Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern - Валентина Май - Страница 6
2.
ОглавлениеLangsam sickerte ein gleichmäßiges Geräusch in Miriams Bewusstsein, das sie nicht zuordnen konnte. Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf eine weißgestrichene Zimmerdecke. Nur allmählich registrierte ihr Hirn, dass sie in einem Krankenhausbett lag, dessen Gitter zu beiden Seiten zu ihrem Schutz hochgezogen waren. Sie drehte den Kopf zur Seite. Ein stechender Schmerz im Nacken ließ sie zusammenzucken und die Halskrause verhinderte, dass sie sich auf die Seite drehen konnte. Miriam zwang sich, ruhig zu atmen, bis der Schmerz verebbt war. Danach überprüfte sie ihre Glieder. Es schien zwar nichts gebrochen, aber jeder Knochen in ihrem Leib schmerzte. Selbst das Atmen war eine Qual.
Als sie sich auf ihre Hand stützte, um sich hochzudrücken, piekte etwas. Eine Kanüle mit Schlauch steckte im Handrücken. Der Schmerz hinter ihrer Stirn brachte sie dazu, sich zurücksinken zu lassen. Krampfhaft versuchte sie sich ins Gedächtnis zurückzurufen, weshalb sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Der Ausritt mit Fairy! Sie schloss die Augen und versuchte sich zu besinnen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Nach und nach kehrten jedoch die Erinnerungsbilder zurück. Sie hörte die dumpfen Schläge der Pferdehufe auf dem gefrorenen Boden, spürte die kalte, klare Luft und die Bewegungen des Tieres unter ihr. Dann der Knall, der ihr durch Mark und Bein gefahren war und das Pferd erschreckt hatte. Ihre Hände begannen zu zittern und krallten sich in die Bettdecke. Noch einmal durchlebte sie die Furcht. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür und eine blonde Frau im weißen Kittel trat an ihr Bett.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie lächelnd. Auf der Anstecknadel an ihrem Revers stand ihr Name. Miriam kniff die Augen zusammen, aber die Buchstaben verschwammen zu grauen Schlieren.
„Ich … ich weiß nicht“, stammelte sie. „Was fehlt mir?“
„Sie hatten wirklich einen Schutzengel, Frau Lessmann. Ich bin Schwester Hilke. Schleudertrauma, Gehirnerschütterung und ein paar Stauchungen und Prellungen. Zum Glück ist nichts gebrochen.“ Die Schwester nahm vorsichtig Miriams Hand und prüfte, ob die Kanüle noch richtig saß.
„Wie lange bin ich denn schon hier?“
„Seit gestern.“
„Und … mein … Pferd?“ Miriam schluckte hart.
Die Miene der Schwester wurde ernst. „Ihr Schwager meinte, dass es eingeschläfert werden musste. Mehr weiß ich leider nicht. Wie gesagt, Sie haben riesiges Glück gehabt. Ihre Schwester kommt später eventuell noch einmal vorbei. Sie hat die ganze Nacht an Ihrem Bett gesessen. Ruhen Sie sich jetzt ein wenig aus.“
Die Worte der Schwester zogen an Miriam vorbei. Fairy war tot. Durch ihre Schuld. Tränen schossen in ihre Augen.
Schwester Hilke klopfte Miriam tröstend auf die Schulter. „Machen Sie sich keine Vorwürfe. Unglück schläft nicht.“
Miriam starrte vor sich hin. Es fiel ihr schwer, das Geschehene zu begreifen. Warum war sie Daves Rat nicht gefolgt? Ihr egoistisches Handeln hatte Fairy das Leben gekostet.
Die Schwester nahm schweigend ihre Hand, während Miriam um ihr Pferd weinte. Erst nachdem die Tränen versiegt waren, ließ die Schwester sie allein.
Miriam schloss die Augen. Sie sehnte sich nach Pauls Gesellschaft und nach ihren Kindern. Aber die Stunden schlichen dahin, und niemand schaute nach ihr.
Vor dem Schichtwechsel sah Schwester Hilke noch einmal bei ihr vorbei.
„Ach, Schwester, war mein Mann auch schon hier? Oder meine Kinder?“ Die Frage hatte ihr auf der Zunge gebrannt.
Die Schwester betrachtete sie mit gerunzelter Stirn und schien zu überlegen, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Nein, er war noch nicht hier, und Ihre Kinder auch nicht. Daran könnte ich mich erinnern. Haben Sie schon auf Ihrem Handy nachgeschaut, ob ein Anruf eingegangen ist?“ Die Schwester lief zum Tisch an der gegenüberliegenden Wand und reichte ihr anschließend das Handy. Während sie danach die Kissen aufschüttelte, suchte Miriam vergeblich nach einem Anruf.
Immer, wenn sie Paul brauchte, war er nicht da.
„Vielleicht tröstet es Sie, dass eine Frau Susanne Lenz mehrmals auf der Station angerufen hat, weil Sie nicht ans Handy gegangen sind.“ Schwester Hilke tätschelte mitfühlend ihre Hand.
„Ja, danke“, antwortete Miriam und rang sich ein Lächeln ab. „Ich werde sie nachher gleich anrufen.“
Nachdem die Schwester gegangen war, zögerte Miriam einen Moment, bevor sie schließlich Susannes Nummer wählte.
Es dauerte eine Weile, bis ihre Freundin endlich abhob. Ihre fröhlich klingende Stimme hob auch Miriams Laune. Wie schaffte Susanne es nur trotz allem, was ihr in ihrem Leben widerfahren war, stets gut gelaunt und optimistisch zu sein? Miriam beneidete sie darum. Susannes Ehe hatte nur knapp ein Jahr gedauert. Es klang fast wie ein Klischee, denn Susanne hatte ihren Mann Gordon mit seiner Sekretärin in flagranti erwischt. Seitdem wollte ihre Freundin sich nicht mehr dauerhaft binden. Zwar gab es den einen oder anderen Mann in ihrem Leben, doch für mehr als eine flüchtige Beziehung schien es nicht auszureichen. Im Jahr ihrer Scheidung verlor Susanne auch noch ihre Eltern und ihren Job. Sanne, wie Miriam sie liebevoll nannte, ließ sich dennoch nicht unterkriegen. Nach einigen Misserfolgen arbeitete sie nun als Wirtschaftsassistentin in einem großen Hamburger Unternehmen und genoss das Leben, einschließlich der Männer, in vollen Zügen.
„Hallo Sanne, ich bin’s, Miri.“
„Mensch, wie geht es dir, Liebes? Was machst du denn für Sachen? Ich bin froh, dass du dich endlich meldest. Jenny hat mir erzählt, was geschehen ist. Das ist ja furchtbar!“
„Ja, ist es.“ Miriam konnte und wollte jetzt nicht über ihre Stute sprechen, weil sie sonst erneut in Tränen ausgebrochen wäre. Das hätte Susanne dazu veranlasst, sich sofort ins Auto zu setzen und zu ihr zu fahren.
Ihre Freundin verstand Miriams Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Irgendwann, wenn du dir das von der Seele reden willst, bin ich für dich da.“
„Ich weiß. Danke dir.“ Ihre Freundin drängte sie nie. Eine der Eigenschaften, die Miriam sehr an ihr schätzte.
„Und wie ist es im Krankenhaus? Hast du schon allen Krankenpflegern und Ärzten den Kopf verdreht?“, versuchte sie ihre Freundin ein wenig aufzuheitern. Ein Kichern folgte, in das Miriam einstimmte. Typisch ihre Freundin. Es war richtig gewesen, sie anzurufen. Ihre gute Laune war ansteckend, und Miriam fühlte sich gleich etwas gelöster.
„Ja, klar … Was denkst du von mir? Erstens bin ich schon vierzig und zweitens glücklich verheiratet!“ Miriam lachte etwas gezwungen. Wenn Susanne wüsste, dass Paul sich weder bei ihr gemeldet noch sie im Krankenhaus besucht hatte. Die Freundin hatte sich nie Mühe gegeben zu verbergen, dass sie Paul nicht sonderlich mochte. Seltsamerweise war nur Melanie mit ihm klargekommen.
„Na und? Du glaubst doch nicht etwa, dass Paul keiner anderen Frau hinterhersieht?“
Susannes Worte versetzten Miriam einen Stich. Es gab Momente, in denen sie sich das ebenfalls gefragt hatte. Neulich hatte er von der Maklerin geschwärmt, die ihm seinen Juwelier-Laden vermittelt hatte. Ob Paul sie überhaupt noch attraktiv fand? Es war schon eine Zeit her, dass sie das Gefühl gehabt hatte, von ihm begehrt zu werden. Miteinander geschlafen hatten sie auch schon lange nicht mehr. Oft genug hatte sie sich gefragt, ob hinter seinen vielen Terminen vielleicht doch eine andere Frau stecken könnte. Aber immer, wenn sie ihn anrief, saß er mit Geschäftsfreunden in einem Restaurant, wie sie aus den Hintergrundgeräuschen und den Gesprächsfetzen schloss. Nichts deutete auf ein heimliches Date hin. Sie hätte auf jeden Fall gespürt, wenn er ihr untreu gewesen wäre.
„Auch wenn er attraktiven Frauen hinterherschaut, muss das nicht bedeuten, dass er mich betrügt“, verteidigte sie ihren Mann.
Susanne seufzte in den Hörer. „Hoffentlich hast du recht. Ich lege jedenfalls für keinen Mann mehr die Hand ins Feuer seit meiner Scheidung vom ach so treuen Gordon!“
„Verstehe ich doch.“ Susanne war durch die Hölle gegangen. Sie hatte Gordon sehr geliebt.
„Ich will nicht, dass es dir einmal genauso ergeht wie mir, Miri.“
Susannes Fürsorge war wirklich rührend. „Danke, dass du dir solche Gedanken um mich machst …“
„Na, hör’ mal. Du bist meine beste Freundin!“
Während sie sich noch etwas weiter unterhielten, fühlte Miriam sich immer besser, sodass sie für eine Weile ihren Kummer vergaß.
„Eines muss ich dir unbedingt noch erzählen“, warf Susanne ein, als sie sich dem Ende ihres Gespräches näherten.
„Na, nun bin ich aber gespannt.“ Sicher würde Susanne wieder eine Anekdote aus ihrer neuen Heimatstadt Hamburg zum Besten geben. Es musste wirklich eine aufregende Stadt sein, nach allem, was ihre Freundin dort erlebte. Manchmal beneidete sie Susanne um ihr ungebundenes Leben. Andererseits würde sie ihre Familie und Abendroth für nichts und niemanden in der Welt verlassen.
„Ich habe einen neuen Nachbarn. Nicht in Hamburg, sondern in Duhnen an der Nordsee, wo mein Ferienhaus steht. Ein Traumtyp, sage ich dir.“ Susanne seufzte. Das klang fast so, als hätte sich ihre Freundin tatsächlich verliebt.
„Du gerätst ja richtig ins Schwärmen. Pass bitte auf, dass du dich nicht Hals über Kopf in den verknallst. Einen zweiten Gordon brauchst du nun wirklich nicht in deinem Leben.“ Sie gönnte Susanne ein neues Glück, aber nur mit dem Richtigen.
„Wenn ich nicht diese Erfahrungen mit Gordon gemacht hätte, würde ich mit diesem Schnuckelchen vielleicht wirklich etwas anfangen. Andererseits … mein Singleleben erfüllt mich. Keiner, der mir Vorschriften macht. Das ist viel wert. Ich finde Robert einfach attraktiv. Na und? Ich könnte mir vorstellen, dass er dir auch gefallen könnte.“
„Robert?“
„Na, mein Nachbar. Ich schick dir schnell ein Foto aufs Handy, von unserer letzten Strandparty.“ Miriam rollte die Augen. Andere Männer interessierten sie nicht die Bohne, sie hatte Paul, das reichte ihr. Dennoch fehlte Miriam es manchmal, dass ihr Mann sie nie voller Verlangen in die Arme zog, wie er es früher getan hatte. Paul betrügen? Kam für sie dennoch nicht infrage.
Pling! Miriams Handydisplay zeigte den Eingang einer Nachricht an.
„Schon angekommen?“ Susanne kicherte.
Miriam wusste, dass ihre Freundin nicht eher lockerlassen würde, bis sie sich nicht zu diesem Mr Wunderbar vom Nordseestrand geäußert hatte. Zugegeben, ein wenig neugierig war sie schon darauf, wie dieser Nachbars-Typ aussah. Sie öffnete die Nachricht. Was sie danach sah, verschlug ihr die Sprache. Der Kerl war hollywoodreif. So hätte sie sich Susannes Nachbarn nicht vorgestellt. Er ähnelte einem kalifornischen Sänger in jungen Jahren, für den ihre Mutter einst geschwärmt hatte. Miriam musste schlucken. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. So attraktiv, war er für Frauen ihres und Susannes Alters zu jung. Männer wie er sahen sich nicht nach älteren Frauen um, sondern nach Zwanzigjährigen mit perfekten Bikinifiguren ohne Cellulite oder Schwangerschaftsstreifen. Da konnte selbst die junggebliebene Susanne nicht mithalten. Wenn sie sich mit der Freundin verglich, kam sie sich vor wie ein graues Hausmütterchen. Hoffentlich war Sanne nicht schon über beide Ohren in den Kerl verliebt.
Miriam betrachtete noch immer fasziniert das Foto. Der offene Blick, das warme Lächeln. Sehr anziehend. Kein Gesicht war perfekt, auch seines nicht. Seine Nase war etwas zu schief geraten und über seine Oberlippe zog sich der helle Strich einer Narbe. Dennoch minderte es keinesfalls seine Attraktivität. Hör’ auf zu fantasieren! Andere Männer waren grundsätzlich tabu. Selbst wenn sie nicht verheiratet wäre, käme ein weitaus jüngerer Mann für sie nie infrage. Ihre Freundin musste sich diesen Nachbarn ganz schnell aus dem Kopf schlagen, wenn sie nicht unglücklich werden wollte.
„Ja, ganz nett das Foto“, log Miriam.
„Ganz nett? Robert sieht nicht nur heiß aus, er ist auch sehr warmherzig. Etwas, das Paul, offen gesagt, fehlt. So unfreundlich, wie er immer ist.“
„Das liegt nur an dem vielen Stress.“ Miriams Verteidigung klang selbst in ihren Ohren lahm.
„Dass du immer Entschuldigungen für deinen Mann hast! Der hat es nicht verdient, vor allem wenn man bedenkt, wie er immer mit dir umspringt. Du wirst doch nicht etwa nach deinem Krankenhausaufenthalt gleich wieder in die Arbeit auf dem Gut einsteigen? Du könntest ein paar Tage zu mir kommen.“ Ihre Freundin hatte gut reden, sie konnte die Beine hochlegen, wenn ihr danach war. Aber sie als Leiterin des Gutes war für alles verantwortlich. Freizeit war ein Fremdwort. Selbst wenn sie einmal nicht für den Betrieb arbeitete, gab es genügend familiäre Pflichten zu erledigen. Als Miriam darüber nachdachte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie und Paul kaum Zeit miteinander verbrachten. Seit Mutters Erkrankung waren sie nicht einmal mehr gemeinsam in den Urlaub gefahren. Jedes Jahr das Gleiche: Paul und die Kinder waren ein paar Tage irgendwo an die Ostsee gereist, während sie zu Hause das Gut geleitet hatte. Auch wenn Dave ihr eine Menge Arbeit abgenommen hatte, die Entscheidungen waren ihr Ressort gewesen.
„Sanne, wie stellst du dir das vor? Ich leite einen Gutshof!“
„Jeder ist entbehrlich. Jetzt sind doch Jennifer und Dave da. Du kannst ihnen beruhigt alles überlassen.“
Genau das war der springende Punkt. Miriam befürchtete, dass ihr Abendroth immer mehr entglitt.
„Sanne, dein Angebot ist wirklich lieb, aber sobald ich zu Hause bin, werde ich mich gleich wieder in die Arbeit stürzen.“
„Versprich’ mir, dass du dir wenigstens ein paar Tage Auszeit gönnst! Und wenn du es dir anders überlegen solltest, kannst du gern mein Ferienhaus nutzen, um dich zu erholen.“
„Danke, aber ich denke, dass ich das nicht brauche. Vielleicht komme ich in der Sommersaison, wenn hier auf dem Gut Pause ist.“ Miriam hatte ihre Freundin bereits zweimal an der Nordsee besucht, in dem kleinen, gemütlichen Reetdachhäuschen, nur wenige Schritte vom Strand entfernt. Wenn die Verantwortung für das Gut nicht wäre, hätte sie Susannes Angebot wahrscheinlich angenommen.
„Das wäre wirklich schön. Aber das glaube ich erst, wenn du wirklich da bist.“
Die beiden Freundinnen sprachen noch eine Weile über Gut Abendroth, über Miriams Kinder und Susannes Job, bis Miriam sich erschöpft fühlte und das Telefonat beendete.
Als sie das Handy in die Schublade zurücklegte, war sie müde, ihr Kopf schmerzte, aber sie fühlte sich aufgeheitert.
Kurz darauf schlief sie sein und träumte von Susannes Nachbarn, wie er sie küsste. Als Miriam später aufwachte, schüttelte sie den Kopf über diesen unmöglichen Traum. Alles nur wegen Susanne!