Читать книгу Das Erbe der Abendroths - Herbstzeit - Валентина Май - Страница 8

4.

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Jennifer rannte die Treppe hinunter. Draußen im Wagen warteten bereits Paul und Miriam auf sie. Gemeinsam wollten sie zur Testamentseröffnung fahren. Ihre Schwester saß am Steuer, während Paul auf dem Rücksitz Platz genommen hatte und den Laptop malträtierte, der auf seinen Knien ruhte. Er blickte nicht auf, als sie einstieg. Am Frühstückstisch vorhin hatte er einmal mehr deutlich anklingen lassen, wie wenig Wert er auf ihre Gegenwart legte. Wie erwartet, geizte er nicht mit verbalen Seitenhieben. Schon früher waren seine ständigen Spitzen kaum zu ertragen gewesen. Ihre Schwester besaß eine Engelsgeduld, was die Kinder und auch Paul betraf. Doch in diesem Augenblick spürte Jennifer die Spannungen zwischen den beiden. Miriams Augen war leicht gerötet, woraus Jennifer schloss, dass ihre Schwester geweint hatte. Sicher wegen Paul. Sie hätte ihren Schwager erwürgen können.

Jennifer zog die Beifahrertür auf, als Miriam sie bat, sich an ihrer Stelle ans Steuer zu setzen. So aufgewühlt hatte sie ihre Schwester lange nicht erlebt. Jennifer lief um den Wagen herum und stieg ein. Paul war die Arbeit mal wieder wichtiger als Miriams Verfassung. Jennifer presste die Lippen zusammen.

Im Rückspiegel sah sie Pauls verkniffene Miene. Sie wartete auf einen seiner Kommentare. Wider Erwarten schwieg er. Ausnahmsweise war sie Paul dankbar dafür, denn die bevorstehende Testamentseröffnung bedrückte sie genug. Paul hatte recht gehabt. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht an Mutters Trauerfeier teilgenommen hatte.

„Wollte Steph nicht mit uns fahren?“, fragte Jennifer, als sie das Tor des Gutshofes passierten.

„Sie ist schon vorgefahren. Hat es nicht mehr ausgehalten.“ Miriam klang erschöpft und lehnte seufzend den Kopf an die Scheibe.

Sicher ging die Testamentseröffnung auch der Jüngsten nah. Vielleicht widerstrebten ihr auch Pauls Bemerkungen. Miriam knetete die Hände im Schoß, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Jennifer legte ihr die Hand auf den Arm. Fast befürchtete sie, die Schwester könnte sie zurückstoßen, aber sie tat es nicht.

„Danke, dass du trotz allem gekommen bist“, sagte Miriam stattdessen leise und drückte Jennifers Hand. Die Traurigkeit, die in Miriams Worten mitschwang, weckte in Jennifer erneut ein schlechtes Gewissen. War ihre Entscheidung von damals, Gut und Familie zu verlassen, egoistisch gewesen? Sie warf sich vor, Miriam die Verantwortung für das riesige Gut überlassen zu haben, ohne sich zu fragen, ob die Schwester diese Last bewältigen konnte.

Jennifer wusste nicht, was sie antworten sollte. Zu spät für Reue. Sie nickte nur.

Die Stille im Wagen wurde unerträglich. Der Knoten in ihrem Magen wuchs ebenso wie das Herzklopfen mit jedem Kilometer, mit dem sie sich Melle näherten. Belanglose Begebenheiten fielen ihr ein, wie der frühmorgendliche Streit zwischen ihr und den Schwestern um Kleidung oder wie die Mutter ihr dünnes Haar nach hinten gekämmt und zum Dutt hochgesteckt hatte. Sie dachte an Jakob, der regelmäßig verschlafen und über den Tumult vor der Badezimmertür nur den Kopf geschüttelt hatte.

Jennifer parkte den Wagen vor der Kanzlei. Das Gebäude aus Beton und Glas wirkte neben den alten Backsteingebäuden futuristisch und irgendwie fehl am Platz. Sie konnte sich noch gut an Eduard Rödinghaus erinnern, dem Anwalt und Freund ihrer Eltern. Er hatte sie oft mit seiner Familie auf dem Gut besucht. Seine Älteste war mit Miriam befreundet gewesen. Beide Mädchen hatten dieselbe Klasse im Gymnasium besucht.

Als leidenschaftlicher Jäger hatte Onkel Eduard, wie sie ihn damals nennen durften, oft an den von ihrem Vater organisierten Jagden teilgenommen.

Miriam drückte auf den Klingelknopf. Paul knöpfte sein Sakko zu, rückte die Krawatte zurecht und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Aus dem Freisprecher fragte eine Frauenstimme nach dem Grund ihres Besuches.

„Richten Sie Rödinghaus aus, dass es um die Testamentssache von Abendroth geht. Aber schnell, oder wollen Sie uns noch länger vor der Tür stehen lassen?“, blaffte Paul und schnaubte wütend. Bevor Miriam ihn beschwichtigen konnte, ertönte der Summer. Paul drückte die Tür auf. Eine Marmortreppe führte in den ersten Stock zur Kanzlei. Zu Jennifers Ärger drängte Paul sich an ihnen vorbei und stieg die Stufen hinauf, als wäre er der Haupterbe. Jennifer war davon überzeugt, dass Paul sich des Guts sicher war. Aber Mutter hatte Nesthäkchen Stephanie immer besonders verwöhnt. Jennifer mochte sich gar nicht Pauls und Miriams Reaktionen vorstellen, wenn die Jüngste als Haupterbin benannt werden würde. Für Paul zählte nur alles, was rentabel war. Da er kein begeisterter Anhänger des Landlebens war, würde er sicher versuchen, Miriam zu überreden, das Gut zu verkaufen. Von einer Eigentumswohnung an der Côte d’Azur hatte er schon immer geträumt. Jennifer gönnte Miriam das Gut, aber die Vorstellung, wie Paul sich auf dem elterlichen Grund wie der Gutsherr aufführte, war ihr zuwider.

Miriam stieg blass und wortlos hinter ihrem Mann die Stufen empor. Der lange Flor des Teppichbodens verschluckte ihre Schritte, als sie den Empfangsraum der Kanzlei betraten. Hinter dem gediegenen Tresen aus Mahagoni saß eine Mittfünfzigerin, deren bügellose Brille auf der Nasenspitze saß. Sie blickte über die Gläser, als Paul sich räusperte. „Wir kommen in Sachen Testamentseröffnung von Abendroth. Führen Sie uns zu Herrn Rödinghaus.“ Seine großspurige Art und sein Vorpreschen ärgerten Jennifer. Sie kniff die Lippen zusammen und funkelte ihn zornig an.

„Ich bin dankbar, dass Paul uns das abnimmt“, raunte ihr Miriam hastig zu. Jennifer hätte in diesem Augenblick schreien können, weil ihre Schwester Pauls Verhalten schon wieder entschuldigte. Sie verzichtete jedoch auf eine Erwiderung, als sie in Miriams blasses Gesicht blickte.

„Herr Dr. Rödinghaus erwartet Sie bereits. Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, antwortete die grauhaarige Frau hinter dem Tresen und schritt voran. Wie sie den Titel Eduards betont hatte, ließ keinen Zweifel darüber aus, dass sie es von Paul taktlos fand, ihren Chef nicht so anzusprechen.

Jennifer und die anderen folgten der Grauhaarigen durch einen endlos erscheinenden Flur. Kurz bevor der Flur endete, öffnete sie eine Tür.

„Herr Dr. Rödinghaus, Familie von Abendroth ist da.“

Jennifer fragte sich, wo Stephanie war.

„Sollen hereinkommen.“

Die Sekretärin bedeutete ihnen nach dieser Aufforderung mit einer Geste, einzutreten.

Hinter dem klobigen Eichenschreibtisch thronte auf einem ledernen Sessel mit hoher Lehne Eduard Rödinghaus. Anstelle des Schnauzbarts von damals pflegte er jetzt einen mausgrauen Vollbart. Er stand ihm, wie Jennifer fand. Noch immer trug er eine Hornbrille und rückte sie ständig zurecht.

Paul ließ sich ohne Aufforderung auf einem der gepolsterten Stühle nieder. Rödinghaus’ Brauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen, aber der Anwalt schwieg. Miriam setzte sich zwischen ihren Mann und Jennifer. Jennifer wandte sich zur Tür um, als sich eilige, gedämpfte Schritte näherten. Die Tür wurde aufgerissen und Stephanie stürmte mit geröteten Wangen und wehendem Mantel herein.

„’tschuldigung. Habe nicht gleich einen Parkplatz gefunden“, sagte sie und zuckte verlegen lächelnd mit den Schultern. Jennifer ergriff ihren Arm und zog sie neben sich auf den Stuhl.

„Nun sind wir ja vollständig und können beginnen.“ Paul lehnte sich gönnerhaft lächelnd zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah erwartungsvoll zu Rödinghaus.

„Leider nein. Wie Sie an dem letzten freien Stuhl erkennen können, erwarten wir noch jemanden.“ Der Anwalt deutete mit dem Kinn zur Tür, die seine Sekretärin eine Sekunde zuvor geschlossen hatte.

„Ich verstehe nicht …“ Paul richtete sich mit düsterer Miene auf. Sein Blick flog zwischen Miriam und dem Anwalt hin und her.

„Auf wen warten wir denn noch, Dr. Rödinghaus?“ Miriams Stimme klang heiser vor Aufregung.

„Auf einen weiteren Erben.“ Die vage Auskunft von Rödinghaus erstaunte auch Jennifer. Wen konnte ihre Mutter noch bedacht haben? Die Pflegerin während ihrer letzten Stunden?

„Meinen Sie vielleicht Frau Sander, die meine Mutter bis zum Tod gepflegt hat?“, hakte Miriam nach. Rödinghaus schüttelte den Kopf.

Ein Verwandter, von dem sie nichts wussten? Der Anwalt drehte ein Kuvert in den Händen, das mit einem Siegel versehen war. Wie Jennifer aus den Mienen der anderen lesen konnte, schienen sie das Gleiche wie sie zu denken.

„Außer uns hatte Elsbeth keine weiteren Verwandten!“, protestierte Paul lautstark.

„Meine Güte, Paul, es müssen doch nicht unbedingt nur Verwandte erben.“ Stephanies Worte ließen ihren Schwager erstarren. Langsam drehte er sich zu ihr um und musterte sie wütend.

„Du weißt wohl mehr als wir. Das wird ja immer schöner. Miriam, sag doch auch mal was!“ Sein Körper spannte sich an wie ein Raubtier, das kurz davorstand, sich auf die Beute zu stürzen. Miriam schüttelte den Kopf und sah Hilfe suchend zu Stephanie.

„Hast du davon gewusst, Miri?“, donnerte Paul. Drohend zogen sich seine Augenbrauen zu einem Strich zusammen.

Miriam zuckte zusammen. „Nein, ich wusste genauso wenig davon wie du.“

„Ich weiß doch auch nicht mehr als ihr. War nur eine Feststellung.“ Stephanie stöhnte auf.

„Und das sollen wir dir glauben? Los, raus mit der Sprache!“, brüllte er.

„Herr Lessmann, beruhigen Sie sich doch“, versuchte Eduard Rödinghaus den Mann zu beschwichtigen.

Im gleichen Augenblick wurde die Tür geöffnet. Alle Köpfe fuhren herum. Jennifer traute ihren Augen nicht, denn auf der Schwelle stand Dave. Warum zur Hölle hatte er vorhin nichts gesagt? Er trug eine cognacfarbene Wildlederjacke über dem schwarzen Hemd und der gleichfarbigen Jeans. Eine Strähne seines dunkelblonden Haars hing ihm in die Stirn. Was hatte seine Anwesenheit zu bedeuten?

„Was will der denn hier?“, rief Paul und sprach Jennifers Gedanken aus. „Der kann unmöglich ein Erbe sein! Eher ein Erbschleicher! Jetzt verstehe ich. Der hat sich an Elsbeth herangemacht, um was vom Erbe zu kassieren. Aber ohne mich!“ Paul bebte vor Zorn und sprang auf.

„Paul, bitte …“ Miriam griff nach seinem Arm. Aber er riss sich los. Es sah fast so aus, als würde er ihre Schwester schlagen, weshalb auch Jennifer aufsprang und sich Paul in den Weg stellte.

„Jenny, alles okay. Setz’ dich wieder. Ich bin selbst überrascht. Dr. Rödinghaus wird uns sicher alles erklären.“ Dave, der neben ihr stand, schob sie zu ihrem Stuhl zurück. Nur zögernd ließ Jennifer es geschehen.

„Herr Lessmann, auch Sie setzen sich wieder und beruhigen sich. Herr Keller ist auf den letzten Wunsch hin Ihrer Schwiegermutter hier, wie Sie alle.“

„Das ist doch ein abgekartetes Spiel! Berechnung!“ Paul wollte sich nicht beruhigen und zeterte weiter.

„Herr Lessmann, wenn Sie sich nicht sofort setzen, muss ich Sie bitten, mein Büro zu verlassen.“ Die eindringlichen Worte von Dr. Rödinghaus verfehlten ihre Wirkung nicht. Hinter Pauls gerunzelter Stirn schien es zu arbeiten. Langsam entspannte er sich wieder und kehrte auf seinen Platz zurück.

Dr. Rödinghaus bedeutete Dave mit einer Geste, sich auf den letzten Stuhl zu setzen. Doch kaum schritt er darauf zu, fing Paul wieder an zu wettern.

„Sie hätten uns wenigstens vorher darüber informieren können, Rödinghaus. Dann wären wir darauf vorbereitet gewesen und hätten diesen Keller gleich hinauskatapultiert. Der hat sich bei meiner Schwiegermutter immer eingeschleimt. Jetzt weiß ich auch, warum. Weil er sie beerben wollte. Das können wir nicht dulden! Auf keinen Fall!“

„Herr Lessmann, in Gottes Namen!“ Dr. Rödinghaus schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte, was Paul wider Erwarten verstummen ließ. „Lassen Sie uns jetzt beginnen oder Sie werden heute nichts mehr über das Erbe erfahren.“ Der Anwalt warf einen Blick auf seine Taschenuhr, bevor er sie seufzend in die Hosentasche zurückschob.

Auch Jennifer war darüber erstaunt, dass ihre Mutter Dave in ihrem Testament bedacht haben könnte. Was verband die beiden? Keine ihrer Schwester hatte Daves Besuche auf dem Gut erwähnt. Auch nicht, dass sich beide nahegestanden hatten.

Damals, nach ihrer Trennung, war Dave dem Gut ferngeblieben. Hatte sogar den Kontakt zu den Abendroths abgebrochen.

Ihre Mutter hatte Dave zwar immer gern gemocht, doch nie gesagt, dass sie die Trennung von ihr und Dave bedauerte.

Jennifer rutschte auf dem Stuhl hin und her. Was mussten ihre Nerven heute noch aushalten?

„Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, Herr Dr. Rödinghaus, aber ein Fohlen wollte nicht ganz so schnell auf die Welt kommen.“

Dave setzte sich neben Stephanie. Sein Haar war an manchen Stellen noch feucht. Jennifer wagte nicht, zu ihm zu sehen. Sie war viel zu angespannt und hoffte nur auf ein baldiges Ende der Testamentseröffnung, damit sie so schnell wie möglich zu Michael zurückkehren könnte.

„Nachdem alle Geladenen anwesend sind, möchte ich mit der Testamentseröffnung beginnen.“ Es folgten weitere Erklärungen zum Prozedere, die an Jennifer ungehört vorbeizogen. Sie verschränkte ihre eiskalten Hände im Schoß. Sie blickte zu ihren Schwestern. Miriam nestelte am Henkel ihrer Handtasche, und Stephanie wippte mit dem Fuß. Ihre Mienen waren ungewohnt angespannt. Nur Paul blickte düster drein. Sicherlich kochte er noch immer vor Wut. Nur Dave schien die Gelassenheit selbst zu sein.

Jennifer versuchte sich auf den Testamentsvollstrecker zu konzentrieren, doch der monotone Vortrag machte es ihr nicht gerade leicht.

Stephanie stieß sie mit dem Ellbogen an. Schlagartig war sie hellwach. „Wach auf! Gleich wird Miriam offiziell die Erbin des Guts sein“, flüsterte Stephanie. „Ich sehe schon Paul vor mir, wie er den Großgrundbesitzer spielt. Und wir werden mit Schmuck oder altem Silberbesteck abgespeist.“

„Es ist Mamas letzter Wille. Daran können wir …“ Rödinghaus stoppte in seinem Monolog und sah sie strafend an. Jennifer hielt die Hand vor den Mund. „Sorry.“

„Lesen Sie schon weiter vor“, forderte Paul und unterstrich seine Worte mit einer schwungvollen Geste.

Rödinghaus wartete eine Weile, bevor er fortfuhr. Er las einen Brief ihrer Mutter vor, in dem sie ihre tiefe Dankbarkeit Miriam gegenüber aussprach für alles, was sie für sie und das Gut getan hatte. Jennifer und Stephanie erwähnte sie mit keinem Wort. Das hätte Jennifer sich denken können. Eine Vase zum Andenken oder ein paar Fotos, das wäre sicher für sie übrig. Sie hatte angesichts der Situation nichts erwartet.

Danach folgte in den Ausführungen Rödinghausens ein Einschub, der eine mögliche Rückkehr Jakobs beinhaltete, und ihn für diesen Fall zum Alleinerben einsetzte, während Miriam ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Gut eingeräumt werden sollte. Jennifer beobachtete Pauls Mienenspiel, das sich bei diesem Passus verdüsterte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Sie rechnete damit, er könnte wieder aufspringen und den Testamentsvollstrecker am Revers packen. Doch diesmal blieb eine heftige Reaktion aus. Vielleicht lag es an Miriams Hand, die sich flüchtig auf seinen Schenkel legte.

Die Minuten verstrichen und Jennifer sehnte sich immer mehr danach, die Kanzlei verlassen zu können.

„Nun kommen wir zu einer handschriftlichen Auflistung bestimmter Gegenstände, die Ihrer Mutter besonders am Herzen lagen“, verkündete der Notar. „‚Die mit Brillanten besetzte Marienkäferbrosche soll meine Tochter Stephanie erhalten. Ein paar meiner Schmuckstücke wurden bereits an verschiedene Bekannte verteilt, darunter das Herzamulett und der Schlangenring. Des Weiteren besitze ich eine kleine Summe Bargeld und die Goldmünzensammlung, die ich Jennifer vermache‘.“ Jennifer sah immer wieder zur Uhr. Wollte das denn gar nicht enden? Warum verkündete Rödinghaus nicht endlich, dass Miriam das Gut erbte und sie könnten alle ihrer Wege gehen. Sie hoffte inständig, dass ihre Mutter Paul nicht mitbedacht hatte und fragte sich gleichzeitig, welches Erbe Dave erwartete. Rödinghaus schob seine Brille zurecht, bevor er mit einer theatralischen Geste die Aufteilung des größten Erbanteils verkündete.

„‚Ich, Elsbeth Abendroth, vererbe mein Gut nebst Ländereien, Gebäuden und dem Gestüt meiner Tochter Jennifer. Folgende Auflagen sind jedoch damit verbunden: Herr Dave Keller wird die Verwaltung des Gestüts übernehmen und meine Tochter Miriam die Leitung des Pferdezuchtbetriebs. Meine Tochter Stephanie erhält die Eigentumswohnung im Obergeschoss des Westflügels sowie meinen Mercedes Benz. Außerdem erhält Herr Dave Keller eine einmalige Bonuszahlung für seine Leistungen auf dem Gut in den vergangenen Monaten‘.“

Sekundenlang herrschte Stille. … vererbe mein Gut… meiner Tochter … Jennifer. Die Worte hallten in Jennifer nach. Sie fühlte sich wie betäubt. Träumte sie etwa? Doch die entsetzten Mienen der anderen bestätigten das eben Gesagte. Das konnte ihre Mutter doch nicht ernsthaft gewollt haben? Was sollte sie denn mit Abendroth, wo sie doch in den Staaten lebte? Aus der Ferne entscheiden, bestimmen? Unmöglich! Sie konnte das Erbe auf keinen Fall annehmen. Sie wandte sich um und sah Hilfe suchend zu ihren Schwestern. Miriam war kreidebleich, in ihren Augen schimmerte es feucht, während Stephanies Blick Fragen und Fassungslosigkeit ausdrückte. Dave schien wie versteinert.

Paul sprang wütend auf. „Das wird ja immer schöner. Das kann nicht das aktuelle Testament sein. Meine Frau ist die Erbin des Guts!“ Er stützte sich auf den Schreibtisch von Rödinghausen und beugte sich mit wutverzerrtem Gesicht vor.

Der Anwalt schüttelte den Kopf. „Ein Irrtum ist ausgeschlossen.“

„Meine Schwiegermutter war nicht mehr bei klarem Verstand! Sie hat Miriam das Gut versprochen.“ Paul bebte vor Empörung.

„Miriam! Sag ihnen, dass es so gewesen ist.“

Miriams Lippen öffneten sich, ohne dass ein Ton darüber kam. Jennifer spürte, wie sehr ihre Schwester um Fassung bemüht war.

„Es tut mir leid, Herr Lessmann, aber Ihre Schwiegermutter befand sich zum damaligen Zeitpunkt im vollen Besitz ihrer geistigen Fähigkeiten. Ich kannte sie lange genug.“

„Das lassen wir uns nicht gefallen!“, brüllte Paul.

Jennifer spürte, wie sich eine unüberwindbare Mauer zwischen sie und Miriam schob. Das Gesicht der Schwester war starr wie eine Maske, der Blick eine einzige Anklage, die sich gegen sie richtete. Das hatte Jennifer nicht gewollt. Das Erbe stand Miriam zu, die immer für das Gut da gewesen war. Sicher bereute Miriam in diesem Moment, sie überredet zu haben, der Testamentseröffnung beizuwohnen. Auch Stephanie sah sie anklagend an, als hätte sie den Inhalt des Testaments vorher gekannt.

„Dann werden wir das Testament eben anfechten! Miriam hat sich doch nicht all die Jahre abgerackert für nichts, und andere erben, was sie aufgebaut hat!“ Dieses Mal stoppte Miriam ihren Mann nicht, sondern nickte.

„Ich stimme Paul zu. All die Arbeit, die ich geleistet habe, hat Mutter mit einem Dankesbrief belohnt.“ Miriam lachte freudlos auf. „Jenny, ich weiß nicht, weshalb Mutter das getan hat, obwohl du nie für sie da gewesen bist, als sie dich gebraucht hat.“ Dann wandte sie sich Dave zu. „Ich hätte nie von dir gedacht, Dave, dass du meine Mutter so beeinflusst! Und ich habe dich für aufrichtig gehalten.“ Dave zuckte zusammen. Miriams Worte schnitten sich wie ein Messer in Jennifers Herz. Nie hätte sie je geglaubt, einmal das Gut zu erben. Sie verstand ihre Mutter nicht. Sie hätte ahnen müssen, welchen Zwist diese Entscheidung mit sich bringen würde. Miriam und sie hatten immer wie Pech und Schwefel zusammengehalten. Die Feindseligkeit, die ihr jetzt von ihrer Schwester entgegenschlug, bedrückte sie. Jennifer fühlte sich elend. Mit Tränen in den Augen sprang sie auf.

„Ich weiß nicht, wie Mutter auf diese Idee gekommen ist! Ich will das Erbe doch gar nicht! Was soll ich denn mit einem Gut anfangen, wenn sich mein Leben in Virginia abspielt? Das weißt du doch auch, Miri.“

Jennifer zitterte vor Aufregung. Sie starrte zu Miriam hinüber, die mit finsterer Miene auf dem Stuhl saß. Dave fasste Jennifers Arm. Diese banale Geste spendete ihr Trost.

„Ach, jetzt wird mir alles klar! Erst weigerst du dich, zu Mutters Beerdigung zu erscheinen, und dann tauchst du hier mir nichts, dir nichts auf, ohne uns zu informieren. Weil du wusstest, dass du das Gut erbst!“, keifte Paul. Wie konnten Schwager und Schwester ihr unterstellen, eine Erbschleicherin zu sein? Warum sprang Stephanie nicht für sie in die Bresche und brachte Miriam zur Vernunft, die sich von Paul anstacheln ließ?

„Das ist doch vollkommener Quatsch. Ich wusste wie ihr nichts von dem Erbe. Und es ist mir auch egal. Aber ich bin enttäuscht. Dass Paul mir alles Mögliche unterstellt, war mir von vorneherein klar. Aber dass du mir nicht glauben willst, Miri, wo wir uns ein Leben lang kennen, verletzt mich tief. Du weißt, dass ich nie etwas von Mama verlangt habe, sondern mein Leben aus eigener Kraft aufgebaut habe, fernab von Deutschland.“ Die Worte fielen Jennifer schwer. Mühsam unterdrückte sie die Tränen. Noch nie hatte sie sich derart verteidigen müssen, schon gar nicht für etwas, das sie nicht zu verantworten hatte.

„Menschen ändern sich, Jenny. Auch du …“, hob Miriam erneut an und brach ab. „Seltsam ist das schon, dass du nach so vielen Jahren wieder hier auftauchst. Bei Vater hat dich die Testamentseröffnung nicht sonderlich interessiert und du bist ihr ferngeblieben.“

Aber das war doch etwas ganz anderes, hätte sie den Geschwistern am liebsten entgegengeschleudert. Der Tod des Vaters hatte unsäglich geschmerzt und sie völlig aus der Bahn geworfen, so sehr, dass sie die damaligen Erbauseinandersetzungen nicht hatte ertragen können.

Der vorwurfsvolle Blick Stephanies traf sie tief. Jetzt war auch noch Stephanie gegen sie.

Wäre sie doch bloß nicht nach Deutschland zurückgekehrt.

„Ich finde das nicht fair, was ihr Jenny unterstellt. Ich glaube nicht, dass sie vorher etwas gewusst hat. Ihr kanntet doch eure Mutter. Elsbeth hat ihre Entscheidungen mit niemandem geteilt. Sie hat auch mir nichts gesagt. Ich habe es auch erst eben erfahren.“

Jennifer kämpfte gegen ihre Tränen.

„Lass gut sein, Dave“, sagte sie mit belegter Stimme. „Herr Dr. Rödinghaus, ich werde das Erbe auf keinen Fall annehmen.“

„Aber, das geht …“, versuchte der Anwalt zu intervenieren, aber sie kam ihm zuvor.

„Bitte, verstehen Sie mich. Miriam hat sich für das Gut geradezu aufgeopfert, während ich jahrelang weg gewesen bin. Es wäre nicht fair ihr gegenüber. Außerdem lebe ich in den Staaten. Wie sollte das alles gehen?“

Rödinghaus schwieg und kaute auf der Unterlippe.

„Jenn, triff keine überstürzte Entscheidung, die du später bereust“, mahnte Dave sie.

„Halt dich da raus, Dave! Das ist Familiensache. Rödinghaus, jetzt muss meine Schwägerin doch nur noch dieses … dieses Verzichtsformular ausfüllen und das Gut gehört uns.“ Paul lehnte sich mit einem selbstgefälligen Lächeln zurück. Miriam schien noch immer angespannt, die Hände auf dem Schoß zu Fäusten geballt. Stephanie lächelte wie befreit. Jennifer hielt die angespannte Atmosphäre im Raum nicht mehr aus.

„So schnell geht das leider nicht, Herr Lessmann. Erst wenn die Ausschlagungsfrist verstrichen ist. Solange trägt Jennifer die Verantwortung für das Gut.“ Der Einwand des Testamentsvollstreckers dämpfte die freudige Stimmung der anderen.

„Und die wäre wie lang?“ Paul wischte sich mit der Hand durchs Gesicht und stöhnte.

„Jennifer hat sechs Wochen Zeit, sich zu überlegen, ob sie das Erbe annimmt.“

Paul lief vor Wut rot an. „Das kann doch jetzt nicht Ihr Ernst sein? Wir sollen sechs Wochen darauf warten? Die wird das Gut binnen der Frist in den Ruin treiben!“

Die Emotionen kochten hoch und alle begannen durcheinander zu reden. Dave und Rödinghausen versuchten vergeblich, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Jennifer hielt es nicht mehr aus. Wortlos stürmte sie aus dem Büro. Sie musste jetzt hinaus an die frische Luft, wenn sie nicht ersticken wollte.

Das Erbe der Abendroths - Herbstzeit

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