich doch nie etwas aus Abendroth gemacht, nur damit geprotzt, wenn es ihm in den Kram passte. Genauso wie jetzt. Sicher wollte er sich vor der jungen Frau nur aufspielen. Dennoch stimmten sie seine Worte nachdenklich. Würde sie womöglich im Scheidungsfall alles seinetwegen verlieren? Einzig ihr Verstand hielt sie davon ab, ihn sofort zur Rede zu stellen und ihm an den Kopf zu werfen, dass er niemals ein Anrecht auf das Gut besitzen würde.

Die beiden waren längst schon weitergegangen, als Miriams Nerven nachgaben. Ihre Beine zitterten. Schmerzhaft pulsierte es wieder in ihrem Fuß, und das Auftreten fiel ihr schwer.

Von einer Minute auf die andere war alles, woran sie geglaubt hatte, erschüttert worden.

Miriam betrachtete sich im Vorbeigehen in einem der beleuchteten Schaufenster. War sie wirklich die Frau mit den geschwollenen Lidern und dem wirren Haar? Mit eingefallenen Wangen und starrem Blick? Sie erkannte sich ja selbst kaum wieder. Wo war das junge, lebenslustige Mädchen von einst geblieben, in das Paul sich verliebt hatte? Noch nie hatte sie sich so alt, verbraucht und farblos gefühlt wie heute. Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. An Pauls Stelle würde auch sie der blutjungen Frau mit den rosigen Wangen und vor Lebenslust blitzenden Augen den Vorzug geben.

Miriam war gerade sechzehn gewesen, als sie Paul kennengelernt und sich auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte. Der Schwarm aller Mädchen auf dem Gymnasium und das schüchterne Mädchen mit Zopf vom Reiterhof.

Nach einem Ausritt hatte er sie in der Nähe des Gutes abgepasst. Seitdem waren sie ein Paar. Noch heute fragte sie sich, weshalb er ausgerechnet sie umworben hatte, wo es doch viel interessantere, hübschere Mädchen als sie gegeben hatte.

Ihr Treffpunkt war stets oben an der Esche hinter der großen Weide gewesen. Heimlich, weil Mutter einen festen Freund verboten hatte. Lachend waren sie und Paul sich in die Arme gefallen, hatten wild herumgeknutscht. Noch heute konnte sie sich gut an das Herzklopfen in seiner Gegenwart erinnern.

Miriams Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es an ihrem einstigen Treffpunkt war, wo sie mit ihrer treuen Fairy verunglückt war. Gedankenverloren stand sie eine Weile vor einem Laden. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt.

Wenig später humpelte sie tränenblind durch die fast menschenleeren Straßen Herfords. Ihr wurde das Herz schwer. Sie konnte es noch immer nicht fassen: Paul hatte sie die ganze Zeit betrogen. Ihr Paul! Hätte sie nicht mit eigenen Augen gesehen, wie die beiden sich geküsst hatten, würde sie es noch immer nicht glauben können.

Das Verhalten von Paul war verletzend und rücksichtslos. Die angeblichen Geschäftsessen, alles nur Lügen, um ein Schäferstündchen abzuhalten. Im Laufe der Jahre hatte es auch etliche Männer gegeben, die mit ihr geflirtet hatten. Dennoch wäre ihr ein Seitensprung nie in den Sinn gekommen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, mit wie vielen Frauen Paul sie betrogen haben mochte. Frauen, die sie womöglich kannte. Nichts hatte sie bemerkt. Nichts! Für ihre Blindheit könnte sie sich ohrfeigen. Verspürte er denn kein schlechtes Gewissen?

Unzählige Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Eine Zukunft ohne Paul? Das konnte und mochte sie sich nicht vorstellen, denn sie kannten sich doch schon eine halbe Ewigkeit.

Aber mit ihm zusammenleben in dem Wissen um seine Seitensprünge konnte sie auch nicht.

Kein Wunder, wenn er nicht mit ihr hatte schlafen wollen, sicher hatte er nur an seine Geliebte gedacht.

Sie war froh, als sie ihren Wagen auf der anderen Straßenseite erkannte.

Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern

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