Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern - Валентина Май - Страница 7

3.

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Wann war sie zum letzten Mal glücklich gewesen? Ihr Telefonat mit Susanne im Krankenhaus vor drei Wochen hatte Miriam sehr nachdenklich gestimmt. So sehr, dass sie schon die wildesten Träume hatte, in denen auch der attraktive Nachbar der Freundin eine entscheidende Rolle spielte. Sicher lag es nur daran, dass sie Paul vermisste. Wie gern hätte sie sich jetzt an ihn geschmiegt, wo draußen der Schneesturm ums Haus fegte. Fröstelnd streckte Miriam ihre Hände zum Kamin vor. Das Feuer konnte sie zwar wärmen, aber nicht die Kälte aus ihrem Herzen vertreiben. Sie war es satt, sich ständig einsam zu fühlen, sie wollte mit Paul wieder glücklich sein wie am Anfang ihrer Beziehung. Dazu musste sie ihr Leben ändern. Raus aus dem täglichen Einerlei mit den ganzen Verpflichtungen, wenigstens für eine Weile. Sie hätte Susannes Vorschlag, sie zu besuchen annehmen sollen. Zusammen mit Paul. Doch war sie sich nicht so sicher, dass ihr Mann sich von seinem neu eröffneten Laden loseisen konnte.

Seit Mutters Tod vor einem halben Jahr war er ständig von früh bis spät unterwegs, dass sie fast glaubte, allein in diesem riesigen Herrenhaus zu leben. Paul war ständig gereizt, dass sie Probleme lieber für sich behielt, wenn sie keinen Streit haben wollte.

Wären Jennifer und Dave nicht stets für sie da gewesen, vor allem nach dem Unfall, hätte sie nicht gewusst, wie es mit dem Gut weitergehen sollte. Oft genug hatte sie wegen der beiden das schlechte Gewissen geplagt, denn ihretwegen hatten sie sogar die Flitterwochen verschoben.

Nicht nur Paul, sondern auch die Kinder beschritten eigene Wege, verbrachten immer mehr Zeit mit ihren Freunden als auf dem elterlichen Hof. Ihre jüngste Schwester Stephanie wohnte in Berlin, zu weit weg, als dass sie sich mit ihr einfach treffen hätte können. Am Telefon war sie oft kurz angebunden.

Miriam sah durchs Fenster. Bei Jennifer und Dave brannte noch Licht. Sie war froh, mit Jennifer Waffenstillstand geschlossen zu haben, auch wenn es noch immer an ihr nagte, dass Mutter ursprünglich ihrer Schwester das Gut zugedacht hatte. Sie war Jenny dankbar dafür, dass sie das Erbe abgelehnt und ihr Abendroth überlassen hatte.

Miriam zog die Knie an den Körper und griff nach dem Glas Rotwein, das neben ihr auf dem Tisch stand. Die letzten Jahre mit Mutters Krankenpflege und die Führung des Gutes hatten ihr alles abverlangt und sie ausgelaugt. Sie hatte auf dem Hof gerackert, von früh morgens, bis es dunkel wurde, bis ihre Hände von Schwielen übersät gewesen waren. Alles nur, um Abendroth vor dem Bankrott zu bewahren. Das Riesenloch im Etat, das sie ihrer Mutter zu verdanken hatte, und der Kampf ums Gut im vergangenen Jahr hatten ihr zum Schluss die letzte Kraft geraubt. Miriam hatte immer geglaubt, dass ihre Kinder in ihre Fußstapfen treten würden. Doch weder ihr Mann Paul noch Sina oder Tobi zeigten wirkliches Interesse an dem Gut. Wozu opferte sie sich überhaupt auf? Ihr war klar, sollte ihr etwas zustoßen, würde ihre Familie Abendroth verkaufen. Das Gut in fremder Hand? Allein Gedanke daran schmerzte.

Draußen heulte noch immer der Sturm ums Haus und rüttelte an den Fensterläden. Das Gebälk des alten Herrenhauses knarrte in allen Ecken. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. Waren das nicht Schritte oben im ersten Stock? Sie drängte sich tief in die Ecke des Maxisofas und zog die Decke bis zum Kinn hinauf. Paul würde sie auslachen, wenn er sie jetzt so sehen könnte.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Kurz nach Mitternacht. Er hatte doch in der SMS geschrieben, dass er spätestens gegen zehn zu Hause wäre. Vielleicht war er in einer Schneewehe stecken geblieben oder von der glatten Straße in einen Graben gerutscht? Sie neigte stets dazu, sich Horrorszenarien auszumalen und erntete dafür immer seinen Spott.

Der Sturm blies immer heftiger Schneeflocken gegen die Scheiben. Durch die starken Schneefälle herrschte seit gestern im gesamten Osnabrücker Land Verkehrschaos.

Dabei war die Region erst im vergangenen Herbst von einem Sturm gebeutelt worden. Abendroth war auch betroffen gewesen. Noch heute zahlte sie für die Schadensreparaturen.

Nicht auszudenken, wenn noch mehr Schäden dazukamen. Das Dach der sanierungsbedürftigen Scheune könnte unter der Schneelast nachgeben. Nur nicht schwarzsehen!

Wenig später flauten die Sturmböen überraschend ab. Es herrschte Stille, nur das Feuer knisterte. Miriam goss Rotwein in ihr Glas nach und nippte daran. Weil ihr der Wein zu süß war, wollte sie das Glas zurückstellen.

Das laute Schrillen des Telefons ließ Miriam erschrocken zusammenfahren, sodass der Wein fast übergeschwappt wäre. Ihr Herz trommelte wie wild. Paul! Sie stellte das Glas weg und humpelte in den Flur zur Konsole, auf dem das Telefon stand. „Lessmann.“ Stille am anderen Ende der Leitung. Vielleicht hatte sich jemand verwählt? „Hallo?“ Oder war durch den Sturm die Verbindung gestört? „Paul, bist du das? Dann sag’ doch was!“ Wieder erhielt sie keine Antwort, was sie ärgerte. Sie wollte gerade auflegen, als sie das Keuchen vernahm. Es hörte sich nicht nach Paul an. Angst kroch eisig ihren Rücken hinauf. „Das ist ein ganz blöder Scherz. Ich lege jetzt auf.“ Das Herz schlug Miriam bis zum Hals. Ein Klicken in der Leitung verriet, dass der andere ihr zuvorgekommen war. Welch übler Telefonstreich. Und wenn es doch Paul gewesen war, der schwer verletzt irgendwo lag und nicht reden konnte? Nein, der würde sie eher auf dem Handy anrufen.

Miriam schleppte sich mit dem Telefon in der Hand zum Sofa zurück und wählte Pauls Handynummer. Das Rauschen in der Leitung ließ sie aufgeben. Sie verzichtete auch auf eine weitere Nachricht.

Kaum saß sie wieder auf dem Sofa, klingelte das Telefon erneut. Miriam zögerte eine Weile, bevor sie sich entschied, abzunehmen. Und wenn es doch Paul war? Dieses Mal meldete sie sich nicht, sondern lauschte nur. Sie hörte den Anrufer wieder nur keuchen. Leg’ auf! Wie gerne würde sie ihrer inneren Stimme folgen, doch sie konnte es nicht. Ein eisiger Schauder rann ihr Rückgrat hinab, als er zu pfeifen begann. Woher kannte er das Gute-Nacht-Lied, das Mutter ihnen immer vorgesungen hatte. Miriam zitterte am ganzen Leib. „Jakob? Jakob, bist du es?“, flüsterte sie ins Telefon. Der Anrufer legte einfach auf. „Jakob“, flüsterte sie, während sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln.

Im selben Augenblick krachte etwas im Obergeschoss auf den Boden. Erschrocken schrie Miriam auf. Das Telefon glitt ihr aus der Hand und polterte auf den Boden. Dann war es still. Einbrecher? Aber sie hatte doch vorhin selbst geprüft, ob alle Fenster geschlossen waren. Das machte sie immer, wenn sie allein zu Hause war. Dann fiel ihr der Nebeneingang ein, den sie nicht kontrolliert hatte!

Leise und zitternd erhob sich Miriam vom Sofa, humpelte zur Küche, griff sich ein Messer aus der Schublade und lief weiter zum Vorratsraum, aus dem die Tür in den Garten hinausführte. Ihr Herz klopfte wie wild. Jede Faser ihres Körpers war angespannt. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass die Tür geschlossen war. Keine einzige Schneeflocke, kein Wassertropfen war hereingeweht. Für endgültige Gewissheit drückte sie vorsichtig die Klinke herunter und atmete erleichtert aus. Doch sie hatte im obersten Stockwerk etwas gehört. Für einen Moment erwog sie, nachzusehen. Doch weil sie nicht die Mutigste war, verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Von der Küche schlich sie zur Treppe in der Diele und blickte angstvoll hinauf, während ihre Hand an der Wand den Lichtschalter suchte. Als sie ihn fand und drückte, gab es einen leisen Knall, und es blieb dunkel. Miriam presste die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien. War nur eine Sicherung herausgesprungen oder hatte sie jemand manipuliert? Mit dem Messer noch immer in der Hand schlich sie rückwärts ins Wohnzimmer zurück, hob das Telefon auf und wählte mit zittrigen Fingern Jennifers Nummer. Drüben in deren Wohnung war bereits alles dunkel. Es missfiel ihr, Schwester und Schwager mitten in der Nacht zu stören, aber ihre Furcht überwog. Während das Rufzeichen ertönte, ging das Gepolter von Neuem über ihr los. Miriam zuckte zusammen, das Messer in ihrer Hand zitterte. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis sich Jennifer endlich schlaftrunken meldete.

„Miri? Ist was passiert? Es ist mitten in der Nacht.“

„Im Haus … über mir … es hat laut gepoltert. Ich glaube, jemand ist bei uns … eingebrochen …“, flüsterte sie in den Hörer.

„Warum lässt du Paul nicht nachsehen?“ Der Vorwurf in Jennifers Stimme war nicht zu überhören.

„Weil er noch nicht zurück ist“, flüsterte Miriam weiter und hörte Jennifer am anderen Ende scharf Luftholen. Obwohl ihre Schwester nicht weiter nachfragte, fühlte Miriam sich gedrängt, das Fernbleiben ihres Mannes zu erklären. „Er ist bei einem Geschäftsessen in Herford.“

„Du hast doch die Türen und Fenster alle geschlossen?“

Miriam antwortete nicht, sondern lauschte, als sie über sich Schritte hörte.

„Was ist? Bist du noch dran, Miri?“, fragte Jennifer hörbar genervt.

„Ja … ja, habe ich. Er muss im Obergeschoss eingebrochen sein. Vielleicht über den Balkon in meinem Schlafzimmer. Glaubst du mir etwa nicht?“ Miriam sah zur Decke auf. Über ihr aus dem Schlafzimmer tönte ein dumpfes Rollen.

„Okay, wir sind gleich bei dir“, versprach Jennifer seufzend und legte auf.

Wenn es ein Einbrecher war, musste sie damit rechnen, dass er auch nach unten kam. Sie dachte an die letzte Folge der Fernsehsendung Aktenzeichen XY, in der eine Frau von einem Einbrecher überwältigt und umgebracht worden war. Sie schauderte. Mit dem Küchenmesser in der Hand fühlte sie sich etwas sicherer. Auf Zehenspitzen näherte sie sich der Treppe, stoppte und schaute wieder ins Dunkel hinauf. Miriam hielt den Atem an. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie glaubte, der Einbrecher könne es hören. Nichts war zu erkennen.

Jennifer wäre sicher nicht davor zurückgeschreckt, auch im Dunkeln hinaufzugehen und nachzusehen. Sie war schon immer die Mutigste der Abendroth-Schwestern gewesen. Herrgott, Miriam, dagegen bist du wirklich feige!

Erst vor kurzem war Jennifer einem Einbrecher auf den Scheunenboden gefolgt. Allein und unbewaffnet! Miriam beschloss, lieber auf Jennifer zu warten. Die Minuten zogen sich zäh dahin. Schritte oben an der Treppe erschreckten sie so sehr, dass sie einen Satz rückwärts machte und ins Taumeln geriet. Ein stechender Schmerz schoss ihr durchs Bein. Fast hätte sie das Messer fallen lassen. Ihre eiskalten Finger krallten sich fester um den Griff und hielten es zur Verteidigung vor den Körper. Sollte der Einbrecher doch kommen, sie würde sich wehren. Miriam kniff die Augen zusammen und suchte im Dunklen vergeblich nach einer Kontur, bevor sie all ihren Mut zusammenraffte. „Kommen Sie herunter! Ich bin bewaffnet! Und die Polizei habe ich auch alarmiert!“ Letzteres war zwar gelogen, aber es beruhigte sie irgendwie.

Keine Antwort. Kein Geräusch, bis auf den tosenden Sturm draußen. Ein plötzliches Scharren über ihr ließ sie erstarren. Etwas polterte die Treppe herunter direkt auf sie zu. Mit einem Aufschrei sprang Miriam entsetzt nach hinten und prallte gegen einen Körper. Erschrocken schrie sie auf. Ein eisiger Luftzug streifte ihren Nacken.

„Was zum Teufel treibst du hier, Miriam?“ Paul klang halb verwundert, halb verärgert. Miriam drehte sich nicht um, sondern deutete die Treppe hinauf. Auf der untersten Stufe lag Tobias’ Football. „Da … da oben ist jemand. Er hat … den Ball … heruntergestoßen“, stotterte sie und schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals.

„Wie? Da oben ist jemand?“

„Wenn ich es dir doch sage! Ein Einbrecher.“

„Der einen Football nach unten wirft?“ Er nahm sie nicht ernst, das ärgerte sie.

Paul trat vor und sah sie an, als würde er an ihrem Verstand zweifeln. Dann schweifte sein Blick über ihre Schulter zu Sofa und Tisch. Eine steile Falte auf seiner Stirn erschien. Sie ahnte, was er entdeckt hatte.

„Wie viel hast du getrunken?“ Er beugte sich herab und schnüffelte an ihr.

Seine Frage brachte sie auf. Er konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass sie zu tief ins Glas geschaut hatte! „Einen Schluck nur.“ Pauls Miene drückte Zweifel aus. Er schaffte es doch immer wieder, sie zu verunsichern und ihr ein schlechtes Gewissen zu vermitteln.

„Wer weiß, ob du nicht bereits eine Flasche geleert hast.“ Es war immer dasselbe, Paul glaubte ihr nicht. Wütend wollte sie sich gerade zu ihm umdrehen, als ein graues Fellknäuel die Treppe herunterraste und an ihnen vorbei ins Wohnzimmer schoss. Schuftel, der graue Kater, der vor zwei Tagen wegen des Kälteeinbruchs eine geschützte Bleibe im Stall gefunden hatte. Die Katze musste sich unbemerkt hereingeschlichen haben, als sie am Nachmittag ihre Stiefel draußen vor der Tür vom Schnee abgeklopft hatte. Miriam atmete auf.

„Sag mal, bist du jetzt völlig durchgeknallt? Wegen der dämlichen Katze machst du hier solch einen Aufstand? Was hat das Vieh im Haus zu suchen? Spielst du wieder die Samariterin für bedürftige Tiere? Du weißt doch ganz genau, dass ich diese Katzenviecher nicht ausstehen kann!“, brüllte Paul und nieste anschließend. Die Eiskristalle auf Kragen und Schultern seines anthrazitfarbenen Wollmantels rieselten auf den Boden.

Ehe Miriam etwas darauf erwidern konnte, hörte sie hinter ihnen die Stimmen von Jennifer und Dave.

„Ach, Paul, du bist auch mal zu Hause.“ Jennifer gab sich keine Mühe, ihre Abneigung zu verbergen.

„Was wollt ihr denn hier?“, blaffte Paul die beiden an.

„Sie sind hier …, weil … weil ich sie angerufen habe. Wegen der Geräusche“, erklärte Miriam.

„Die ein blödes Katzenvieh verursacht hat!“, rief Paul aus und lachte hämisch.

„Und? Hast du noch was gehört, Miri?“, wandte sich Dave in mildem Tonfall an Miriam, bevor er Paul mit abweisendem Blick musterte.

Auch Jennifer zog verärgert die Stirn kraus.

Miriam schüttelte den Kopf und wollte sich Schwester und Schwager erklären, aber ein warnender Blick Pauls ließ sie verstummen. Eigentlich hatte sie Jennifer auch von dem Anruf und ihrer Vermutung erzählen wollen, aber in Gegenwart ihres Mannes und in der spannungsgeladenen Atmosphäre verschob sie ihr Vorhaben auf später.

„Nun bin ich ja da.“ Paul versperrte Dave den Weg, als dieser in die Diele treten wollte. Miriam fing Daves wütenden Blick auf und legte ihre Hand auf Pauls Arm, weil sie eine Eskalation befürchtete. „Paul, bitte …“

Dave sah abfällig grinsend zu Paul herab, der Miriams Hand unwirsch abschüttelte.

„Ihr könnt wieder in eure Wohnung gehen.“ Paul zog die Eingangstür weiter auf und schob Jennifer am Ellbogen in Richtung Ausgang. Miriam sah Daves warnenden Blick, der sie das Schlimmste befürchten ließ. Der aufbrausende Paul war nur selten zu stoppen und ihr Schwager würde sich nichts gefallen lassen. Sie trennte Paul und Jennifer. „Ganz lieben Dank an euch, dass ihr gekommen seid. Aber wie ihr seht, ist Paul nun eingetroffen. Die Geräusche haben sich aufgeklärt. Die stammten übrigens von dem grauen Kater. Ich muss ihn vorhin wohl versehentlich hineingelassen haben.“

Jennifer und Dave standen unschlüssig an der Tür. „Miri, ist das wirklich in Ordnung, wenn wir gehen?“ Jennifer sah sie mit sorgenvoller Miene an. Miriam wollte gerade etwas erwidern, als Paul ihr zuvorkam.

„Was soll denn nicht in Ordnung sein? Es gibt nichts, womit wir nicht allein fertig werden könnten. Wenn ich euch also bitten dürfte, endlich mein Haus zu verlassen …“, Paul unterstrich den Hinauswurf der beiden mit einer Geste.

Dave presste wütend die Lippen zusammen. Für einen Moment schien es, als wolle er Paul packen, um ihm die Faust ins Gesicht zu schlagen.

„Es ist wirklich alles okay, Jenny. Lass uns morgen weiterreden“, versicherte Miriam ihrer Schwester und hoffte inständig, dass sie nicht weiter nachforschen würde. Morgen würde sie ihrer Schwester endlich auch von dem Anruf erzählen.

„Okay …“ Jennifer schien noch immer nicht überzeugt zu sein.

„Ihr müsst euch wirklich keine Sorgen machen. Paul wird zur Sicherheit noch einmal alles kontrollieren.“ Ihr Mann schien weniger begeistert von dieser Idee zu sein. Obwohl Miriam wütend auf Paul war, rang sie sich ein Lächeln ab. Jennifers Blick schweifte forschend zwischen Paul und ihr hin und her.

„Du kannst uns jederzeit anrufen, Miri.“

Miriam schämte sich für ihr abweisendes Verhalten im vergangenen Jahr, während sich ihre Schwester immer loyal verhalten hatte.

„Danke nochmals, Jenny, Dave. Es tut mir leid, dass ich euch geweckt habe. Wenn ich gewusst hätte, dass Paul gleich da ist, hätte ich …“

Die Miene ihres Ehemanns verfinsterte sich.

„Schon gut, kein Problem. Also, wir gehen dann mal wieder hinüber.“ Ein letzter abweisender Blick von Dave an Paul, dann verließen die beiden das Haus.

Kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, explodierte ihr Mann.

„Sag mal, wieso rufst du ausgerechnet diese Erbschleicherin an?“

„Paul, wie kannst du so etwas sagen? Das ist sie doch gar nicht.“

„Ach, nein, ist sie nicht? Das sehe ich aber ganz anders. Und du solltest es auch tun!“

„Es war doch allein Mutters Entscheidung, ihr das Gut zu vererben“, verteidigte sie ihre Schwester. Miriam erinnerte sich nur zu gut daran, welch herber Schlag es auch für sie gewesen war, bei der Testamentseröffnung zu erfahren, dass Mutter Abendroth lieber ihrer Schwester anvertrauen wollte als ihr. Sie war enttäuscht und wütend auf Jennifer gewesen. Doch jetzt war sie längst darüber hinweg.

„Eine Entscheidung, die du sofort hättest anfechten müssen! Es wäre besser gewesen, ihr gleich die Tür zu weisen!“, donnerte Paul. „Die hat sich all die Jahre weder um deine Mutter noch um Abendroth gekümmert und jetzt spielt sie sich als Gutsherrin auf, obwohl sie das Erbe abgelehnt hat. Schmeiß die und ihren arroganten Ehemann endlich vom Hof, bevor sie sich hier festnisten und dich hinauskatapultieren!“

Miriam trat erschrocken zurück. Pauls finsterer Blick jagte ihr Furcht ein. Erneut lebten die alten Zweifel wieder auf. War sie zu blind, um etwas zu erkennen? Dave hatte ihr in den schweren Jahren stets zur Seite gestanden, und Jennifer unterstützte sie bei der Suche nach Sponsoren.

„Wach endlich auf! Deine Schwester trifft mit Dave alle Entscheidungen über das Gut. Allein. Selbst deine Pferdezucht hat sie unter Kontrolle. Meinst du, das würde sie tun, wenn sie sich nicht davon verspräche, eines Tages die Leitung des Gutes zu übernehmen?“

„Ich sagte dir doch, sie wird sich jetzt nur noch um ihre Patienten kümmern.“

„Wer’s glaubt, wird selig. Die gehen subtil vor. Dass sie das Erbe ausgeschlagen hat, war doch berechnet! Mensch, Miri, merkst du denn nicht, was sie vorhat?“ Paul hatte sie damals auch vor Melanie gewarnt. Aber sie hatte seine Bedenken nicht hören wollen. Dass sie Melanie auf dem Gut viel zu oft freie Hand gelassen hatte, hätte sie fast Abendroth gekostet. Das durfte und würde ihr kein zweites Mal passieren.

Sie musste wachsamer sein, das hatte sie aus der Sache mit Melanie gelernt. „Ich brauche Jennys und Daves Hilfe, wenn ich das Gut nicht verlieren will!“

Paul schnaubte und winkte ab. „Ach, glaub’ doch, was du willst. Du bist die geborene Verliererin.“ Der Vorwurf gerade aus dem Mund ihres Mannes traf Miriam tief. Mühsam kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen.

„Genau das habe ich jetzt gebraucht. Anstatt mich zu unterstützen, höre ich von dir nur Vorwürfe! Danke, Paul.“ Mit Tränen in den Augen wandte sie sich um und hinkte die Treppe hinauf, wo sie sich im Badezimmer einschloss. Dort setzte sie sich auf den Badewannenrand und heulte leise vor sich hin.

Wenig später hörte sie Paul die Treppe heraufkommen. Vor der Badezimmertür blieb er stehen und lauschte, bevor er die Klinke herunterdrückte. Miriam starrte auf die Tür und befürchtete weitere Sticheleien von ihm. Stattdessen ging er schweigend davon, und sie atmete auf. Nachdem sie die Tränenspuren in ihrem Gesicht mit kaltem Wasser einigermaßen beseitigt hatte, lief sie zur Korbtruhe hinüber, die vor dem Fenster stand, und setzte sich. Vorsichtig schob sie die Gardine beiseite, um die Schneeflocken zu beobachten, die sanft durch die Dunkelheit herabschwebten. Es besaß etwas Beruhigendes. Drüben bei Jenny und Dave brannte noch Licht. Miriam dachte daran, dass sie ihrer Schwester eigentlich von dem Anruf erzählen wollte. Sie erinnerte sich an Katharina Jelenow, die behauptet hatte, Jakob würde noch leben. Fest hatte sie geglaubt, dass es sich dabei nur um einen perfiden Scherz handeln konnte, aber seit heute war sie sich nicht mehr sicher. Was würde Jenny dazu sagen? Entschlossen zückte sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer von Schwager und Schwester.

Es dauerte nur wenige Rufzeichen, bis ihre Schwester sich meldete. „Keller.“ Jenny klang müde.

„Sorry, Jenny, ich bin’s noch mal“, flüsterte sie. Vielleicht stand Paul irgendwo auf dem Flur und lauschte. Sie wollte nicht, dass er etwas von ihrem Gespräch erfuhr.

„Was ist passiert? Habt ihr euch wieder gestritten?“

Miriam seufzte. „Ja, das Übliche. Du kennst doch Paul. Aber deshalb rufe ich nicht an.“

„Okay, warum dann?“ Jennifer gähnte laut.

„Ich wollte dir eigentlich vorhin schon davon erzählen, aber dann stand Paul plötzlich in der Tür. Ich hatte einen seltsamen Anruf. Eigentlich noch einen, aber der Letzte ist der Grund, weshalb ich dich mitten in der Nacht noch einmal nerve.“

Stille am anderen Ende der Leitung, nicht einmal ein Atmen.

„Bist du noch dran, Jenny?“, flüsterte Miriam und schielte zur Tür, als sie ein Geräusch auf dem Flur vernahm. Sie lauschte, aber es blieb still.

„Ja. Ich bin hundemüde.“ Jennifer gähnte schon wieder. „Wann denn?“

„So gegen Mitternacht, ich weiß es nicht mehr genau.“

„Und was für Anrufe? Hat sich einer einen Telefonstreich erlaubt?“

„Nein.“ Mit wenigen Sätzen beschrieb sie die Anrufe. „Ich … ich glaube, es … es war Jakob.“

Miriam hörte, wie Jennifer scharf die Luft einzog. „Wie kommst du darauf? Hat er etwas gesagt? Konntest du seine Stimme erkennen?“, fragte Jennifer aufgeregt. „Am Keuchen kannst du das nicht unbedingt festmachen.“

„Stimmt, aber er hat nicht nur gekeucht … sondern … er hat … das Gute-Nacht-Lied gepfiffen, das Mutter uns immer vor dem Einschlafen vorgesungen hat.“

Jennifer stieß den Atem aus. „Bist du dir sicher? Das muss aber noch lange nichts heißen. Vielleicht wusste jemand davon und wollte dir nur einen Schrecken einjagen.“

„Mein Bauchgefühl sagt nein. Wer sonst sollte davon wissen? Höchstens Stephanie, und die würde sich nie einen solch bösen Scherz mit uns erlauben.“ Miriam fühlte sich erleichtert, mit der Schwester offen darüber reden zu können.

Jennifer verstand sie. „Gut, angenommen, es ist Jakob gewesen … und die Jelenow hätte wirklich recht. Wieso hat Jakob sich dann nie bei uns gemeldet? Weshalb lässt er uns im Glauben, er sei tot?“ Die Enttäuschung war deutlich bei Jennifer herauszuhören.

„Ich … ich weiß es nicht. Ich habe mir auch schon darüber den Kopf zerbrochen. Was ist, wenn er sich nach all den Jahren nicht traut, zu uns Kontakt aufzunehmen? Vielleicht hatte er lange Zeit sein Gedächtnis verloren. So etwas kommt doch vor.“ Miriam hatte erst neulich einen Bericht im Fernsehen über Patienten gesehen, die an Amnesie litten. Bei manchen war das Erinnerungsvermögen erst nach Jahren zurückgekehrt, bedingt durch ein Trauma.

„Ja, vielleicht hast du recht. Er könnte eine Zeit lang unter Nomaden gelebt haben, ohne zu wissen, wer er ist, bis sein Gedächtnis zurückgekehrt ist.“

Es gab vielerlei Möglichkeiten, und es war müßig, darüber zu spekulieren. Miriam sah plötzlich alles klar vor Augen, ihren im Schnee vergrabenen Bruder, wie er von Einheimischen gerettet und in ein Bergdorf gebracht worden war. Auf einem mit Fellen ausgestatten Lager hatte er vor sich hingedämmert, während ihn die Einheimischen pflegten. Er konnte sich an gar nichts erinnern. Auch Jennifer schien ihren Gedanken nachzuhängen, denn sie schwieg.

„Du solltest noch einmal mit dieser Katharina Jelenow reden.“

„Ja, das sollte ich vielleicht. Danke, dass du mir von dem Anruf erzählt hast. Ich mag es zwar noch immer nicht glauben, aber ich schließe auch nicht aus, dass Jakob noch lebt. Doch dafür will ich Beweise.“

„Wenn du meine Unterstützung brauchst, Jenny, ich bin immer für dich da.“

„Danke. Das weiß ich. Jetzt sollten wir endlich schlafen. Gute Nacht.“

Nachdem sie sich gegenseitig eine gute Nacht gewünscht hatten, legte Miriam auf. Nachdenklich starrte sie in die Dunkelheit hinaus.

Sie verließ das Bad und vergewisserte sich drüben im Schlafzimmer, dass Paul tief und fest schlief, bevor sie sich unten in die Küche begab, um den Kater zu suchen. Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinunter.

Miriam entdeckte das Tier, als sie das Licht einschaltete und seine Augen es reflektierten. Ängstlich hockte er unter dem Regal. Miriam kniete sich vor ihn und redete beruhigend auf ihn ein. Erst nach einiger Zeit schob sich der graue Fellkörper unter dem Regal hervor und strich ihr schnurrend um die Beine.

Miriam hob ihn auf den Arm und streichelte ihn sanft. „Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Ich kann dich ja verstehen, dass du es bei der Kälte auch warm haben möchtest, aber sich einfach einschleichen geht nicht“, sprach sie zu ihm. Der Kater hob den Kopf und miaute, als hätte er alles verstanden.

Eine halbe Stunde später rollte sich das Tier nach einem ausgiebigen Mahl auf einer Decke zusammen, die Miriam im Hauswirtschaftsraum für ihn ausgebreitet hatte. Sie blieb noch ein wenig bei ihm. Er schnurrte ihre Grübeleien samt trüber Gedanken fort. Wenn Paul wüsste, dass sie die Katze hier untergebracht hatte, würde er das Tier eigenhändig an die eisige Luft setzen. Miriam verspürte eine seltene Verbundenheit zu dem Kater, die sie sich nicht erklären konnte.

Irgendwann, als ihr vor Müdigkeit immer wieder die Augen zufielen, humpelte sie ins Schlafzimmer hinauf. Doch den ersehnten Schlaf fand sie nicht, sondern wälzte sich im Bett grübelnd hin und her, bis sie in den frühen Morgenstunden endlich einschlief.

Das Erbe der Abendroths - Winterdämmern

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