Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Herbstzeit - Валентина Май - Страница 7

3.

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Jennifer beugte sich weiter über den felsigen Rand, um einen Blick hinab in die Schlucht zu werfen. Die Tiefe flößte ihr mehr als Respekt ein. Ein menschlicher Körper würde auf dem felsigen Untergrund zerschmettern. Die Eltern hatten ihnen verboten, hier hinaufzugehen. Aber Jakob hatte sie einmal mehr dazu überreden können, die Regeln zu brechen. In allem, was verboten war, lag für Jakob der Reiz, ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen. So war er. In seiner unnachahmlichen Weise schaffte er es, jeden davon zu überzeugen, dass es faszinierend sein konnte, sämtliche Regeln zu brechen. Jetzt bereute Jennifer, sich auf seinen Vorschlag eingelassen zu haben. Sie drehte sich zu Jakob um, der hinter ihr stand.

„Zufrieden? Ich habe hinuntergeschaut. Lass uns jetzt zurückgehen.“

Jakob grinste sie an, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Er hatte sich die Schuhe ausgezogen, weil er es liebte, barfuß herumzulaufen. Sein semmelblondes Haar hing vom Wind zerzaust an seinem Kopf.

„Erst, wenn ich auch geguckt habe.“ Ehe Jennifer antworten konnte, zog er sie am Ärmel zurück. Er beugte sich viel weiter vor als sie.

„Jakob, nicht so weit. Das ist gefährlich!“, rief Jennifer voller Sorge aus. Doch ihr Bruder liebte nicht nur die Gefahr, sondern auch, sie zu provozieren. Er breitete die Arme aus und beugte sich noch ein Stück weiter vor. „Lalalalala! Ich krieg Flügel und hebe ab. Fliegen is’ gar nicht schwer.“ Dabei fuchtelte er mit den Armen in der Luft. Als er schwankte, blieb ihr vor Angst fast das Herz stehen.

„Jakob, bist du verrückt? Lass den Quatsch! Du machst mir Angst …“ In Gedanken malte Jennifer sich aus, was alles geschehen könnte. Nicht auszudenken, wenn ihrem Bruder etwas widerfahren würde. Jakob hatte Spaß daran und ging noch weiter. Die Angst um ihn brachte sie fast um. Sie versuchte seinen Arm zu packen.

Lachend wich er ihr aus und drehte sich hüpfend im Kreis. Nur ein kleiner Seitenschritt, und ihr Bruder wäre verloren.

Jennifer stiegen Tränen in die Augen. Immer wieder versuchte sie ihn vergeblich festzuhalten.

„Jakob, lass das endlich!“, rief sie voller Verzweiflung. Tränen liefen über ihre Wangen. Wenn sie geglaubt hatte, ihr Bruder würde auf sie hören, hatte sie sich geirrt. Stattdessen drehte er sich nur noch schneller. Bis er das Gleichgewicht verlor. Jennifer schoss nach vorn, um ihn noch zu fassen. Zu spät. Jakobs Augen weiteten sich, seine Arme ruderten Halt suchend in der Luft, bevor er mit einem markerschütternden Schrei nach hinten kippte. Hilflos musste Jennifer mit ansehen, wie ihr Bruder in den Abgrund stürzte. Sie schrie und schrie …

Schweißgebadet wachte Jennifer auf. Verfluchte Albträume! Sie presste ihre Hand gegen die Brust, in der ihr Herz wie verrückt hämmerte. Ihre Hand tastete vergeblich nach Michael. Nach einem schlechten Traum schmiegte sie sich immer an ihn. Sein gleichmäßiges Atmen wirkte beruhigend auf sie. Sie fröstelte. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie nicht neben ihm im vertrauten Bett, sondern weit entfernt in ihrem alten Jugendzimmer auf Abendroth lag. Vertraut und gleichzeitig fremd.

Die alten Möbel standen noch drin, selbst ihre Barbie-Puppen saßen noch immer im Regal. Ihr Tagebuch ruhte in der obersten Schublade des Schreibtisches, als hätte sie es eben dort hineingelegt. Nur die Tapete war jetzt eine andere und die Vorhänge gab es nicht mehr. Früher hatten sie die Fenster blickdicht eingerahmt, jetzt waren die schweren Stoffe durch Rollläden ersetzt worden. Als sie sich im Zimmer umsah, glaubte sie, Stimmen der Vergangenheit zu hören. Mutter, die sie vor der Schule zur Eile antrieb, Miriam und Stephanie, die sich um das Bad zankten, und Jakobs Lachen.

Seit Jahren hatte sie das erste Mal wieder von ihrem Bruder geträumt. Er war tot. Unwiederbringlich. Der Schmerz über den Verlust des geliebten Bruders wallte in ihr hoch und legte sich wie eine eisige Hand um ihr Herz.

Draußen heulte der Wind um die Mauern und klatschte die Zweige der alten Birke, an die sich Jennifer noch gut aus ihren Kindertagen erinnerte, gegen die Fensterscheibe. Der trübe Morgen drückte ihr aufs Gemüt. Der bevorstehende Termin beim Testamentsvollstrecker machte das Ganze nicht besser. Wenn doch nur schon alles vorbei wäre und sie zurück zu Michael fliegen könnte …

Michael! Er war viel zu weit entfernt. Sie sehnte sich danach, von seinen Armen tröstend umfangen zu werden.

Jennifer stand auf und blickte zum Fenster hinaus. Der Himmel war wolkenverhangen, das Pflaster vor dem Haus glänzte feucht. Sie öffnete das Fenster, weil sie so gern den Duft von feuchter Erde und Blüten roch. Tief sog sie den Geruch ein. Irgendwo wieherte ein Pferd auf der Weide.

Hufgetrappel erklang unter ihr. Einer der Stallburschen führte zwei Jungpferde am Halfter zur Hausweide. Früher hatte sie das oft selbst getan. Manchmal hatte sie sich auch auf den blanken Rücken eines der Pferde geschwungen, sich in der Mähne festgekrallt und war zur Wiese galoppiert. Oft gemeinsam mit Miriam. Auf dem Rückweg hatten sie im Sommer immer an dem kleinen See gestoppt, um ausgelassen darin zu baden. Wie viel Spaß sie zusammen gehabt hatten, und dieses unglaubliche Gefühl von Freiheit ... Die sanften Hügel des Wiehengebirges erinnerten sie an die Green Hills in Maple Leaf, auf die sie aus ihrem Schlafzimmerfenster sehen konnte. Wie sehr vermisste sie Michael und das rege Treiben in der Klinik. Dort wurde sie gebraucht, während sie hier jeder nur zum Teufel wünschte.

Sicher dachten alle nur, sie wäre auf das Erbe aus, rechnete sich Hoffnungen aus, das Gut zu erben. Aber hierher zurückkehren? Niemals! Ihr Leben fand in Virginia statt, an Michaels Seite, wo sie geliebt und geschätzt wurde.

Wenn einer das Gut erben würde, dann Miriam. Das war auch gut so, denn ihre Schwester hatte der Mutter in all den Jahren treu zur Seite gestanden und neben einem Batzen Geld auch viel Schweiß in das Gut investiert. Jennifer hatte das Gefühl, dass die Vergangenheit sie erdrückte. Sie musste hinaus an die frische Luft.

Es war erst halb sechs. Sie beschloss durch den Stall zu streifen. Der vertraute Duft nach Heu und Stroh und die Nähe zu den Tieren würde sie ablenken. Immer, wenn sie Kummer oder Ärger hatte, half ihr ein Gang durch die Stallungen in Maple Leaf. Sie hoffte, dass es ihr auch hier helfen würde. In der Gegenwart von Pferden fühlte sie sich wohler als bei Menschen. Rasch schlüpfte sie in Jeans und Sweatshirt, bevor sie über die Treppe nach unten zum Hausportal schlich. Irgendwo im Schrank im Flur hatte ihre Mutter früher Reit- und Gummistiefel aufbewahrt. Sie war sich sicher, dass Miriam Mutters Gepflogenheiten beibehalten hatte. Tatsächlich standen ihre alten Reitstiefel blankpoliert in einem Fach. Sie zog sie heraus und schlüpfte durch die Haustür.

Kühle Luft wehte ihr entgegen. Draußen stieg sie in die Stiefel und lauschte. Noch immer herrschte Stille. Die Kinder schliefen sicher noch, und Miriam befand sich bestimmt wie jeden Tag auf dem Weg zu den Weiden, um nach den Fohlen zu sehen. Leise zog Jennifer die Tür zu und überquerte den Hof in Richtung Stallungen. Als sie sich dem Stalltor näherte, hörte sie es drinnen rumoren. Jemand mistete. Der Geruch von Dung und frischem Heu wirkte vertraut und beruhigend. Der alte Gregor arbeitete schon lange nicht mehr hier. Miriam hatte ihr in einer E-Mail mitgeteilt, dass es schwierig war, geeigneten Ersatz zu finden. Der Pole hatte damals schon zum Inventar des Guts gehört.

Eigentlich hieß er Grzegorz. Als Kind hatten sie jedoch Schwierigkeiten mit der Aussprache gehabt, bis er allen vorgeschlagen hatte, ihn der Einfachheit halber Gregor zu nennen. Egal zu welcher Tageszeit hatte er ihr Conquistador gesattelt. Er war es auch gewesen, der mit ihr gewacht hatte, wenn eines der Tiere erkrankt gewesen war. Und er hatte sie auch beim Küssen ertappt mit … Jennifer schüttelte den Kopf, als könnte sie die Erinnerungen daraus vertreiben. In all den Jahren war er nicht aus ihrem Kopf verschwunden. Sie ignorierte die Stimme in ihrem Inneren. Das frühere Leben der Jennifer von Abendroth existierte nicht mehr. Das musste sie endlich kapieren.

Vor dem Stalleingang verharrte sie einen Moment, weil sie sich auch hier wie ein Eindringling vorkam. Quatsch, du hast einmal hier hingehört. Sie atmete tief durch und drückte den Rücken durch.

Feste Schritte hallten am Ende des Stalltrakts, begleitet vom freudigen Wiehern erwartungsvoller Pferde vor der ersten Fütterung. Jennifer trat in die Stallgasse. Einige der Pferde streckten ihr sofort neugierig die Köpfe entgegen. Weiche Mäuler berührten ihre Arme. Sie streichelte eines nach dem anderen. Der Schimmel in der Box am Ende des Ganges kam ihr bekannt vor. Er scharrte mit dem Vorderhuf und rollte mit den Augen. Dieses Temperament, dieses Feuer … Die Box lag isoliert nach der Futterkammer. Die Wände waren höher vergittert als die der übrigen Boxen. Miriam hatte ihr geschrieben, dass sie nach einer schlechten Erfahrung in jedem Stalltrakt eine Hengstbox hatte bauen lassen. Einer der Zuchthengste war wegen einer rossigen Stute über die Wand gesprungen. In dieser Box konnte der Hengst die Artgenossen sehen, und gleichzeitig wurden Beißattacken mit den anderen Pferden unmöglich. Vergeblich suchte sie auf der Boxentür nach dem Namensschild. Als sie an der linken Flanke den grauen Strich, eine Narbe, erkannte, war ihr klar, dass sie Daves Hengst Lord vor sich hatte. Sie streckte die Hand durchs Gitter und strich ihm über das weiche Maul. Eine Verkrustung ließ sie innehalten. Sie schob den Pferdekopf ein Stück zur Seite, um es sich genauer anzusehen. Ihr geschultes Auge erkannte einen fingernagelgroßen Schorf. Vielleicht hatte er sich irgendwo aufgerissen. Sie würde Miriam gleich darauf … Nein, halt! Das ging sie hier nichts an. Außerdem hatten ihre Schwester oder Dave das sicher bereits bemerkt und Maßnahmen getroffen. Lord befand sich hier in guten Händen. Wer jetzt wohl als zuständiger Tierarzt auf Abendroth tätig war?

Überhaupt, weshalb stand Lord auf dem Gut, wo Dave Verwalter auf dem elterlichen Gestüt war? Vielleicht würde sie Miriam danach fragen. Jennifer nahm einen Apfel aus dem Beutel, der vor der Boxentür hing, und warf ihn durchs Gitter in den Trog des Hengstes, der sich sofort gierig darauf stürzte. Es tat so gut, einen alten Freund wiederzusehen.

Die Wiedersehensfreude wurde getrübt, als sie den allgemeinen Zustand der Pferdeboxen erkannte, die sich in dem alten Stalltrakt befanden. Das Holz war an manchen Stellen gesplittert und stellte eine Gefahr für die Tiere dar. Überall Spinnweben, der Gang nicht gefegt und in der hintersten Ecke stapelten sich unordentlich Heuballen. Das wäre bei dem gewissenhaften Gregor nie vorgekommen.

Das Quietschen einer Boxentür weckte Jennifers Aufmerksamkeit. Feste Schritte hallten durch den Stall, dann das Schaben einer Schaufel auf Beton. Die Geräusche kamen aus dem neugebauten Nebentrakt. Sie schlich näher und lugte um die Ecke. Geübte Männerhände hantierten mit Forke und Schaufel in einer offenen Box. Das braune Haar, die hochgewachsene Gestalt, sein Profil …

Jennifer schluckte. Das Wiedersehen in ihrer Fantasie war nichts gegen die Realität. Ihre Kehle war plötzlich eng. Dave! Er war drei Jahre älter als sie selbst und noch immer sehr attraktiv, auch wenn mittlerweile graue Strähnen sein Haar durchzogen. Sie ließ ihren Blick über seinen Körper gleiten. Drahtig wie damals, groß und stolz. Die Konturen seines Gesichts waren schärfer. Das Leben hatte auch ihn geschliffen. Was zur Hölle macht er ausgerechnet hier? Miriam hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er auf dem Gut aushalf.

Daves Eltern besaßen ein eigenes Anwesen nicht weit von Abendroth entfernt und nicht weniger groß. Es war eigentlich immer klar gewesen, dass er als einziger Sohn die Leitung des elterlichen Hofes übernehmen würde. Kurz bevor sie fortgegangen war, stand es finanziell um die Familie Keller nicht zum Besten … War er hier, weil seine Eltern das herrschaftliche Anwesen aufgegeben oder gar verloren hatten? Auch davon hatte Miriam nichts erzählt. Aber der Austausch mit der Schwester war ohnehin immer aufs Nötigste beschränkt gewesen und sensible Themen sowieso tabu.

Jennifer hatte gehofft, dass sie sich in den wenigen Tagen ihres Aufenthalts nicht begegnen würden. Der Cut hatte eine tiefe Kluft zwischen ihnen hinterlassen. Er schien sie zum Glück noch nicht bemerkt zu haben. Sie könnte nicht so tun, als ob nie etwas geschehen wäre. Es war besser, den Stall sofort zu verlassen. Hastig drehte Jennifer sich um und übersah dabei den Besen, der an eine der Boxen angelehnt war, und nun auf den Boden knallte. Hinter sich hörte sie, wie Dave die Schubkarre abstellte. Bloß schnell raus.

„Hallo? Wollten Sie etwa zu mir?“ Zu spät, um fortzulaufen. Der vertraute Klang seiner Stimme beschwor Erinnerungen herauf, die sie rasch verdrängte.

Jennifer stoppte und verfluchte sich selbst für ihre Tollpatschigkeit, durch die er auf sie aufmerksam geworden war. „Nein, nein. Hab mich geirrt. Dachte, es wäre Gregor …“ Sie biss sich auf die Zunge. Wie blöd sie doch war, sich zu einer Antwort hinreißen zu lassen!

„Jenn?“ So hatte sie schon lange niemand mehr genannt. Sie wollte weitergehen.

„Warte!“

Jennifer hielt inne, ohne sich nach ihm umzudrehen.

„Ich hätte nie gedacht, dass du wirklich den Mut besitzt, hierher zurückzukehren.“ Die plötzliche Kälte in seiner Stimme ließ sie frösteln. Es machte keinen Sinn, ihn zu ignorieren. Sie musste sich ihm stellen, auch wenn es ihr schwerfiel.

Langsam drehte sie sich zu ihm um und sah in das Gesicht des Mannes, den sie mit jeder Faser ihres Herzens geliebt hatte. Der frühere Glanz in seinen Augen war erloschen.

„Hallo, Dave.“ Jennifer war überrascht, wie leicht es ihr fiel, seinen Gruß mit fester Stimme zu erwidern. Aber ihre Fassung war nur Fassade. In ihrem Inneren verspürte sie nur Bitterkeit. Sie musste zu ihm aufsehen, hatte ganz vergessen, dass er sie um einen Kopf überragte. Seine Schultern waren breiter geworden. Ungewohnt, denn Michael war nicht größer als sie und schmaler gebaut als Dave.

„Du hast dich überhaupt nicht verändert.“ Seine Worte klangen fast enttäuscht. Dabei hatte sie das Gefühl, dass er eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen. Sein Blick tastete sie wie ein Scanner ab.

„Du auch nicht.“ Es gelang ihr, nach außen Gelassenheit zu bewahren.

„Ich bin älter geworden. Hier.“ Er fuhr mit der Hand durch die grau gewordenen Schläfen.

Was sollte dieser Small Talk? Am liebsten wäre sie davongerannt, um das unselige Gespräch zu beenden.

Jennifer ertappte sich dabei, wie ihr Blick instinktiv nach einem Ring an seiner Hand suchte. Er trug keinen, was natürlich nichts bedeuten musste. Was interessierte es sie eigentlich noch, ob er Single war?

„Auch an mir ist die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Ich habe Fältchen bekommen und das erste graue Haar.“ Jennifer rang sich ein Lächeln ab und erstarrte, als er es nicht erwiderte. Die Feindseligkeit in seinem Blick ließ sie erschauern. Das Wort Flucht rotierte immer stärker in ihrem Kopf.

„Die gleiche offene Art.“ Seine Mundwinkel zuckten, als wüsste er nicht, ob er lächeln sollte. Jennifer war unsicher, wie sie seine Worte deuten sollte.

„Ich … ich muss jetzt wieder ins Haus.“ Sie deutete mit dem Daumen hinter sich.

„Deiner Mutter hätte dein Kommen sehr viel bedeutet“, sagte er leise, als sie sich umdrehen wollte. Täuschte sie sich oder erkannte sie tatsächlich einen Anflug von Verletzlichkeit und Schmerz in seinem Blick? Und wie viel bedeutet es dir?, hätte sie ihn am liebsten gefragt. „Danke“, flüsterte sie stattdessen und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen.

„Wirst du bleiben? Ich meine … “ Ein Anflug von Unsicherheit spiegelte sich in seinen samtbraunen Augen. Meinte er für immer? Und doch schien ihn genau das zu bewegen.

„Ich werde gleich nach der Testamentseröffnung zurückfliegen. Ich kann Michael nicht so lang allein lassen. Mit der ganzen Arbeit und so.“

Dave nickte. „Miriam erwähnte so was … Eine Frau wie du ist fürs Alleinsein nicht geschaffen.“

Seine Antwort versetzte ihr einen Stich. Anscheinend hielt er sie noch immer für sprunghaft wie damals. Glaubte er vielleicht, Michael wäre der Grund, weshalb sie ihn verlassen hatte?

Schweigend standen sie sich gegenüber, eine unüberbrückbare Kluft, die sie trennte. Sie dachte an Michael, der sanfter und ruhiger war als der vor Kraft strotzende, energiegeladene Dave.

Wenn sie nur daran dachte, wie sie gemeinsam die Ponys aus dem Bauwagen befreit hatten. Es war Dave gewesen, der sie und Jakob begleitet hatte. Sie waren über eine Mauer auf das fremde Grundstück gelangt und sich bewusst gewesen, dass ihnen wegen Hausfriedensbruch eine saftige Strafe drohte. Mit Michael wäre eine solche Aktion nicht möglich gewesen, er würde nie etwas Illegales tun. Dave hingegen hatte ihr zuliebe mitgemacht, die Konsequenzen waren ihm egal gewesen. Es hatte ihr imponiert, und sie hatte bewundernd zu Dave aufgesehen. Heute war es Michaels Besonnenheit, die ihr ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermittelte.

„Wir werden bald heiraten“, log sie und kam sich mies dabei vor. Mein Gott, weshalb musste sie Dave anlügen? Michael und sie hatten nie über die Ehe geredet!

„Hm, verstehe … Viel Glück!“ Daves Lächeln wirkte gezwungen.

Jennifer wollte sich nicht noch mehr in Lügen verstricken. „Ich glaube, ich muss wirklich ins Haus zurück.“ Für einen Augenblick hielt er ihren Blick fest und ließ die Vergangenheit neu aufleben. Dave und sie hatten so viel Zeit miteinander verbracht, gelacht und sich auch ohne Worte gut verstanden. Herzgalopp war das Wort, das sie damals in ihrem Tagebuch notiert hatte, weil es ihren Gemütszustand am besten beschrieb. Hieß es nicht, dass kein Mensch seine erste große Liebe vergessen konnte? Welch blöder Spruch! Die angeblich große Liebe hatte sich als herbe Enttäuschung entpuppt, auf die sie liebend gern verzichtet hätte.

Ein stechender Schmerz in der Handfläche holte Jennifer in die Realität zurück. Ihre Fingernägel hatten sich in ihre Haut gebohrt. Sie schob die Hände in die Hosentaschen.

„Also, bis dann …“ Sofort bereute sie ihre Worte. Als wenn sie sich wiedersehen würden. Ganz bestimmt nicht. Sobald die Formalitäten erledigt waren, würde sie abreisen.

Sie hob zum Gruß die Hand und wandte sich um.

Dave hielt sie zum Glück nicht zurück. Es war gut, dass sie nicht lange blieb, seine Gegenwart machte alles nur komplizierter, als es ohnehin schon war. „Alte Liebe wärmt man nicht auf. Sie schmeckt schal“, hörte sie ihre Oma sagen. Wie recht sie damit hatte. Es machte keinen Sinn, so zu tun, als wäre in all den Jahren nichts geschehen.

Anstatt ins Haus zu gehen, wo sie ein gedeckter Frühstückstisch erwartete, umrundete Jennifer den Stall und lief auf die Koppeln zu. Die Begegnung mit Dave hatte sie so aufgewühlt, dass sie die Sticheleien Pauls nicht auch noch ertragen konnte. Der kühle Wind würde ihren Kopf klarfegen.

Kaum hatte sie den ausgetretenen Feldweg erreicht, war sie wieder der Teenager von einst. Immer, wenn sie Kummer hatte, war sie zu den Pferden auf die Weide gelaufen. Die Tiere hatten sie alle Sorgen vergessen lassen, besonders Conquistador. Auch heute noch wurde sie durch ihre tierischen Patienten abgelenkt. Ihre Liebe zu Tieren hatte sie Tierärztin werden lassen.

Sie breitete die Arme aus und rannte so lange, bis sie Seitenstechen bekam und anhalten musste. Es tat so gut, einfach alles hinter sich zu lassen. Diese vertrackte Situation, die Feindseligkeit, die ihr von den anderen entgegenschlug. Von einer seit langem vermissten Leichtigkeit erfasst, stieß sie einen Schrei aus. Dann drehte sie sich im Kreis, bis ihr schwindlig wurde und sie lachen musste. Es befreite sie. Jennifer fragte sich, wann sie sich zum letzten Mal so gut gefühlt hatte.

Als sie die erste Hausweide erreichte, hatte sich die Sonne erfolgreich durch die dichte Wolkendecke gekämpft. Ein Dutzend Stuten und Fohlen zupften Gras. Conquistador konnte sie zu ihrer Enttäuschung nirgends entdecken. Sie würde Miriam fragen. Bevor sie in die Staaten zurückkehrte, wollte sie ihn noch einmal sehen. Er musste jetzt schon zwanzig sein. Es war ihr damals schwergefallen, ihn zurückzulassen. Aber den Atlantiktransport hätte sie sich nicht leisten können, und später wollte sie dem inzwischen betagten Pferd eine solche Strapaze nicht zumuten. Ob er sie noch erkennen würde? Die Pferde blickten nur kurz hoch, um sich dann erneut dem Grün zu widmen. Jennifer stellte sich an den Weidezaun und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen. Alles war hier friedlich. Früher hatte sie geglaubt, dass nichts dieses Idyll würde zerstören können. Aber das Leben war kein Ponyhof, sondern ein Karussell mit unzähligen Höhen und Tiefen, das den Namen Schicksal trug. Eine Weile beobachtete Jennifer die grasenden Tiere. Auf ihrem Hof in Maple Leaf war es ihr nur am Wochenende vergönnt, auf der Terrasse sitzend die Pferde zu beobachten, die sich auf ihren Koppeln von ihren Krankheiten erholten. Oft genug hatte Michael ihr dabei Gesellschaft geleistet. Liebevoll hatte er dabei immer ihre Hand in seine genommen, und sie hatten den Moment der Stille genossen, der viel zu selten in ihren Alltag einkehrte.

Noch ließ das Wetter es zu, dass die Pferde Tag und Nacht draußen verbringen konnten. In wenigen Wochen, wenn der erste Frost einsetzte, würde Miriam die Gutsarbeiter anweisen, sie in die Ställe zurückzutreiben.

Auch Jennifer war oft dabei gewesen, wenn die Herden mit vielen Helfern auf den Hof getrieben worden waren. Eine anstrengende Aufgabe, die am Abend für alle Teilnehmer mit einem traditionellen Essen ihren Abschluss fand.

Dave war auch immer dabei gewesen.

Es ärgerte sie, dass sie schon wieder an ihn denken musste.

Ihr Handy vibrierte in der Tasche, die Erinnerung an den Termin beim Testamentsvollstrecker. Verdammt, das hätte sie fast vergessen, genauso wie etwas zu frühstücken. Ihr Magen knurrte zur Bestätigung. Die Zeit war wie im Flug vergangen und ihr blieben nur noch knapp zwei Stunden für einen Kaffee mit Croissant und eine heiße Dusche. Sie wäre viel lieber noch eine Weile weitergegangen. Aber es war ihre Pflicht, dem letzten Willen ihrer Mutter Respekt zu zollen.

Das Erbe der Abendroths - Herbstzeit

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