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5. KAPITEL
SARAHS BABY

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Am ersten Schultag erwartete mich Logan auf halber Wegstrecke, um mich zu begleiten. Langsam wurde es in den Bergen spürbar kühler, aber unten im Tal war es noch angenehm warm. Miß Deale war immer noch unsere Lehrerin. Ich verehrte sie immer noch, aber trotzdem war ich nicht immer bei der Sache...

Ich war froh, wieder in die Schule zu gehen und Logan jeden Tag sehen zu können. Er nahm meine Hand und begleitete mich täglich nach Hause. Mit ihm konnte ich alle meine Sorgen und Nöte vergessen, die zu Hause auf mich warteten.

Wir gingen nebeneinander her und diskutierten eifrig unsere Zukunftspläne. Tom ging währenddessen mit Unserer-Jane und Keith voraus, und Fanny trödelte, von ihren Verehrern begleitet, hinter uns her.

Ich brauchte mich nur umzusehen, um zu wissen, daß in den kommenden Nächten das Regenwasser auf den Bergen gefrieren würde; wir brauchten alle dringend Wintermäntel, Jacken und Stiefel, die wir uns aber nicht leisten konnten. Logan hielt meine Hand und blickte mich unentwegt an, als könnte er nicht aufhören, mich zu bewundern. Wir schlenderten sehr langsam dahin. Unsere-Jane und Keith lachten und hüpften, während Tom nach hinten lief, um nachzusehen, was Fanny gerade mit den Jungen anstellte.

»Du sprichst überhaupt nicht mit mir«, beklagte sich Logan. Er blieb stehen und drückte mich auf einen vermoderten Baumstamm hinunter. »Gleich wirst du wieder davonlaufen, dich umdrehen und mir zuwinken. Soll ich nie dein Zuhause kennenlernen?«

»Da gibt es nichts zu sehen«, sagte ich mit gesenktem Kopf.

»Man sollte sich für nichts schämen«, sagte er sanft und drückte meine Finger, bevor er meine Hand losließ und mein Gesicht zu sich hob. »Wenn du weiterhin Teil meines Lebens sein wirst – und ich kann es mir anders nicht vorstellen –, dann mußt du mich ja doch eines Tages hereinlassen, nicht wahr?«

»Eines Tages – wenn ich mutiger bin.«

»Du bist der mutigste Mensch, den ich kenne! Heaven, ich habe in letzter Zeit viel über uns nachgedacht; darüber, wie gut wir uns verstehen, wieviel Spaß wir zusammen haben und wie einsam die Stunden ohne dich sind. Wenn ich das College beendet habe, möchte ich Wissenschaftler werden, ein hochbegabter, natürlich. Hättest du keine Lust, mit mir gemeinsam die Geheimnisse des Lebens zu erforschen? Wir könnten als Team zusammenarbeiten, wie Madame Curie und ihr Mann. Würde dir das nicht gefallen?«

»Natürlich«, sagte ich, ohne nachzudenken, »aber wäre es nicht langweilig, tagtäglich im Labor eingesperrt zu sein? Gibt es kein Labor im Freien?«

Er fand meine Antwort komisch und umarmte mich.

Ich schlang meine Arme um seinen Hals und schmiegte meine Wange an seine. Ich fühlte mich geborgen in seinen Armen. »Wir werden ein Labor ganz aus Glas haben«, sagte er schließlich mit belegter Stimme und seine Lippen näherten sich den meinen, »voller Pflanzen. Würde dich das glücklich machen?«

»Ja, ich glaube schon...« Würde er mich wieder küssen? Wenn ich meinen Kopf nur ein ganz klein wenig zur Seite neigte, dann wäre das Problem, daß seine Nase gegen meine stieß, aus der Welt geschafft.

Ich hatte zwar keine Ahnung, wie ein Kuß zustande kam, dafür er um so mehr. Es war wunderbar aufregend. Kaum war ich jedoch zu Hause, verflog meine freudige Erregung durch Sarahs tobende Leidensausbrüche.

An diesem Samstag schien die Sonne etwas heller, freundlicher und wärmer. Tom und ich waren bestrebt, dem bitteren Haß Sarahs, die in übelster Laune war, zu entgehen. Wir trafen uns mit Logan. Zu diesem Treffen hatten wir auch Unsere-Jane und Keith mitgenommen. Wir verstanden uns sehr gut und bemühten uns, Keith und Unsere-Jane die Zeit zu vertreiben.

Kaum waren wir am Fluß angelangt, wo wir angeln wollten, erscholl in den Bergen Sarahs Gebrüll. Sie rief mich zurück. »Auf Wiedersehen, Logan!« sagte ich nervös. »Ich muß zu Sarah zurück; vielleicht braucht sie mich! Tom, bleib du hier und paß auf Keith und Unsere-Jane auf.«

Ich sah Logans Enttäuschung, als ich davonstob, um Sarahs Befehl nachzukommen, die Wäsche zu waschen, statt meine Zeit mit einem Jungen aus dem Tal zu vergeuden, der sowieso nichts taugte und mir mein Leben ruinieren würde. Mit schlechtem Gewissen stellte ich den Waschtrog auf die Bank, schleppte das heiße Wasser vom Ofen dorthin und fing auf dem alten Waschbrett zu schrubben an.

Am nächsten Tag lief Sarah wieder ständig auf und ab und murmelte immer das gleiche vor sich hin. »Muß hier raus, muß raus aus dieser Hölle hier. Nichts als arbeiten, schlafen, und warten und warten auf ihn – und wenn er kommt, keine Freude, keine Zufriedenheit, nichts.«

Das sagte sie tausendmal, trotzdem blieb sie.

Dann kam der Tag, vor dem wir uns alle gefürchtet hatten. Es fing Sonntag früh an, ich setzte gerade Wasser auf, damit wir uns vor dem Gottesdienst noch schnell waschen konnten. Vom Schlafzimmer ertönten gellende, schmerzerfüllte Schreie. »Annie, es kommt, Annie, es kommt, Lukes schwarzhaariger Sohn kommt!«

Großmutter bewegte sich schwerfällig, ihre Beine taten weh, sie war kurzatmig und brauchte meine Unterstützung. Von dem Augenblick an, als die Wehen eingesetzt hatten, ahnte sie, daß diese Geburt anders und schwieriger als die vorangegangenen verlaufen würde. Tom rannte hinaus, um Vater zu suchen, während Großvater sich widerwillig von seinem Schaukelstuhl erhob und zum Fluß ging. Ich befahl Fanny, auf Keith und Unsere-Jane aufzupassen, aber sich nicht zu weit von der Hütte zu entfernen. Großmutter und Sarah brauchten meine Hilfe. Die Wehen dauerten viel länger als bei Unserer-Jane und den anderen Kindern, die ebenfalls in diesem Bett zur Welt gekommen waren. Erschöpft fiel Großmutter auf einen Stuhl und gab stockend ihre Anleitungen, während ich das Wasser heiß machte, in dem das Messer sterilisiert werden sollte, bevor ich die Nabelschnur durchtrennte. Ich bemühte mich, das Blut, das wie ein roter Todesfluß aus Sarah quoll, zu stillen.

Endlich, nach vielen Stunden, währenddessen Vater im Hof mit Großvater, Tom, Keith und Unserer-Jane wartete – Fanny blieb unauffindbar –, kam schließlich unter qualvollen Schmerzen das Baby zur Welt. Sarahs Gesicht war kalkweiß. Es war ein kleines, eigenartig stilles und befremdend aussehendes Baby.

»Junge... Mädchen?« keuchte Großmutter mit schwacher Stimme. »Sag, Kind, ist es nu’ Lukes Sohn und sein Ebenbild?«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

Sarah stützte sich auf, um nachzusehen. Sie starrte unentwegt vor sich hin und versuchte, ihre schweißnassen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Ich trug das Baby vorsichtig zu Großmutter hinüber, damit sie sein Geschlecht bestimmen konnte.

Großmutter sah dort nach, wo die Geschlechtsteile sich hätten befinden müssen – aber weder sie noch ich entdeckten irgend etwas.

Ich traute meinen Augen nicht. Es war entsetzlich, ein Baby zu sehen, das nichts zwischen seinen Beinen hatte. Aber was machte es schon, daß dieses Kind weder Junge noch Mädchen war, da es tot geboren war und ihm die eine Hälfte des Kopfes fehlte? Es war ein Monster-Kind, übersät mit eiternden Wunden.

»Tot!« schrie Sarah. Sie sprang aus dem Bett und riß mir das Kind aus den Armen. Innig schloß sie es in die Arme und küßte sein armes, halbes Gesicht dutzend Mal und mehr, bevor sie ihren Kopf nach hinten warf und heulend ihren Schmerz hervorstieß, wie die Wölfe in den Bergen, die den Mond anjaulen.

»Luke und seine verdammten Huren!« Völlig außer sich rannte sie wie eine Furie zu Vater, der draußen saß, und schob ihm das Kind in die Arme. Geübt nahm er es auf, dann starrte er es ungläubig und voller Entsetzen an.

»Sieh, was du angestellt hast!« schrie Sarah aus Leibeskräften, ihr einziges Gewand war besudelt mit den Spuren der Geburt. »Du mit deinem schlechten Blut und deiner Hurerei hast dein Kind umgebracht! Hast ’n Monster aus ihm gemacht!«

Vater schrie zornentbrannt: »Du bist die Mutter! Was du ausbrütest, hat verdammt wenig mit mir zu tun!« Er schleuderte das tote Kind zu Boden, befahl Großvater, es anständig zu begraben, damit die Schweine und Hunde es nicht zerrissen. Dann machte er sich auf und davon, sprang in seinen Lieferwagen und fuhr in Richtung Winnerrow, um sein Leid zu ertränken und danach wohl zu »Shirley’s Place« zu torkeln.

Mein Gott, wie furchtbar war doch dieser Sonntag, an dem ich das tote Kind in der Zinkwanne badete und sein Begräbnis vorbereitete. Währenddessen kümmerte sich Großmutter um Sarah, die plötzlich alle Kraft verloren hatte. Es war vorbei mit ihrer Amazonenstärke, sie war nur noch eine Frau, die schluchzend und trauernd auf den Knien lag und mit Gott haderte, warum ihr Kleines für die Sünden seines Vaters hatte büßen müssen.

Das arme, kleine Ding, dachte ich, während ich Blut und Schleim von seinem winzigen, erbarmungswürdigen Körper, der so still und reglos dalag, abwusch. Ich hätte nicht darauf achten müssen, seinen halb vorhandenen Kopf über Wasser zu halten – aber ich tat es trotzdem. Ich kleidete es in das Gewand, das Keith und Unsere-Jane getragen hatten – und wahrscheinlich auch schon ich und Tom.

Schließlich fiel Sarah vornüber auf das beschmutzte Bett, sie krallte sich mit ihren Fingern an der Matratze fest und weinte, wie ich sie niemals zuvor hatte weinen hören.

Solange ich mit dem toten Kind beschäftigt war, hatte ich keine Zeit, mich um Großmutter zu kümmern. Ich mußte sie erst ein paarmal ansehen, bis ich bemerkte, daß sie weder strickte, häkelte, stopfte, flocht, ja nicht einmal in ihrem Schaukelstuhl hin und her wippte. Sie saß nur sehr still da, ihre Augen waren halb geschlossen. Auf ihren dünnen, weißen Lippen lag ein leises Lächeln. Dieses Lächeln jagte mir einen Schrecken ein; eigentlich hätte sie tief betrübt aussehen müssen.

Großmutter...« flüsterte ich ängstlich und legte das totgeborene Kind, das gewaschen und angezogen war, hin. »Wie geht es dir?«

Ich faßte sie an. Sie fiel zur Seite. Ich berührte ihr Gesicht, und sie war schon fast kalt, ihr Gesicht beinahe schon steif.

Großmutter war tot!

Sie war vor Schreck über die Totgeburt des Monster-Kindes gestorben oder vielleicht auch nur an der jahrelangen Entbehrung! Ich schrie auf, und mein Herz krampfte sich zusammen. Ich kniete vor ihrem Schaukelstuhl, um sie zu umarmen. »Großmutter, wenn du in den Himmel kommst, bitte sage meiner Mutter, daß ich mich anstrenge, so wie sie zu sein. Bitte, sag ihr das, ja?«

Ein schlurfendes Geräusch kam mir von der Veranda her entgegen. »Was tust du mir an, Annie!« sagte Großvater, der vom Fluß zurückgekehrt war, wohin er sich zurückgezogen hatte, um nicht mitzuerleben, was Männer nie sehen wollen – sie kommen erst dann zurück, wenn die Geburt vorüber ist. Es war die Eigenart der Männer aus den Bergen, vor den Schmerzensschreien ihrer Frauen zu fliehen und so zu tun, als würden ihre Frauen niemals leiden.

Mit tränenüberströmtem Gesicht blickte ich auf und wußte nicht, was ich sagen sollte. »Großvater...«

Seine trüben, blauen Augen weiteten sich, und er starrte Großmutter an. »Annie... ist alles in Ordnung, oder? Steh auf Annie... komm!« Jetzt mußte er es aber bemerken, so wie ihre Augen ihn anstarrten. Er stolperte, seine Beweglichkeit hatte ihn verlassen, als er begriff, daß. seine Frau tot war.

Er lag auf den Knien, nahm mir Großmutter aus den Armen und drückte sie an seine Brust. »Annie, Annie«, schluchzte er, »ist so lang her, daß ich dir gesagt hab’, wie ich dich liebe... hör mich, Annie! Solltest ’s viel schöner haben. Wirklich! Wußte ja nicht, daß es so kommen würd’... Annie...«

Es war schrecklich zu sehen, wie er um den Verlust seiner guten und treuen Frau trauerte, die, seitdem er vierzehn Jahre alt war, das Leben mit ihm geteilt hatte.

Tom und ich mußten Großmutters Leiche aus Großvaters Armen reißen. Und die ganze Zeit lag Sarah auf ihrem Bett, tränenlos, und starrte die Wand an.

Wir weinten alle beim Begräbnis, sogar Fanny, nur Sarah nicht, die stocksteif und mit leeren Augen dastand wie eine Pappfigur.

Vater war nicht da.

Vermutlich befand er sich völlig betrunken in »Shirley’s Place«, während sein jüngstes Kind und seine Mutter begraben wurden. Reverend Wayland Wise, neben dem seine Frau Rosalyn mit unbewegtem Gesicht stand, sprach die letzten Worte für die alte Frau, die alle gemocht und sogar geachtet hatten.

»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen«, begann der Reverend. Er hob sein Gesicht zur Sonne. »Herr, erhöre mein Gebet. Nimm diese Frau, Mutter, Großmutter und aufrechte Gläubige sowie diese kleine Seele zu dir – öffnet euch, ihr Himmelstüren, öffnet euch weit! Nimm diese Christin zu dir, Herr, und das Kind, denn sie war ehrlich, einfach und gläubig, und das Kind war unschuldig und rein!«

Wir wanderten, immer noch weinend, in einem langen Trauerzug nach Hause.

Die Leute von den Bergen waren alle gekommen, um mit uns zu trauern und den Tod von Annie Brandywine Casteel, einer von ihnen, zu beklagen. Gemeinsam zogen sie mit uns nach Hause, wir sangen und beteten viele Stunden zusammen. Danach brachten die Männer den schwarzgebrannten Schnaps, die Gitarren, Banjos und Geigen und spielten eine fröhliche Melodie, während die Frauen Leckerbissen servierten.

Am nächsten Tag ging ich wieder zum Friedhof und stand mit Tom vor Großmutters frischem Grab und vor dem winzigen Grab, das kaum einen halben Meter lang war. Mein Herz verkrampfte sich, als ich »Kind Casteel« in der Nähe meiner Mutter begraben sah. Ihr Grabstein hatte kein Datum.

»Schau nicht hin«, flüsterte Tom. »Deine Mutter ist schon lange tot. Es ist Großmutter, die wir vermissen werden. Wußt’ gar nicht, wie wichtig sie in unserem Leben war, bis ich ihren leeren Schaukelstuhl gesehen hab’. Hast du’s gewußt?«

»Nein«, flüsterte ich betroffen. »Ich habe ihre Gegenwart einfach hingenommen, als würde sie ewig leben. Wir müssen uns jetzt mehr um Großvater kümmern, er sieht so verloren und einsam aus.«

»Ja«, stimmte mir Tom zu. Er nahm mich bei der Hand und führte mich von diesem traurigen, kalten Ort weg.

Eine Woche später kam Vater nach Hause. Er sah nüchtern und sehr ernst aus. Er stieß Sarah auf einen Stuhl, zog einen zweiten herbei und begann mit angespannter Stimme zu sprechen, während Tom und ich vor dem Fenster lauschten. »Bin in der Stadt zum Arzt gegangen, Sarah. Da war ich jetzt die ganze Zeit. Er hat mir gesagt, daß ich krank bin, sehr krank. Hat mir gesagt, daß ich alle mit meiner Krankheit anstecke und daß ich meine Lebensweise ändern müßte, sonst würde ich verrückt werden und vorzeitig sterben. Hat mir auch gesagt, dürft kein’ Geschlechtsverkehr mehr mit einer Frau haben, nicht mal mit meiner eigenen. Ich brauch’ Spritzen, sagte er mir, die mich kurieren können, aber wir haben nicht das Geld dafür.«

»Was hast du?« fragte Sarah mit kalter Stimme.

»Hab’ die Syphilis im ersten Stadium«, gestand Vater. Seine Stimme klang hohl. »War nicht deine Schuld, daß du das Baby verloren hast, es war meine. Und ich sag’s nur einmal, hier und jetzt: Ich entschuldige mich.«

»Zu spät, sich zu entschuldigen!« schrie Sarah. »Zu spät, um mein Baby zu retten! Hast deine Mutter umgebracht, als du mein letztes Kleines getötet hast! Hörst du? Deine Mutter ist tot!«

Obwohl ich meinen Vater haßte, war sogar ich entsetzt, wie Sarah das herausgeschrien hatte; wenn Vater irgend jemanden, außer sich selbst, geliebt hatte, dann war es Großmutter gewesen. Ich hörte, wie er nach Luft rang, es klang wie ein Röcheln. Dann ließ er sich so schwer auf den Stuhl zurückfallen, daß ich meinte, er würde zusammenbrechen.

»Du mußtest ja deinen Spaß haben, während ich die ganze Zeit hier gehockt und gehofft hab’, du hättest auch mal Sehnsucht nach mir. Ich hasse dich, Luke Casteel! Und ich hass’ dich noch mehr, weil du eine Tote nicht vergessen kannst, von der du sowieso von Anfang an die Finger hättest lassen sollen!«

»Du läßt mich also im Stich?« fragte er bitter. »Jetzt, wo meine Mutter unter der Erde liegt und ich krank bin?«

»Hast’s verdammt gut erraten!« schrie sie ihn an, sprang auf und fing an, seine Kleidung in einen Karton zu schmeißen. »Hier hast du deine verrotteten und verstunkenen Klamotten. Hau ab! Hau ab, bevor du uns noch alle mit deiner vermaledeiten Krankheit ansteckst! Will dich nie wieder sehen! Nie wieder!«

Er erhob sich, scheinbar getroffen, und sah sich in der Hütte um, als würde er sie zum letzten Mal vor sich sehen. Ich hatte Angst, große Angst. Ich bebte, als Vater neben Großvaters Stuhl stehenblieb und seine Hand sanft auf seine Schultern legte. »Tut mir leid, Vater. Tut mir wirklich leid, daß ich nicht bei ihrem Begräbnis war.«

Großvater sagte nichts, er senkte den Kopf, und die Tränen tropften unendlich langsam herab und benetzten sein Knie.

Stumm sah ich zu, wie Vater in seinen Lieferwagen stieg und davonbrauste, wobei Erde hochgeschleudert und das Laub durcheinandergewirbelt wurde und hinter ihm Staub und Dreck in die Luft flog. Er war fort und hatte seine Jagdhunde mitgenommen. Nun hatten wir nur noch Katzen, die nur für sich selbst sorgten.

Ich rannte in eines der Zimmer, um Sarah zu sagen, daß Vater nun endgültig fort war und diesmal seine Hunde mitgenommen hatte. Bei dieser Nachricht schrie sie auf und sank dann zu Boden. »Mutter, aber das wolltest du doch, nicht wahr? Du hast ihn rausgeworfen. Du hast ihm gesagt, daß du ihn haßt... warum weinst du, wenn es zu spät ist?«

»Sei still!« brüllte Sarah. »Ist mir egal! Besser so, besser so!«

Besser so? Warum weinte sie dann noch mehr?

Mit wem, außer mit Tom, konnte ich jetzt reden? Jedenfalls nicht mit Großvater, den ich nie so geliebt hatte wie Großmutter.

Ich half ihm, sich jeden Morgen an den Tisch zu setzen, wenn Sarah noch im Bett lag, und jeden Abend, wobei ich versuchte, ihn zu trösten, bis er sich daran gewöhnt hatte, ohne seine Frau zu leben. »Deine Annie ist jetzt im Himmel, Großvater. Sie hat mir oft gesagt, daß ich auf dich aufpassen soll, wenn sie tot ist, und das werde ich auch tun. Und überlege doch, Großvater, jetzt hat sie keine Schmerzen mehr, und im Paradies kann sie essen, was sie will, ohne daß ihr jedesmal danach schlecht wird. Das wird ihre Belohnung sein... nicht wahr, Großvater?«

Armer Großvater – er konnte nicht sprechen. Die Tränen flossen aus seinen blassen, müden Augen. Wenn er ein bißchen gegessen hatte, half ich ihm wieder zurück in den Schaukelstuhl, den Großmutter benutzt hatte und auf dem die besten Kissen lagen, um die Schmerzen in den Hüften und Gelenken erträglicher zu machen. »Niemand da, der mich je wieder Toby nennen wird«, sagte er unendlich traurig.

»Ich werde dich Toby nennen«, sagte ich schnell.

»Ich auch«, meldete sich Tom ebenfalls.

Nach Großmutters Tod redete Großvater mehr, als ich je von ihm gehört hatte.

»Mein Gott, das Leben hier wird aber öd!« weinte Fanny.

»Wenn noch einer stirbt, hau’ ich ab!«

Sarah blickte auf und sah Fanny nachdenklich an, bevor sie im zweiten Zimmer verschwand, und ich hörte, wie die Bettfedern quietschten, als sie sich aufs Bett warf und wieder weinte.

Als Großmutters Geist unsere Hütte verlassen hatte, schien auch alle Liebe, die uns zusammengehalten hatte, mit ihr gegangen zu sein.

Dunkle Wasser

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