Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern - Валентина Май - Страница 8
4.
ОглавлениеAls Miriam am nächsten Morgen aus ihrem kurzen, mit Albträumen behafteten Schlaf erwachte, schlief Paul noch tief. Sie sah zum Fenster. Es hatte zu schneien aufgehört. Ein roter Streifen am Horizont kündigte den Sonnenaufgang an. In den Stallungen brannte bereits Licht. In den letzten Wochen, in denen sie ihre Verletzungen auskuriert hatte, war Dave als Erster durch die Ställe gegangen, während sie für Paul und die Kinder Frühstück zubereitet hatte. Nach seinem gestrigen Verhalten verspürte sie jedoch keine Lust, mit ihm zu frühstücken. Stattdessen zog es sie in den Stall. Miriam liebte den Geruch von Heu und Stroh und das leise Schnauben der Pferde, wenn sie sie beim Eintreten begrüßten. Jetzt war es Zeit, sich den täglichen Aufgaben des Gutes selbst zu widmen. Lange genug hatte sie Jennifer und Dave die Arbeit überlassen. Die Aussicht, endlich wieder den Rundgang zu unternehmen, beschwingte sie.
Draußen war es so eisig, dass sich ihre Nase nach wenigen Atemzügen eingefroren anfühlte und ihr Atem in weißen Wolken vor dem Mund schwebte. Dennoch besaß die gefrorene Welt um sie herum einen gewissen Zauber, mit den Eiszapfen an der Dachrinne, die in den ersten Sonnenstrahlen des Tages wie Diamanten schimmerten, und den Zweigen im weißen Frostmantel.
Miriam quälte sich mit den Krücken über das vereiste Hofpflaster. Immer wieder rutschte sie weg, aber sie erreichte den Stall sturzfrei. Von drinnen hörte sie bereits das ungeduldige Scharren der Pferdehufe. Voller Vorfreude, endlich nach langer Abwesenheit wieder die Stallungen betreten zu können, lief sie schneller. Dave schaufelte bereits den Hafer vom Futterwagen in die Tröge der Pferde. Das war immer ihre Aufgabe gewesen. Eine Weile blieb sie im Türrahmen stehen und ließ den Blick durch den Stall schweifen. Mein Gott, wie sehr hatte ihr das alles hier gefehlt. Als Dave sie bemerkte, sah er auf.
„Hallo, Miri. Warum hast du nichts gesagt, dann hätte ich dich über den Hof geführt, du sollst dich doch noch schonen.“ Es klang besorgt. Doch Paul hatte erfolgreich Zweifel in ihr gesät, ob Daves Fürsorge wirklich echt war.
„Meine Schonzeit ist vorbei. Ich möchte mich wieder mehr um das Gut und die Pferde kümmern.“
Dave zog die Brauen hoch. „Aber übernimm dich bitte nicht. Dein Unfall war kein Pappenstiel …“ Er klang jetzt wie ihr Vater einst. Es schien fast so, als würde sie ihn stören.
„Mir geht es wirklich viel besser. Ich habe euch in den letzten drei Wochen viel zu viel zugemutet mit dem ganzen hier“, fiel sie ihm ins Wort.
„Das war doch selbstverständlich für uns.“ Dave lehnte sich an die Box. Miriam glaubte, einen Anflug von Mitleid in seinem Blick zu erkennen, als sein Blick zu ihren Krücken glitt. Mitleid konnte sie nicht ausstehen.
„Außerdem konnte ich proben, ob ich auch ohne dich klarkomme mit dem Ganzen.“ Er zwinkerte ihr grinsend zu. Die wollen sich das Gut nur unter den Nagel reißen, tönte Pauls Stimme wieder in ihrem Kopf. Sie forschte in Daves Miene. Sein Blick wirkte offen und ehrlich wie immer und zerstreute ihr Misstrauen. Sie durfte sich von Paul nicht so beeinflussen lassen.
„Ich bin euch dafür auch wirklich sehr, sehr dankbar. Doch ich muss wieder etwas tun, bevor mir noch die Decke auf den Kopf fällt. Ich habe das hier alles sehr vermisst“, antwortete sie lächelnd.
Dave schwieg und blickte wieder auf ihre Krücken, bevor er sie mit dem Ausdruck von Zweifel ansah.
Wahrscheinlich denkt er, dass ich nicht mal schaffe, den Stall zu durchlaufen. Aber da hat er sich getäuscht, das würde sie ihm beweisen. Wenn sie die Zähne zusammenbiss, würde es schon gehen. „Also, dann werde ich mal mit meinem Rundgang beginnen.“ Entschlossen setzte sie ihre Krücken vor.
Es war ein seltsames Gefühl, als sie durch die Boxengasse lief. Mit einem Mal fühlte sie sich wie eine Fremde. Vielleicht lag es daran, dass sich einiges geändert hatte. Die Tränkeanlage war neu, von Jenny und Dave ausgesucht. Die Pferdehalfter hingen nicht mehr wie sonst an den Boxentüren, und die Pferde hatten zum großen Teil die Boxen gewechselt. Das alles hatten ihre Schwester und Schwager nicht mit ihr abgesprochen. Ärger stieg in ihr auf. Sie hörte, dass Dave ihr folgte, was sie noch mehr aufbrachte.
„Ich … ich kann dich gern begleiten. Ich habe eh gleich meine Runde fertig“, bot er an. Miriam stoppte und schüttelte den Kopf. Diesen ersten Rundgang nach langer Zeit wollte sie allein absolvieren. „Danke, Dave, aber ich schaff’ das schon.“
„Okay. Wenn du mich brauchst, ruf’ einfach.“
Es war ja nicht das erste Mal, dass sie Blessuren davongetragen hatte und trotzdem ihren Verpflichtungen nachkam. Das schien er vergessen zu haben. „Deine Fürsorge in Ehren, aber du brauchst mich nicht wie ein rohes Ei zu behandeln. Ich bin keine Vollinvalidin. Wenn du dich erinnerst, habe ich sogar im vergangenen Jahr mit einem Steißbeinbruch longiert und Reitunterricht gegeben. Ich bin hart im Nehmen, wie du wissen solltest.“
Dave nickte. „Verstehe, ich wollte dich nicht bevormunden. Also dann … viel Spaß.“
Während sie weiterlief, spürte sie deutlich seinen Blick im Rücken. Sie mochte es nicht, Schwäche zu zeigen. Doch nach wenigen Metern kam ihr die Stallgasse bereits unendlich lang vor, und ihr brach Schweiß aus den Poren. Fast bereute sie, Daves Begleitung abgelehnt zu haben. Sie hätte sich bei ihm aufstützen können, denn mit jedem Schritt schmerzte ihr verstauchter Knöchel mehr. Da hatte sie sich überschätzt. Dennoch war sie zu stolz, um nach Dave zu rufen. Stattdessen unterdrückte sie den Schmerz und stapfte weiter. Eine Miriam von Abendroth kam stets ihren Pflichten nach.
Ihr morgendlicher Rundgang war immer ein Tageshighlight gewesen. Es tat so gut, den Geruch von Heu und Stroh zu schnuppern. Vor jeder Box blieb sie trotz der Schmerzen stehen, redete mit den Pferden und strich ihnen sanft übers Maul. Einige Tiere in diesem Stalltrakt waren im vergangenen Jahr nur knapp dem Tod entronnen. Zorn wallte wieder in ihr auf. Sie wollte nicht mehr an Melanie und deren rücksichtsloses Verhalten denken. Wie blind sie der Freundin vertraut hatte, während nur ihre Gutmütigkeit ausgenutzt worden war. Nicht nur, dass alle Pferde durch die ehemalige Freundin in Gefahr geraten waren, die Kosten für den Schaden musste sie zahlen. Ihre letzten Rücklagen waren draufgegangen. Melanie und ihr Vater waren untergetaucht. Vergeblich hatte Miriam auf Pauls Unterstützung gehofft. Doch in Pferde investierte er nicht. Das Gut war ihm nicht ans Herz gewachsen, wie sie es sich einst erhofft hatte.
Miriam betrat den neuen Stalltrakt und bereute es sofort, als sie vor Fairys verwaister Box stand. Von Jennifer hatte sie erfahren, dass vermutlich auf Wildtauben geschossen worden war. Wie oft hatte sie schon mit Jägern im Streit gelegen, die auf den Ländereien Abendroths unbefugt jagten! Leider war der Schütze nicht ausfindig zu machen gewesen. Was nützte ihr das Geld zur Entschädigung? Fairy war tot. Unwiederbringlich. Sie hatte gedacht, langsam darüber hinwegzukommen, doch in ihrem Magen hing ein Zementklotz, den sie zu ignorieren versuchte. Der Morgen ihres Ausrittes und der Unfall waren wieder erschreckend präsent. Sie zitterte am ganzen Körper. Schon unzählige Male hatte sie es bereut, an jenem Tag ausgeritten zu sein.
Tränen stiegen in ihr auf, die sie vor den Stallburschen unterdrückte. Niemals Schwäche vor den Angestellten zeigen, ein Satz, den ihr die Mutter bis zum Überdruss eingebläut hatte und an den sie sich selbst nach deren Tod noch hielt. Hastig wandte sie sich ab, bevor sie noch in Tränen ausbrach. Nur nicht mehr daran denken. Doch so leicht wollten die Bilder nicht aus ihrem Kopf verschwinden. Miriam summte eine Melodie, um sich abzulenken und schleppte sich zum Nebenausgang. Jetzt wollte sie nur noch zurück ins Haus.
„Die Pferde auf der linken Seite müssen ab elf in die Führanlage!“, kommandierte ihre Schwester lautstark im Hof. Das Einteilen des Pferdetrainings war immer nur Miriams Aufgabe gewesen, weil sie die Pferde von ihrer Entwicklung und ihrem Konditionsstand am besten kannte. In diesem Moment ärgerte es sie wieder, dass Jennifer entgegen ihrer Bitte die Entscheidungen allein getroffen hatte. Miriam trat vor und erkannte ihre Schwester, die im Kreis der Angestellten sehr selbstbewusst Anweisungen an die Pfleger und Trainer erteilte. Miriam kam sich ausgeschlossen vor. Unter dem Dutzend Pferde, die sich mit ihren Pflegern versammelt hatten, befand sich auch Livia. Die Stute hatte sich nur sehr langsam nach der Vergiftung und dem Tod ihres Fohlens erholt und stand am Anfang ihres Konditionstrainings. Wie konnte Jennifer das Tier bereits in die Führanlage schicken wollen! Das war viel zu früh. Miriam fühlte sich gezwungen, einzugreifen. Auch wenn Jenny und Dave sich die ganze Zeit über um das Gut gekümmert hatten, trug sie immerhin noch die Verantwortung für alles.
„Jenny, das schafft die Stute noch nicht. Piet, du gehst besser mit Livia in die Longierhalle“, ordnete Miriam stattdessen an.
Jenny, die ihr bislang den Rücken zugewandt hatte, fuhr mit fragendem Blick herum. „Miri, Livia ist körperlich so weit okay und braucht Ausdauertraining für die Muskeln.“
Die Bestimmtheit in Jennifers Widerspruch stachelte Miriams Ärger an. Jenny hätte wenigstens die Trainingsprogramme der Pferde und Reiter mit ihr besprechen können, wo sie doch wusste, wie viel ihr daran lag.
„Das sehe ich anders“, entgegnete sie. „Die Stute ist längst noch nicht wieder die Alte.“
„Aber stabil genug, um Konditionstraining zu absolvieren.“
Die Schmerzen in Miriams Knöchel waren unerträglich geworden, und der Frust, nicht gebraucht zu werden, quälte sie. Hatten Jennifer und sie früher verschiedene Meinungen geteilt, waren regelrecht die Fetzen geflogen. Das abendrothsche Temperament, wie Mutter es immer bezeichnet hatte.
„Erst wenn sie ihr Longierpensum erfolgreich überstanden hat, geht sie in die Führanlage“, bestimmte Miriam und blickte zu Jennifer hinüber, deren Miene versteinerte.
„Also, Piet, worauf wartest du noch? Ab mit Livia in die Longierhalle.“ Miriam, die einen Protest seitens ihrer Schwester befürchtet hatte, fühlte sich erleichtert, als diese sich ihrer Anordnung fügte. Der Pferdepfleger zögerte dennoch und blickte von einer Schwester zur anderen, bevor er achselzuckend die Stute in Richtung Longierhalle führte.
Miriam zitterte vor Schmerz. Ihre Finger umklammerten den Krückengriff, bevor sie sich umdrehte und zum Herrenhaus schlurfte.
„Miriam, bitte warte!“, rief Jenny ihr nach. Doch Miriam wollte nur noch zurück ins Haus und humpelte weiter. Ihr war jetzt nicht nach einer Diskussion mit der Schwester. Deutlich klangen noch Jennifers Befehle in ihren Ohren. Paul hatte recht, Jennifer und Dave spielten sich als Gutsbesitzer auf. Sie hatte ihnen zu viel freie Hand gelassen. Wie Melanie.
Findest du nicht, dass du ungerecht bist? Miriam ignorierte die protestierende Stimme in ihrem Inneren. Sie war gereizt und frustriert.
Jenny holte sie leicht ein und versperrte ihr den Weg. Sie trug das Bernsteinamulett, das sie einst Jakob als Talisman geschenkt hatte. Es reflektierte das Sonnenlicht. Jennifer hatte offensichtlich Miriams Blick gespürt, der auf dem Schmuckstück ruhte, denn ihre Finger spielten mit dem Anhänger. Miriam erinnerte sich an den Tag, an dem sie vor dem kleinen Laden in der Meller Innenstadt gestanden und sich gestritten hatten, wer von ihnen Jakob den Anhänger kaufen dürfe. Als seine Zwillingsschwester glaubte Jennifer, das Recht zu besitzen, und Miriam hatte nachgegeben. Der Bernsteinanhänger sollte Jakob auf seiner Klettertour am K2 beschützen. Offenbar hatte er ihn nie mitgenommen, sonst hätte ihn ihre Schwester nicht oben in seinem ehemaligen Apartment gefunden. Noch immer schmerzte sie jedes Detail aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit mit Jakob. Sie hatte ihren Bruder geliebt. Sein Verlust hatte sie ebenso tief getroffen wie den Rest der Familie. Der Gedanke an ihn deprimierte sie. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und Jennifer ließ alles schmerzhaft bewusstwerden.
„Ich muss mich ein wenig ausruhen“, presste Miriam hervor.
„Miri, ich wollte dir bloß sagen, dass ich Livia heute Morgen untersucht habe. Sie ist fit genug für die Führanlage. Ich hätte doch nie diese Entscheidung getroffen, wenn ich mich nicht zuvor vergewissert hätte. Ich fand es nicht gut, dass du eben vor Piet und den anderen meine Autorität untergraben hast. Ich dachte, du vertraust mir!“
Natürlich vertraute sie Jenny. Als Tierärztin. Dennoch ärgerte es sie, dass die Gutsbelange mehr und mehr ihrer Verantwortung entglitten waren. Keiner war mit Fragen an sie herangetreten.
„Du könntest deine Entscheidungen wenigstens vorher mit mir besprechen“, beschwerte Miriam sich. „Die meisten der Pferde sind hier geboren geworden. Livia gehörte schon immer zu den konstitutionell schwächeren Stuten, sie braucht mehr Zeit für die Rekonvaleszenz als andere hier.“
„Das weiß ich auch. Ich habe ja meinen Veterinärabschluss nicht in der Lotterie gewonnen.“ Jennifers Verärgerung war deutlich herauszuhören.
Miriam wurde nachdenklich. Vielleicht war sie zu weit gegangen. „Jenny, sorry, so habe ich es nicht gemeint“, entschuldigte sie sich. „Ich zweifle doch nicht deine Fachkompetenz an. Ich kenne die Pferde, ihre Tagesabläufe, ihre Reiter, Pfleger … Alles Wissen und Erfahrung …“
Jennifer hob abwehrend die Hände. „Schon gut, Miri. Weißt du, was ich glaube? Es geht hier nicht nur darum, dass du in den letzten Tagen nicht in alle Entscheidungen eingebunden warst, sondern du befürchtest, dein Einfluss könnte schwinden oder ich könnte mein Erbe doch antreten und die Leitung des Gutes übernehmen wollen.“
Miriam schnappte nach Luft. „Das ist doch Blödsinn“, stritt sie ab.
„So, ist es das? Seitdem ich wieder nach Abendroth zurückgekehrt bin, misstraust du mir. Selbst, nachdem ich das Erbe abgelehnt habe. Auch wenn das Ausschlagen noch nicht rechtskräftig ist, denke ich nicht im Traum daran, meinen Antrag zurückzuziehen. Mein Ziel ist nicht das Gut zu leiten, sondern mich als Tierärztin selbstständig zu machen. Das weißt du doch. Die kommissarische Leitung des Gutes durch Dave und mich war deine Entscheidung. Ich habe dich nicht darum gebeten. Ich versichere dir, stets bemüht gewesen zu sein, die Entscheidungen in deinem Sinn zu treffen. Wenn ich dich nicht eingebunden habe, wollte ich dich schonen und nicht ausbooten. Dave sagt, dir geht es besser. Dann solltest du dich wieder um alles selbst kümmern. Falls du Hilfe brauchst, weißt du ja, wo du mich finden kannst.“ Jennifer wollte sich abwenden, aber Miriam hielt sie zurück.
„Mensch, Jenny, ich war enttäuscht. Du hättest mit mir die Trainingspläne abstimmen können, den Einsatz der Pfleger und noch einiges mehr. Ich habe mich so ausgegrenzt gefühlt.“
Jennifer wirkte betroffen. „Das wollte ich wirklich nicht. Ich habe es nur gut gemeint. Ab sofort werde ich mich dann nur noch um meine Patienten kümmern, das verspreche ich.“ Jennifer klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, wie damals, wenn sie ihr beim Einreiten eines Pferdes Mut zugesprochen hatte.
Sie überreichte Miriam die Fernbedienung für die Führanlage, die abwehrend die Hand hob. Nicht einen Meter mehr könnte sie noch laufen.
„Gib’ sie bitte Piet. Er soll sie nachher bei mir abgeben.“ Seitdem ihre Schwester aus den Staaten zurückgekehrt war, gerieten sie immer wieder aneinander. Früher hatte Jennifer zu ihrer älteren Schwester immer bewundernd aufgesehen, und sie waren ein Herz und eine Seele gewesen. Jetzt beneidete Miriam sie. Um ihre Stärke, ihre Zielstrebigkeit und auch ein wenig um das Glück mit Dave.
Alle Abendroths sind stark, hatte ihre Mutter einst gesagt. Stark fühlte Miriam sich nicht, erst recht nicht, um die Bürde Abendroth zu tragen. Ein erstickter Aufschrei entfuhr ihrer Kehle, als sie ungewollt ihren lädierten Fuß belastete.
„Soll ich mir mal deinen Knöchel ansehen?“, fragte Jenny besorgt.
Miriam schüttelte den Kopf. Sie wollte jetzt allein sein.
„Später vielleicht. Ich muss das Bein nur hochlegen, dann geht es wieder.“
„Sicher? Okay. Wenn es schlimmer wird, ruf’ mich.“ Für einen Moment glaubte Miriam, ihre Schwester würde ihr vorschlagen, sie ins Haus zu begleiten, aber sie tat es nicht.
„Mach’ ich.“ Miriam verharrte auf der Stelle und sah Jennifer an. „Ich habe lange über den Anruf nachgedacht. Ob es wirklich Jakob sein kann … meinst du wirklich, diese Jelenow hat recht und er lebt noch?“
Jennifer war mit einem Mal blass. „Ich weiß es nicht. Bislang haben die Recherchen keine brauchbaren Ergebnisse geliefert. Aber wie dir sagt auch mir etwas tief in meinem Inneren, dass er tatsächlich noch lebt.“ Die Vorstellung erschien Miriam unwirklich. Sie alle hatten längst mit seinem Tod abgeschlossen. Was hatten sie Mutter mitleidig belächelt, die bis zu ihrem eigenen Ende immer fest daran geglaubt hatte, dass ihr Sohn noch lebt.
„Und wenn wir uns nur etwas einbilden? Weil wir es uns wünschen?“
Jennifer zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht, Miri. Aber ich werde alles dransetzen, es herauszufinden.“
Wenn Jakob tatsächlich überlebt hatte, könnte er das Erbe Abendroth für sich beanspruchen. Miriam schob den Gedanken beiseite. Hauptsache, ihr Bruder lebte.
Sie verabschiedeten sich voneinander, bevor Miriam sich die wenigen Schritte zum Eingang schleppte.