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Spiegel und Vorzeichen

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Er lief unruhig durch den kalten Raum, dessen Boden ein vor Urzeiten gefrorener glasklarer See war. In seiner Mitte ragte sein Thron empor auch vollständig aus Eis erbaut. Sein Blick wanderte zu dem Zauberspiegel, der vor ihm an der Wand befestigt war. Dort bewunderte der Kaiser seit eh und je all seine herrlichen Reiche in direkter Übertragung. Dieser wertvolle Gegenstand zeigte ihm auch die Welt der Menschen. Er hatte diesen kostbaren Spiegel mit Jotunn in langjähriger Arbeit mühsam erschaffen. Und mittlerweile, war dieses Fenster zur Welt für ihn unverzichtbar geworden. Davorstehend wollte er ihn einschalten, um sich ein besseres Bild über das Ausmaß der Schneeschmelze im Himalaya zu machen. Energisch drückte er den Knopf an der Seite, aber der Spiegel ging nicht an. Harald erlebte so etwas zum ersten Mal und diese unerklärliche Panne bereitete ihm große Sorgen. Hatte Helena etwa die Macht, seine Informationsübermittlung zu unterbrechen? Oder war das alles nur ein Zufall? Doch der Spiegel reflektierte weiterhin lediglich sein eigenes Bild. Er sah seine menschengleiche Gestalt von einem langen Eisumhang umhüllt. Seine klaren Augen waren von winzigen Eiskristallen gesprenkelt. Ein wohlgeformter und gepflegter Bart aus Eis gab ihm ein gleichermaßen junges wie respektables Aussehen. Auf seinem Haupt glitzerte eine Krone aus spitzen Eiszapfen. In der rechten Hand hielt er sein kostbares Zepter auf dessen oberen Ende ein funkelnder Kristall aus klarem Eis in geheimnisvollem Licht pulsierte. Dabei kam ihm eine Szene ins Gedächtnis, die sich vor mehreren Jahren ereignet hatte. Er flog wie so oft über das Ufer jenes Fjordes, der sich unweit seines Schlosses, wie ein großer See zwischen den Bergen erstreckte. Unter seinem Polar Jet watschelte eine Schwanenfamilie mit vier niedlichen Küken zum Ufer. Da löste sich völlig unerwartet eine goldene leuchtende Perle aus Eis von dem Kristall seines Zepters und sank sanft auf den Kopf des letzten Schwanenkükens herab. Dort schmolz sie, und hinterließ einen goldenen Punkt auf dem zarten Gefieder. Das Kleine Tier bemerkte nichts und schwamm unbeirrt seiner Mutter hinterher. Der Eiskaiser hatte diese kleine Episode fast vergessen. Er betrachtete sein Spiegelbild genau und erstarrte unversehens. Was sich hier seinem Auge darbot, brachte ihn aus der Fassung. Auf dem Abbild seines Zepters bildete sich ein Wassertropfen. Ein zweiter und sogar ein dritter rollten an dem Symbol seiner Macht herab. Harald erschrak und zitterte. Niemals in seinem langen Leben war ihm auch nur ein einziger flüssiger Tropfen auf seinem Zepter oder auf irgendeinem anderen Gegenstand in seinem Palast aufgefallen. Er wandte sich vom Spiegel ab und schaute nun prüfend das Symbol seiner Herrschaft direkt an. Glücklicherweise fand er nichts Außergewöhnliches.

„Ich muss geträumt haben. Vielleicht bin ich einfach zu müde", murmelte er erleichtert.

Wenig später spürte er erneut vage Besorgnis in sich aufkeimen. Würden seine Trolle in der Lage sein, Helenas Soldaten zu besiegen? Harald und sein Volk kannten überhaupt keine Anzeichen von Alter oder Schwäche. Andererseits wusste der Kaiser, wie gefährlich ihnen Wärme werden konnte. Sie waren eben doch nicht unbesiegbar. Im Vergleich zu den Menschen waren sie uralt. Dennoch fühlte er sich jung und vor allem noch stark und kräftig. In den letzten hundert Jahren hatte Harald darüber hinaus zusätzliche Energie aus den rührenden Szenen der im Schnee spielenden Kinder geschöpft. Aber neuerdings, hatte Helena ihren Soldaten immer häufiger befohlen, seinen frisch gefallenen Schnee überall da, wo in der Vergangenheit sein Winterweiß wochenlang glänzte zu schmelzen. Somit hatte seine neue Gegnerin vielen Kindern die Freude eines weißen Winters vorenthalten. Dem Kaiser taten die enttäuschten jungen Menschen leid. Er eilte immer wieder zu ihren kahlen Ländern, sobald sein Spiegel ihm diese beklagenswerten Bilder übertrug. Er und seine Trolle brachten dann unermüdlich neuen Schnee. Anstatt aber Helena und ihre Soldaten zu entmutigen, hatte es den Anschein, Haralds Bemühungen würden ihre Angriffslust noch stärker entfachen. Dieses sinnlose Hin und Her frustrierte ihn zunehmend. Glücklicherweise gab es aber immer noch diese inzwischen selten gewordenen fröhlichen Szenen, die sein Spiegel übertrug. Sie zeigten Kinder, die sich in einem Park tummelten oder sich auf verschneiten Feldern mit Schneebällen bewarfen. Diese heiteren Momente waren wie ein Geschenk für den Eiskaiser. Spontan verspürte er dann den Drang, sich diesen Kindern anzuschließen und ihren Spaß zu teilen. Dann dachte er wieder an die Herausforderung, die vor ihm lag, und seine Stimmung verdüsterte sich schlagartig. Noch nie hatte er Helena oder ihre Armee gesehen. Wie könnte er sich am besten auf die Begegnung mit ihr im Himalaya, dem Dach der Welt, vorbereiten? Hätte er genug Kraft, sie zusammen mit ihrer Armee aus seinen Territorien zu vertreiben? Verfügte sie vielleicht über magische Fähigkeiten, ihn und seine Trolle im Bruchteil einer Sekunde auszulöschen? Auf alle diese Fragen wusste er keine Antwort. Noch nie war er seit dem Beginn seiner Herrschaft mit einer derart bedrohlichen Situation konfrontiert worden. Jotunn bemühte sich so oft wie möglich im Auftrag des Kaisers, mehr über die neue Königin zu erfahren. Dadurch hatte er Harald sehr geholfen sich ein ungefähres Bild von seiner Gegnerin zu machen. Aber heute unmittelbar vor seiner bevorstehenden, ernsthaften Auseinandersetzung mit ihr, hätte er gerne noch viel mehr Informationen über Sie und ihre Soldaten gehabt, um besser gewappnet zu sein. Einmal mehr schweiften seine Gedanken zur liebreizenden Celesta. Er vermisste ihre Freundschaft aber noch stärker wünschte er sich eine Eisprinzessin als Gefährtin. Einmal war ihm ein solches Geschöpf im Traum erschienen. Eine jung aussehende Frau ganz aus Eis stand vor ihm. Gehüllt in ein wallendes Kleid, verziert mit Eisblumen, war sie von überwältigender Schönheit. Sie schaute ihn freundlich an und sprach liebevolle Worte zu ihm. Er hatte vergeblich versucht diese wunderschöne Erscheinung festzuhalten. Er lief auf sie zu, streckte seine Hand nach ihr aus. Dennoch verschwand sie so schnell wie sie gekommen war und er erwachte völlig verwirrt. Nie hatte er sich getraut mit Jotunn darüber zu sprechen. Und da er auf all seinen Reisen auf der Erde nie eine Prinzessin gefunden hatte, hielt er diesen merkwürdigen Traum für ein Hirngespinst aus seiner Sehnsucht entsprungen. Und jetzt, nachdem die Wärmekönigin nun von ihrer ehemaligen Ministerin verraten und eingekerkert worden war, litt er umso mehr unter seiner Einsamkeit. Harald hob den Kopf und sah auf seine Eisuhr. Eine Stunde war inzwischen vergangen, seitdem sein Minister fortgeeilt war, um die Trolle zu versammeln. Er stieg die Treppe hoch bis zum höchsten Balkon des Palastturms. Mit jeder Stufe, die er erklomm, wurden seine Bewegungen energischer und seine Unsicherheit fiel von ihm ab wie Nebel, der sich in der Morgensonne auflöst. Unter dem leuchtenden Schleiertanz der Nordlichter im nächtlichen Himmel, kamen seine Trolle auf ihren Polar Jets aus allen Himmelsrichtungen auf ihn zu.


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