Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern - Валентина Май - Страница 9

5.

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Nachdem Miriam sich aus ihrer Jacke geschält hatte, lehnte sie sich erschöpft gegen die Haustür und schloss die Augen. Der erneut aufwallende Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Ihr Fuß war stark geschwollen, weshalb sie kaum noch auftreten konnte. Sie wollte nur endlich den Schuh abstreifen, eine Tasse Kaffee trinken und dann die Ruhe genießen, bevor Paul aufstand.

„Wie lange willst du dir das eigentlich noch von deiner Schwester bieten lassen?“ Miriam fuhr erschrocken zusammen und riss die Augen auf. Paul stand mit zornesrotem Gesicht vor ihr. Die Ader an seiner Schläfe war angeschwollen, wie immer, wenn er außer sich war. Er musste den Streit mit Jennifer draußen vor der Tür belauscht haben.

Miriam fühlte sich zu erschöpft, um sich auf eine erneute Auseinandersetzung einzulassen. Sie wusste, welche Vorwürfe es wieder hageln würde.

„Paul, bitte, nicht jetzt. Ich habe Schmerzen. Ich brauche jetzt nur einen starken Kaffee, und dann lege ich meinen Fuß hoch.“

Er hob die Arme hoch, was sehr theatralisch wirkte. Auch das war sie von ihm gewöhnt, allerdings nicht das etwas zu herbe Aftershave, das jetzt durch die Luft schwebte. Das war nicht der Duft, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Überhaupt sah er heute verändert aus, im hellgrauen Nadelstreifenanzug, dem weißen Hemd und der fliederfarbenen Krawatte. Nicht so konservativ wie sonst, fand Miriam. Ihr blieb keine Zeit, um sich über sein Outfit zu wundern, denn schon holte Paul zu einem weiteren verbalen Schlag aus.

„Klar! Wie lange willst du das denn noch durchziehen, während deine Schwester hier das Zepter schwingt und uns mit ihrem Mann das Gut Stück für Stück wegnimmt?“

Miriam stöhnte innerlich auf. Immer dieselbe Leier, die sie zu hören bekam. Jennifer hatte eben noch einmal beteuert, dass sie ihren Antrag nicht zurückziehen würde. „Seltsam, dass du plötzlich von unserem Gut sprichst.“ Paul hatte sich nie wirklich für Abendroth und die Pferde interessiert. Ein großes Anwesen wie das hier peppte höchstens sein Prestige auf. Der Gutsherr Paul Lessmann. Jedenfalls schien er das zu glauben, wenn sich seine Kunden beeindruckt zeigten.

Mit seinem Wettern gegen Jenny und Dave wollte er die beiden vergraulen. Manchmal glaubte Miriam, dass ihr Mann in jedem einen Gegner sah, der ihn nicht hofierte. Dave hatte sich mit Paul noch nie verstanden, mit Jennifer lief es nicht anders. Es verging kein Tag, an dem Paul nicht etwas an den beiden auszusetzen hatte. Seine ständige Kritik hatte allmählich Zweifel in ihr geweckt, die auch das Gespräch mit Jennifer nicht ganz auslöschen konnte. Dennoch nervte es sie, dass ihr Mann wieder und wieder auf demselben Thema herumritt.

„Hör bitte damit auf. Darüber haben wir doch stundenlang diskutiert. Sei froh, wenn Jenny und Dave mich unterstützen.“

„Unterstützen nennst du das jetzt, wenn sie unsere Angestellten auf unserem Gut herumkommandieren, ohne es mit dir vorher abzustimmen?“ Hatte er sich in Rage geredet, war er nicht zu stoppen.

Miriam winkte ab. Hinter ihren Schläfen hämmerte es. Sie wollte nur so schnell wie möglich ihre Ruhe haben. „Wenn du schon unser Gespräch belauscht hast, solltest du mitbekommen haben, dass Jenny sich zurückziehen und nur noch um die Tiere kümmern will.“

Paul lachte gehässig und winkte ab. „Das glaubst du doch selbst nicht! Sie bereut sicher schon, das Erbe ausgeschlagen zu haben. Muss ich dich daran erinnern, dass die Frist noch nicht abgelaufen ist? Erst in zwei Monaten können wir uns sicher sein. Aber so, wie die beiden sich hier aufführen, wollen sie nur, dass du dich in Sicherheit wiegst, bevor sie alles übernehmen.“ Immer, wenn es ums Gut ging, sprach Paul von ‘uns’. Sonst trennte er immer ganz penibel zwischen ihrem und seinem Eigentum. Neulich hatte sie stolz einer Bekannten vom neuen Juwelierladen in Herford erzählt, und wie stolz sie wäre, weil er ihnen gehöre. Paul war regelrecht ausgeflippt. Wütend hatte er ihr erklärt, dass sein Name im Kaufvertrag stand. Diese Zurechtweisung hatte sie schockiert und nachdenklich werden lassen. Paul konnte manchmal so kalt und unsensibel sein, dass es sie fröstelte. Dave war da von einem ganz anderen Schlag. Paul hätte ihr nie angeboten, sie durch den Stall zu führen und fragte auch nicht nach ihrem lädierten Knöchel.

„Du siehst Gespenster, Paul. Jenny hat mir versichert, dass sie eine Klinik eröffnen will.“ Miriam hoffte, ihn auf ein anderes Thema lenken zu können. Doch Paul war nicht zu bremsen.

„Da käme ihr das Gut doch ganz recht. Du bist blind für Intrigen! Als wäre das nicht schlimm genug, lässt du dir von ihr diesen Floh über deinen Bruder ins Ohr setzen. Der ist tot und kommt nicht wieder! Kapier’ das endlich!“, tobte er.

Ihr Mann würde weiter wettern, da half es ihr nur, zu flüchten.

Miriam humpelte an ihrem Mann vorbei zur Küche. „Ich gehe jetzt Kaffee kochen.“ Sie musste eine Tablette gegen die Schmerzen schlucken. Als Paul ihr nacheilte, rollte Miriam die Augen.

„Versuch nicht abzulenken, nur weil es mal wieder um deine heilige Familie geht!“

Paul redete weiter auf sie ein, selbst als sie am Tisch vor ihren Kaffeetassen saßen. Sie vergaß, die Schmerztablette einzunehmen. Miriam hörte ihm nicht mehr zu, weil er sich ständig wiederholte. Hin und wieder fing sie Begriffe wie „habgierig“, „intrigant“ und „Schmarotzer“ auf. Ihr schwirrte der Kopf. Wütend schlug sie mit der Faust auf den Tisch.

„Jetzt reicht es aber, Paul! Ich will in Ruhe meinen Kaffee trinken. Ich werde den beiden nicht die Tür weisen. Wir brauchen sie.“

Zornig sprang er vom Stuhl auf. „Die werden alles an sich reißen und uns hinausdrängen. Dann bist du dein geliebtes Abendroth bald los! Und dann?“, brüllte er. Miriam stöhnte und schüttelte den Kopf. Paul konnte trotz allem überzeugend wirken. Hatte er vielleicht doch recht, und sie war blind? Wollte Jenny sich tatsächlich ihr Erbe zurückholen, auch wenn sie das Gegenteil beteuerte? Vorhin hatte sie ihre Schwester erlebt, wie sie die Angestellten herumkommandiert hatte. Nachdenklich starrte sie in die Kaffeetasse. Abendroth verlieren? Bei dem Gedanken wurde ihr das Herz schwer, auch, wenn sie jedes Jahr gegen die vielen Widrigkeiten kämpfte, die die Führung eines Gutes mit sich brachte, vor allem in finanzieller Hinsicht.

Als ihre Mutter schwerkrank gewesen war, hatte sie Einblick in die Bücher erhalten. Abendroth war hochverschuldet gewesen, denn nach Vaters Tod hatte Mutter das gesamte Familienvermögen nicht in den Erhalt des Anwesens, sondern in die Suche nach Jakob gesteckt. Dabei musste jedes Gebäude saniert werden. Um das Anwesen vor dem Ruin zu bewahren, hatte Miriam wie ein Tier geschuftet und jeden hartverdienten Cent in das Gut gesteckt. Allein deshalb würde sie alles tun, um Abendroth zu halten. Jennifer und Dave wussten von der desolaten Finanzlage und unterstützten sie nicht nur bei der Arbeit auf dem Gut, sondern auch bei der Suche nach einem geeigneten Investor. Oder halfen sie ihr nur, weil sie sich mehr versprachen? Verdammte Zweifel!

„Du hörst mir gar nicht zu!“, herrschte Paul sie an.

Miriam sah auf. „Paul, hast du vergessen, dass die beiden mir nach dem Unfall sehr geholfen haben?“

„Das hätten wir auch allein geschafft“, blaffte er zurück. Sie und Paul, der sich nie um die Belange des Gutes gekümmert hatte? Wie denn, wenn er seit der Eröffnung seines Ladens kaum noch hier war?

„Quatsch, hätten wir nicht. Das weißt du genau. Du warst mit deinem Laden beschäftigt, während ich im Krankenhaus lag.“

„Gut, jetzt bist du aber wieder so weit genesen, dass du dich selbst um Abendroth kümmern kannst. Hast du selbst zu Jennifer gesagt. Was wollen die dann noch hier? Sie sind hier nur geduldet, bis sie was Eigenes gefunden haben.“

Auch wenn sie von Jennifer enttäuscht gewesen war, wollte und konnte sie der Schwester nicht einfach die Tür weisen. Immerhin waren sie beide hier aufgewachsen.

„Nein! Ich werde die beiden nicht auffordern zu gehen. Und jetzt möchte ich von diesem Thema nichts mehr hören!“ Sie warf Paul einen Blick zu, der ihn hoffentlich verstummen ließ.

„Gut, wenn du es nicht anders willst. Ich halte es mit denen in dieser Enge nicht länger aus. Dann werde eben ich gehen.“

Paul stand auf und wollte die Küche verlassen.

Miriam hielt ihn am Arm zurück. „Paul! Sei nicht albern! Du willst mich doch nicht ernsthaft zu einer solchen Entscheidung zwingen?“ Sie forschte in seiner Miene und kam zu der Erkenntnis, dass er es tatsächlich ernst meinte.

„Doch. Es ist höchste Zeit dafür. Ich habe genug davon, deren Arroganz ertragen zu müssen. Komm damit alleine klar“, stieß er hervor.

„Wie stellst du dir das vor? Das ist jetzt auch Jennys Zuhause. Das Gut ist groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen …“

Paul tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust und brachte Miriam zum Stocken. „Ich wiederhole mich nur ungern. Entweder du wirfst die beiden raus oder ich gehe. Wir alle so eng beieinander … das wird nie funktionieren!“ Seine Worte sickerten nur langsam in ihr Bewusstsein. Diese endlosen Streitigkeiten, sie war es so leid. Jetzt auch noch ein Ultimatum.

Krampfhaft suchte sie nach Worten. Auf keinen Fall wollte sie ihren Mann ziehen lassen. Aber Jennifer und Dave zum Gehen zu überreden, brachte sie nicht übers Herz.

„Paul, bitte versteh’ doch …“

„Ich habe schon richtig verstanden! Also, dann werde ich eben gehen. Du hast es so gewollt“, fiel er ihr ins Wort.

„Du willst doch jetzt nicht wirklich Abendroth den Rücken kehren und mich mit allem hier allein lassen?“

„Soweit muss es nicht kommen. Schmeiß’ sie doch raus!“, schrie er und ballte die Hand zur Faust.

„Aber das geht nicht.“ Ihre Schwester und ihr Schwager besaßen das Anrecht, hier auf Abendroth zu wohnen. Sie hatte es ihnen zugestanden und konnte ein Versprechen nicht so einfach wieder zurücknehmen.

„Gut, dann ziehe ich jetzt aus.“

„Paul, bitte, das ist doch lächerlich! Bitte bleib’. Die Kinder brauchen dich. Wir brauchen dich.“ Bittend sah Miriam ihren Mann an.

„Ich fahre morgen Abend nach Amsterdam, treffe mich dort mit einigen Händlern. Ich gebe dir Zeit bis zu meiner Rückkehr. Sind deine Schwester und ihr Mann dann noch immer da, werde ich nicht mehr auf Abendroth bleiben. Das ist mein letztes Wort!“ Geräuschvoll zog er die Luft ein und bekräftigte seine Aussage mit einer entschiedenen Handbewegung.

Miriam konnte es nicht glauben. „Bis zu deiner Rückkehr? So kurzfristig? Spinnst du? Wie stellst du dir das vor?“

„Das ist deine Sache“, antwortete er ungerührt. „Also, es bleibt ganz dir überlassen.“

Hatte er das eben tatsächlich vorgeschlagen? Fassungslos sah sie zu ihm auf. Seine Worte hallten in einer Endlosschleife in ihr nach. Doch als sie in sein Gesicht sah, wusste sie, dass er es genau so meinte. „Paul, ich …“ Miriam schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals. „Bitte … lass uns doch vernünftig …“ Auf einem Mal wirkte er distanziert, fast fremd, dass sie fröstelte. Noch nie zuvor war ihr aufgefallen, wie hart seine Züge wirkten.

„Es ist alles gesagt.“ Mit diesen Worten wirbelte er herum und rannte die Treppe hinauf. Wie betäubt blieb Miriam zurück und hörte das schurrende Geräusch der Schiebetür vom begehbaren Ankleideschrank. Er hatte schon in manchem Streit angedroht, sie zu verlassen, doch es waren immer leere Drohungen gewesen. Dieses Mal sagte ihr aber ein Gefühl, dass er entschlossen genug war, es durchzusetzen. Aber sie brauchte ihn doch. Gerade jetzt. Mühsam erhob sie sich und humpelte in die Diele zur Treppe, um ihn aufzuhalten. Gut, dass die Kinder noch in der Schule waren und nicht auch noch diesen Streit erleben mussten. Alles begann sich in ihrem Kopf zu drehen. Miriam schwankte und hielt sich am Treppengeländer fest. „Paul, sei doch vernünftig und lass uns in Ruhe miteinander reden!“, rief sie hinauf und erhielt keine Antwort.

Kurz darauf polterte er mit seinem grauen Hartschalenkoffer die Treppe herunter. Wieder sah er fremd aus, und es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass es an den streng zurückgekämmten Haaren lag, die durch Gel glänzten. Schon einmal war er nach einem Streit zu seinem Bruder gefahren, bis seine Wut verraucht war. Aber das war am Anfang ihrer Ehe gewesen.

„Du hast dich gegen mich entschieden.“ Diese Entschlossenheit in seinem Blick.

Sie fühlte sich elend. Auf gleicher Höhe mit ihr stoppte er, und sie fasste nach seiner Hand. „Bitte, Paul. Wir können doch über alles reden.“ Sein Gesicht glich einer Maske und jagte ihr einen Schauder den Rücken hinab. Er konnte manchmal so stur sein und auf seiner Meinung beharren. Jetzt schien er hart wie Granit.

„Kapierst du endlich? Da gibt es nichts mehr zu diskutieren!“, brüllte er sie an, dass sie erschrocken ihre Hand zurückzog.

„Und jetzt lass mich durch. Ich muss hier raus, sonst ersticke ich noch in der Enge der Abendroths.“

Miriam war über seine abfälligen Worte erschüttert. „Wo willst … du denn hin … noch dazu … bei dem Wetter?“ Ihre Stimme zitterte. Heute fegte der Sturm zwar nicht ums Haus, aber die Straßen waren noch immer vereist, und der nächste Schneeschauer war vom Wetterbericht angekündigt worden.

Er blieb ihr eine Antwort schuldig und eilte zur Haustür. „Paul!“, rief sie hinterher und wollte ihm nachlaufen, was ihr verletzter Knöchel nicht zuließ.

Als die Tür hinter ihm mit einem Knall zuflog, sank Miriam auf die Treppe und weinte vor sich hin. Der Motor seines Wagens heulte draußen auf. Dann war es still.

Oft genug hatten sie sich in der Vergangenheit gestritten, aber nie war es so ausgeufert wie heute. Was war nur in ihn gefahren? Er war ihr fremd gewesen.

Entschlossen nahm sie nach einer Weile das Telefon neben ihr von der Konsole und wählte seine Nummer. Nach mehreren vergeblichen Versuchen rief sie in seinem Laden an. Als niemand abhob, fiel ihr ein, dass es noch früh war und erst in einer Stunde geöffnet wurde. Auch ihr Anruf bei seinem Bruder Henning verlief erfolglos. Sie würde es später noch einmal im Laden versuchen. Paul würde sicher zurückkehren, wenn er nicht mehr wütend war.

Noch immer auf der untersten Treppenstufe sitzend, sinnierte sie über ihre Ehe. Immer von Arbeit und Familie eingespannt, war ihr nie Zeit geblieben, darüber nachzugrübeln. Erst jetzt, wo er weg war, erinnerte sie sich, wie selten in den letzten Jahren gemeinsame Unternehmungen geworden waren. Wenn überhaupt, waren es Ziele gewesen, die sich nach den Wünschen der Kinder gerichtet hatten und nicht nach ihren Bedürfnissen als Ehepaar. Das musste sich ändern, wenn sie sich nicht verlieren wollten.

Ihr Handy vibrierte in der Hosentasche und riss sie aus der Grübelei. Zuerst wollte sie nicht annehmen, bis ihr das Display Susannes Nummer anzeigte. Als hätte die Freundin geahnt, dass es ihr schlecht ging.

„Hi, Sanne“, begrüßte sie sie mit belegter Stimme.

„Miri, hi. Was ist los? Hast du … geweint? Gab es wieder Streit mit Paul?“ Bei seinem Namen kämpfte Miriam erneut gegen die aufsteigenden Tränen. Es tat so gut, sich die Last von der Seele zu reden. Miriam erzählte vom Streit und dass Paul mit gepacktem Koffer das Haus verlassen hatte.

„Dieses Mal ist er gegangen. Er war so wütend, hat herumgebrüllt. Ich fürchte, er wird darauf bestehen, dass ich Jennifer und Dave vor seiner Rückkehr vom Gut schmeiße.“ Susanne zog scharf die Luft ein. „Nun mal ganz ruhig. Er wird sich sicher wieder abregen. Das kann er nicht von dir verlangen. Er weiß doch, wie viel dir deine Schwester und dein Schwager auf dem Gut geholfen haben.“

„Eigentlich weiß er auch genau, wie schwierig es ist, jemanden zu finden, dem ich die Leitung des Gutes anvertrauen kann.“

Eine Weile herrschte Stille. Susanne schien nachzudenken.

„Ich frage mich gerade, ob da nicht noch etwas anderes dahinterstecken könnte.“

Susannes Worte irritierten sie. „Wie meinst du das jetzt?“

„Es ist ja nicht das erste Mal, dass dein Mann so überreagiert. Mir kommt es so vor, als hätte er dieses Mal regelrecht einen Anlass gesucht, um Abendroth … um dich verlassen zu können.“

Susannes Worte versetzten Miriam einen Hieb in den Magen. „Was sagst du da? Weshalb sollte er das denn tun?“, fragte sie beklommen und dachte wieder daran, dass sie sich in den letzten Jahren langsam, ohne es zu spüren, auseinandergelebt hatten.

„Vielleicht weil er jemanden kennengelernt hat?“

„Du meinst, Paul betrügt mich? Nein, das hätte ich doch gemerkt.“ Sie dachte an sein Outfit von vorhin, das sie vorher noch nie gesehen hatte. Sollte Susanne wirklich recht haben?

„Also mich hätten seine vielen Geschäftsessen und die abendlichen Stunden in seinem Laden nachdenklich gestimmt. Kommt dir das denn nicht seltsam vor?“

Susannes Worte ließen Miriam schlucken. Hatte ihr Mann sie tatsächlich jedes Mal angelogen? Da waren wieder die Zweifel, die sie bislang erfolgreich unterdrückt hatte.

Doch dann beruhigte sie sich damit, dass sie Paul gut genug kannte, um eine Lüge schnell zu durchschauen. Hätte sie da nicht eine Nachricht auf seinem Handy, verschmierten Lippenstift am Hemdkragen oder den Duft fremden Parfüms an ihm bemerken müssen? Ein neues Aftershave war für einen eitlen Mann wie Paul nicht ungewöhnlich. Sie erinnerte sich an seine Worte, dass er sich als Geschäftsmann in Herford etablieren musste. Selbstständigkeit kostete viel Zeit, wie sie aus Erfahrung wusste. Außerdem vertraute sie ihm. Paul verbrachte Samstag und Sonntag immer mit ihr und den Kindern. Welche Geliebte verzichtete auf ein gemeinsames Wochenende? Nein, er hatte keine Affäre. Basta. In einem Kuhkaff wie Eggendorf, wo viel getratscht wurde, hätte sich diese Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitet. Irgendwann hätte sicher jemand eine Bemerkung fallen lassen. Dennoch waren die Zweifel in ihrem Inneren nicht totzukriegen.

„Sanne, du glaubst das doch nicht wirklich? Das würde er mir und den Kindern nicht antun.“ Doch wenn sie an seinen frostigen Blick vorhin dachte, war sie sich dessen nicht mehr ganz so sicher, auch wenn sie Susanne gegenüber alles abstritt.

„Hoffentlich hast du recht. Haben die Kinder euren Streit mitbekommen?“

„Zum Glück nicht. Sie sind noch in der Schule, und wenn ich mich recht erinnere, wollten sie noch bei Freunden vorbeischauen. Ich denke, sie kommen erst heute Abend zurück.“

„Gut. Rede vorher mit Paul. Bestimmt ist er wieder zu seinem Bruder gefahren.“

Miriam seufzte. „Nein, da ist er nicht.“

„Und im Laden?“

„Da nimmt keiner ab.“

„Sehr seltsam.“

Es ärgerte Miriam, dass ihre Freundin schon wieder auf einen möglichen Seitensprung anspielte.

„Der Laden hatte noch nicht geöffnet. Ich werde es gleich noch mal probieren.“

„Miri, du solltest hinfahren und mit ihm reden.“

„Ja, vielleicht mache ich das.“

„Vielleicht habt ihr dann guten Versöhnungssex, und alles ist wieder okay. Wann hattet ihr eigentlich das letzte Mal?“ Susanne war schon immer sehr direkt gewesen, aber sie hatten keine Geheimnisse voreinander.

Miriam schämte sich, ihrer Freundin zu gestehen, mit Paul schon zwei Jahre lang nicht mehr geschlafen zu haben. Familienprobleme und das Gefühl, all ihre Energie für Gut Abendroth zu verbrauchen, hatten den Wunsch nach sexueller Intimität immer in den Hintergrund gedrängt. Alles Ausreden, hätte ihre Freundin sicher geantwortet, wenn sie ihr die Gründe aufgezählt hätte. Für Miriam nicht, sie fühlte sich oft erschöpft.

„Da du nicht spontan antwortest, vermute ich mal, schon länger nicht. Stimmt’s? Ein paar Wochen, Monate oder gar … Jahre?“

Obwohl Susanne sie am Telefon nicht sehen konnte, spürte Miriam, wie sie flammendrot wurde.

„Äh, ja, ich weiß … nicht. Ich schreibe mir das doch nicht auf“, stotterte sie.

„Okay, verstehe.“ Miriam war heilfroh, dass Susanne nicht nachbohrte. „Was hast du jetzt vor?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich erst mal abwarten. Ich bin ganz durcheinander.“

„Soll ich mal mit ihm reden?“

Susannes Angebot war wirklich lieb. Aber Miriam glaubte, dass sich das zwischen ihnen wieder einrenken würde. Irgendwann würde er zur Vernunft und nach Hause kommen. Es kriselte in den besten Ehen, und in den zurückliegenden Jahren hatten sie sich immer wieder zusammengerauft.

„Nein, ich denke, ich komme allein klar.“

„Okay, aber wenn irgendetwas sein sollte, ruf’ mich an. Mein Angebot steht: vielleicht möchtest du mich mal in Hamburg oder an der Nordsee besuchen, wenn sich die Wogen bei euch wieder geglättet haben. Das hatte ich dir ja neulich erst wieder angeboten, und du hast es mir schon so lange versprochen.“

Natürlich würde sie das sehr gerne tun, aber sie konnte doch nicht alles stehen und liegen lassen, noch dazu jetzt, wo Jennifer sich zurückgezogen hatte.

„Danke dir, aber du weißt doch, dass ich hier nicht einfach wegkann. Das Gut, die Kinder …“

„Jenny und Dave sind doch da. Und Tobias und Sina mit vierzehn und fast sechzehn Jahren sind inzwischen auch alt genug, um ein paar Tage ohne dich klarzukommen.“

Mit wenigen Sätzen gestand sie Susanne auch von ihrer Auseinandersetzung mit Jennifer.

„Du hast dich von ihm aufhetzen lassen. Ich kenne Jenny noch von damals, sie war immer eine ehrliche Haut. Weshalb hat sie denn das Erbe ausgeschlagen? Das wäre doch blöd, wenn sie was beabsichtigen würde. Selbst nachdem ihr sie letztes Jahr so abweisend empfangen habt, hat sie dir geholfen. Nein, meine Liebe, du kannst dich bestimmt auf sie verlassen. Ich denke, es täte dir gut, mal aus dem Ganzen rauszukommen. Sich anderen Wind um die Nase wehen zu lassen. Überleg’ es dir.“ Susannes Vorschlag war wirklich verlockend. Strahlendblauer Himmel, Seeluft, der Geruch nach Salz und Fisch besaßen ihren Reiz, wäre da nur nicht ihr schlechtes Gewissen.

„Vielleicht im Sommer. Ich überleg’s mir noch“, antwortete Miriam ausweichend.

Susanne gab es auf, sie weiter zu drängen und berichtete noch ein wenig von ihrem neuen Job im Reisebüro. Miriam hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie brauchte endlich die Schmerztablette. Außerdem plante sie, zu Pauls Laden zu fahren.

Ihre Finger trommelten auf die Treppenstufe und hörten erst auf, als Susanne sich verabschiedete.

Miriam entschied sich, ihre Fahrt zu Pauls Laden noch ein wenig zu verschieben. Wenn seine Wut abgeebbt war, rechnete sie mit mehr Gesprächsbereitschaft. Sie schleppte sich in die Küche, nahm endlich die Tablette, die noch auf dem Tisch lag, und holte sich einen Eisbeutel.

Beim Sofa angekommen, drapierte sie Telefon und Handy neben sich auf dem Tisch. Nur falls Paul sich melden würde. Sie seufzte, denn das Eis linderte die Schmerzen. Doch die Unruhe in ihr wuchs, immer wieder schielte sie zu den Telefonen. Es bedrückte sie zunehmend, mit ihm im Streit auseinandergegangen zu sein. Miriam schloss die Augen und lehnte sich zurück. Ehe sie sich versah, war sie eingedöst. Sie schreckte auf, als das Telefon klingelte.

Unbekannt zeigte das Display an. Das konnte nicht Paul sein, der seine Nummer nie unterdrückte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Hallo?“, meldete sie sich und hörte erstickte Laute am anderen Ende. „Jakob?“, flüsterte sie ins Telefon.

„Nein“, antwortete eine Frauenstimme. Die Stimme klang jung, wie von einer Frau Mitte zwanzig.

„Wer sind Sie? Wie kann ich Ihnen helfen?“ Miriam hatte das Gefühl, dass sie gleich etwas hören würde, was ihr nicht gefallen könnte.

Die Frau schniefte und räusperte sich. Als müsse sie sich ein Herz fassen. „Frau Lessmann? Miriam Lessmann?“, fragte sie.

„Ja, das bin ich.“

„Ich muss Ihnen sagen …, weil ich glaube, … dass Sie es wissen … sollten …“, stammelte sie.

„Ja?“ Jeder Muskel von Miriams Körper spannte sich an.

„Dass … dass Ihr Mann Sie seit Jahren mit verschiedenen Frauen betrügt.“

Die Worte der Fremden echoten in Miriams Kopf, ohne dass sie denn Inhalt erfasste.

„Nur wenige Schritte von seinem Laden wohnt seine Geliebte. Fahren Sie nach Herford und überzeugen Sie sich selbst“, ratterte die Fremde herunter, als hätte sie diese Sätze auswendig gelernt und unzählige Male vorher aufgesagt. Miriam war so geschockt, dass ihr kein Wort über die Lippen kam. Eine Weile herrschte Stille in der Leitung, bevor die Frau in den Hörer schluchzte. „Ich … ich habe ihn geliebt. Ich … ich wusste nichts von Ihnen.“ Allmählich gewann Miriam ihre Fassung zurück und wollte mehr von der Fremden erfahren. Doch da hatte diese bereits aufgelegt.

Miriams Finger umklammerten fest das Telefon, während sie vor sich hinstarrte.

… dass Ihr Mann Sie seit Jahren mit verschiedenen Frauen betrügt.

Die Worte hallten unaufhörlich in ihrem Kopf. Miriam fühlte sich wie betäubt und realisierte nur langsam, was die Fremde zu ihr gesagt hatte. Paul betrog sie? Seine Geliebte wohnte in der Nähe des Ladens? Sollte Susannes Annahme sich tatsächlich bewahrheiten?

„Das ist nicht wahr“, flüsterte sie immer wieder und spürte einen salzigen Geschmack auf den Lippen. Jemand trieb mit ihr sicher einen bösen Scherz. Welchen Grund sollte Paul haben, sie seit Jahren zu hintergehen? Sie hätte doch etwas merken müssen. Wer war die Fremde, dass sie etwas Derartiges behaupten konnte? Weshalb tat sie ihr das an?

Die Anruferin hatte es geschafft, sie zu verunsichern. In ihrem Inneren fühlte sie sich taub und ihr Kopf war leer. Die Behauptung der Fremden würde sie so lange quälen, bis sie Gewissheit hatte. Zitternd wählte sie die Nummer von Pauls Laden. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis abgehoben wurde. Miriam wusste, dass Paul in seinem Laden zwei Frauen beschäftigte. Frau Kerber, die Ältere von beiden, nahm ihren Anruf entgegen. Miriam hatte sie bei der Eröffnung flüchtig gesehen. Eine Frau mittleren Alters, korpulent mit grauen Strähnen im dunkelblonden Haar und einem strengen Blick.

„Hallo, hier spricht Miriam Lessmann. Ich hätte gern meinen Mann gesprochen.“ Miriam war selbst darüber erstaunt, wie gelassen ihre Stimme klang. Frau Kerber zögerte, als ginge ihr durch den Kopf, was sie sagen sollte.

„Oh, Frau Lessmann, ich … äh, Ihr Mann ist leider heute Nachmittag … bei einem Kunden am Alten Markt und kommt nicht mehr herein. Haben Sie es schon auf seinem Handy versucht?“ Etwas in ihrer Stimme verriet Miriam, dass es Frau Kerber unangenehm war, darüber zu reden.

„Vielleicht weiß Ihre Kollegin Frau Vogt, wie ich meinen Mann erreichen kann?“

Frau Kerber räusperte sich. „Frau Vogt … äh … ja, sie … ist ebenfalls … außer Haus“, stotterte Frau Kerber.

Miriam wurde ganz flau im Magen. Sie musste es wissen. „Begleitet sie meinen Mann?“

Sybille Vogt war überaus attraktiv. Auf dem Eröffnungsempfang des Ladens hatte sie ein tief ausgeschnittenes, kirschrotes Kleid getragen, das ihre Rubensfigur mit dem üppigen Busen gut zur Geltung gebracht hatte. Miriam waren die bewundernden Blicke der männlichen Gäste nicht entgangen, die der Blondine gegolten hatten. Auch in Pauls Augen hatte es aufgeleuchtet, wenn ihm seine Angestellte ein Lächeln geschenkt hatte. Doch sie hatte dem nur wenig Bedeutung beigemessen, weil sie an Pauls unerschütterliche Treue glaubte. Außerdem war Sybille Vogt kaum älter als Sina. Sollte Paul …? Sie verbot sich, diesen Gedanken zu vollenden. Es war doch normal, mit seiner Angestellten Kunden zu besuchen. Miriam dachte wieder an die Anruferin, die kaum älter als Sybille Vogt klang. Befand sich ihr Mann vielleicht in der vielbesagten Midlife-Crisis und suchte seine Bestätigung bei jungen Frauen? Miriam schluckte. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Wenn Paul tatsächlich eine Vorliebe für Frauen wie Sybille Vogt besaß, konnte sie nicht mit ihnen konkurrieren.

„Die beiden gehen wohl oft gemeinsam zu Geschäftsessen?“, presste Miriam hervor und harrte gespannt auf Frau Kerbers Antwort.

„Oh, tut mir leid, aber … davon weiß ich leider nichts. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, es ist gerade Kundschaft gekommen. Auf Wiederhören, Frau Lessmann. Einen schönen Nachmittag“, antwortete die Angestellte hastig. Es klickte in der Leitung.

Wütend legte Miriam das Telefon beiseite. Die Verkäuferin hatte sie viel zu schnell abgewimmelt.

Paul war nicht im Laden, sondern besuchte einen Kunden. Mit Sybille Vogt. Sie hatte ihm immer vertraut und nie hinterfragt, ob er sie vielleicht anlog. Dieser verdammte Anruf hatte mit einem Schlag Zweifel geweckt. Unterhielt ihr Mann vielleicht eine Affäre mit seiner Angestellten? Die Blicke, die er der jungen Frau am Tag der Ladeneröffnung zugeworfen hatte …

Ihre Finger trommelten auf der Sofalehne. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, nach Herford zu fahren und den Anruf einfach zu ignorieren.

Paul würde den Kunden laut Frau Kerber am Alten Markt treffen. Das lag nur wenige Schritte vom Laden entfernt. Die Schmerzen im Knöchel waren weniger geworden, sodass sie wieder auftreten konnte. Entschlossen stand Miriam auf und lief zum Ausgang, streifte sich die Jacke über und griff nach dem Autoschlüssel am Schlüsselbrett.

Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern

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