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5.

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Ziellos lief Jennifer durch Melles Innenstadt. Sie war so aufgewühlt, dass sie weder ein Auge für die Geschäfte und ihre Auslagen hatte noch für die Menschen, die ihr entgegenkamen. Sie wusste nicht, wie lange sie herumgeirrt war, bevor sie auf dem Marktplatz vor der St.-Matthäus-Kirche stoppte. Fast hätte sie das kleine Mädchen umgestoßen, das mit einem Schnuller im Mund auf dem Pflaster wie ein Känguru hüpfte. Jennifer entschuldigte sich bei Kind und Mutter, bevor sie sich auf einer Bank vor dem Rathaus niederließ. Rings um die Kirche fand ein kleiner Jahrmarkt statt. Fast meinte sie den Geruch von Bratwurst und gebrannten Mandeln zu riechen. Kurz vor Jakobs Himalaya-Tour hatten Monika und sie sich mit ihrem Bruder und dessen Freund Johannes auf dem Weihnachtsmarkt am Glühweinstand verabredet. Ein letztes Treffen vor der Reise nach Tibet. Jakob hatte vergeblich versucht sie zu überreden, ihn und Johannes zu begleiten. Jennifer, damals gerade Anfang zwanzig und am Beginn ihres Studiums, hatte die Strapazen gescheut, die mit solch einer Klettertour verbunden waren. Sie war nicht so erfahren im Bergsteigen wie die beiden Männer. Außerdem war sie über beide Ohren in Dave verliebt gewesen und sträubte sich gegen eine längere Trennung.

Wenn Jakob und Johannes voller Begeisterung über ihre Pläne gesprochen hatten, hatte sich ihr Magen zusammengeballt. Auch wenn sie Jakobs Abenteuerlust und Fernweh verstand, würde sie ihn schrecklich vermissen. Auch ihr Vater hatte einst davon geträumt, die Achttausender zu erklimmen. Jetzt wollte Jakob dessen Traum in die Tat umsetzen. Je näher der Abschied rückte, desto mehr fürchtete Jennifer sich davor. Jakob und sie hatten alles gemeinsam unternommen. Angefangen bei ihren Kinderstreichen bis zum ersten Discobesuch, sie hatte mehr Geheimnisse mit ihm geteilt, als sie es mit den Schwestern getan hatte. Ein halbes Jahr ohne ihn mochte und wollte sie sich nicht vorstellen. Aber auch, wenn sie die Gefahren der Bergtour kannte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, Jakob und Johannes könnte ein Unglück widerfahren. Ihre Mutter war immer stolz auf ihren einzigen Sohn gewesen. Aber dieses Mal konnte sie sein Vorhaben nicht gutheißen und sprach sich gegen die Bergtour aus. Jeden Abend gab es Streit beim Essen. Immer war es Jennifer, die ihrem Bruder beistand und bei der Mutter um Verständnis appellierte. Weil sie spürte, wie viel Jakob diese Tour bedeutete und er aus dem Schatten seines Übervaters heraustreten wollte. Der Zorn ihrer Mutter auf Jakob hatte sich dadurch gegen Jennifer gerichtet.

Es war ein bitterkalter Dezembertag gewesen. Nachdem sie die Pferde in den Stall geführt hatten, waren sie mit dem Wagen zum Weihnachtsmarkt gefahren. Bis zum letzten Moment hatte sie gehofft, die beiden würden ihren Plan von der Bergtour in den Himalaya aufgeben. Bei der Begeisterung, die in ihren Erzählungen mitschwang, wurde Jennifer jedoch schnell klar, dass nichts und niemand die beiden umstimmen könnte. Sie schienen regelrecht davon besessen zu sein, den Mount Everest und die anderen berühmten Berge zu erklimmen. Sie hatten jede freie Minute mit Training in den Alpen verbracht und waren im darauffolgenden Frühjahr nach Tibet gereist, um sich dort intensiver auf die klimatischen Bedingungen und Strapazen vorzubereiten. In ihrer Verzweiflung hatte Jennifer ihren Bruder beiseitegenommen, ihn angefleht, gar beschworen, von seinen Plänen Abstand zu nehmen. Aber er hatte sie nur ausgelacht. Jennifer war so wütend und traurig gewesen, dass sie sich nicht einmal von den beiden verabschiedet hatte. Heute bereute sie ihr starrköpfiges Verhalten. Hätte sie nur geahnt, beide nie mehr wiederzusehen, wäre sie sicher zum Flughafen gefahren.

Das letzte Lebenszeichen der beiden war eine Karte aus Kathmandu gewesen, wo ihre Route zu den Gipfeln starten sollte. Jennifer erinnerte sich so genau, weil die Karte sie an ihrem Geburtstag erreicht hatte. Die Freude darüber, dass der Streit zwischen ihrem Bruder und ihr damit begraben war, war das größte Geschenk gewesen.

Sie wischte sich die Träne aus dem Augenwinkel. Umso schlimmer traf sie die Nachricht aus Kathmandu von einem erfahrenen Bergsteiger, der die Gruppe begleitet hatte. Wenige Tage nach ihrem Geburtstag hatte ein Schneesturm das Lager ihres Bruders unerwartet vernichtet. Seitdem galten beide Männer als vermisst. Im Geist sah sie die ganze Szenerie noch einmal vor sich. Die Züge ihrer Mutter versteinerten, und ihr Blick richtete sich anklagend auf sie. „Möge Gott deiner Seele gnädig sein, Jennifer.“ Diese Worte hatten Jennifer tief getroffen und sich ins Gedächtnis gebrannt. Sie wusste, dass die Mutter ihr die Schuld an dem Desaster gab, weil sie Jakob unterstützt hatte. Nie hatte sie sich elender gefühlt als in diesem Augenblick. Sie fühlte sich schuldig an deren Tod, bereute, nicht dringlicher versucht zu haben, sie von ihrem Plan abzubringen. Der Schmerz schwelte noch in ihr, auch wenn er mit der Zeit dumpfer geworden war. Doch die Frage, weshalb es ausgerechnet Jakob und seinen besten Freund treffen musste, quälte sie noch heute.

Jemand tippte ihr auf die Schulter. Sie blickte auf, direkt in Daves Gesicht. Nicht auch noch er! Sie wollte jetzt allein sein mit ihren Gedanken. Ehe Jennifer protestieren konnte, setzte er sich neben sie auf die Bank. „Es scheint dir zur Gewohnheit geworden zu sein, davonzulaufen.“

Jennifer antwortete nicht und starrte auf ihre Fußspitzen. Sie wusste, worauf er anspielte.

„Warum bist du damals ohne ein Wort gegangen?“

Diese Frage von ihm hatte sie befürchtet. „Du kennst die Antwort, Dave.“

„Als Jakob und Johannes damals gesucht wurden, war ich an deiner Seite.“ Dave hatte recht, er war nicht von ihrer Seite gewichen. Sie war froh gewesen, sich in dieser schweren Zeit an ihn lehnen zu können, jemanden zu haben, auf den sie sich verlassen konnte. Sie hatte fest daran geglaubt, mit ihm alles durchzustehen, bis zu dem Moment, in dem sie ihn in der Verzweiflung gesucht und in inniger Umarmung mit Cora gefunden hatte. Dave hatte sie und ihre Liebe verraten, als das Schicksal ihr die schwerste Prüfung auferlegt hatte. Diesen Schmerz könnte sie ihm nie verzeihen.

„Du ahnst nicht, was ich damals deinetwegen durchlitten habe, nachdem du ohne ein Wort gegangen bist. Jenn, bitte sag mir, warum. Ich habe ein Anrecht darauf, es zu erfahren!“ Der verletzte Ausdruck in seinen Augen berührte sie mehr als sie wollte.

„Das weißt du doch genau, Dave. Das muss ich dir nun wirklich nicht erklären.“ Jennifer stand auf und wollte gehen, als er sie am Arm zurückhielt.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst! Du bist mir nach all den Jahren eine Erklärung schuldig.“

Wütend wirbelte sie herum. Sein Arm auf ihrem machte sie nervös. Sie sah zu ihm hinab und tauchte in seinen Blick. Wie damals, als es genügte, in seine Augen zu sehen und Trost zu finden. Doch das war vorbei.

„Ich bin dir gar nichts schuldig!“ Jennifer riss sich los und eilte weiter.

Dave folgte ihr. Wieder stoppte er sie, indem er sich vor sie stellte „Ich lasse dich nicht gehen, bevor du mir nicht gesagt hast, weshalb du damals einfach so sang- und klanglos verschwunden bist, Jennifer von Abendroth.“

Wie er jetzt so vor ihr stand, wirkte er schon respekteinflößend, was nicht allein an seiner Größe, sondern auch an seiner düsteren Miene lag. Aber so leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. Dafür kannte sie ihn zu gut. Sie hielt seinem durchdringenden Blick stand.

„Also? Warum hast du mich verlassen?“ Seine Hände umspannten ihre Schultern. Sein entschlossenes Gesicht drückte aus, dass er sie nicht ohne eine Antwort gehen lassen würde.

„Weil du unsere Liebe verraten hast und du nicht da gewesen bist, als ich dich am dringendsten gebraucht habe“, entgegnete sie. Bitterkeit, die sie all die Jahre begleitet hatte, schwang in ihren Worten.

Dave zuckte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Er wurde aschfahl. „Was erzählst du da? Ich hätte unsere Liebe verraten? Dich im Stich gelassen? Wie kommst nur darauf? Das ist doch Schwachsinn. Herrgott, Jenn, hast du eine Ahnung, wie sehr ich dich geliebt habe? Weshalb hätte ich das tun sollen?“

„Ich will nicht mehr darüber sprechen. Was vorbei ist, ist vorbei. Ich habe vorhin die Kanzlei verlassen, um allein zu sein und nicht, um mit dir über alte Zeiten zu reden.“ Sie stieß ihn von sich.

„Ich … ich hätte dich nie bewusst verletzt, Jenn“, erwiderte er.

Dass er auch heute noch log, enttäuschte sie. „Ich möchte von den alten Geschichten nichts mehr hören.“

„Bitte, erklär’ mir doch …“

„Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Dave.“ Jennifers Magen ballte sich vor Wut zusammen, bereit, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren. Dass sie ihn damals gesehen und er sie angelogen hatte. Aber jetzt, wie er da so stand, schluckte sie die Worte hinunter. Ihre Nerven lagen blank und sie scheute eine weitere Konfrontation.

„Zu viel ist vorgefallen. Es ist besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen, Dave. Und jetzt lass mich endlich allein.“ Sie konnte und wollte nicht wieder an die schmerzvolle Vergangenheit erinnert werden.

Einen Moment zögerte er noch, bevor er sich umdrehte und ging.

Jennifer schlug die Hände vors Gesicht. Es wäre das Beste, Abendroth so schnell wie möglich zu verlassen. Sie wollte das Erbe nicht. Das Anwesen war bei Miriam in guten Händen.

Das Erbe der Abendroths - Herbstzeit

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