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3. KAPITEL
LOGAN STONEWALL

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Kaum hatten Tom, Fanny, Unsere-Jane, Keith und ich am Montagmorgen den Schulhof betreten, als Tom mir den neuen Jungen zeigte, der mich am Sonntag in der Kirche dauernd angestarrt hatte. Dieser neue Junge, der besser gekleidet war als die Jungen aus dem Tal, fiel aus dem Rahmen. Er stand im Gegenlicht der Morgensonne, die eine Art feurigen Glorienschein um seine dunklen Haare bildete, so daß ich sein Gesicht, das im Schatten lag, nicht richtig erkennen konnte. Aber so, wie er dastand, nicht so vornübergebeugt wie manche Burschen aus den Bergen, die sich wegen ihrer Größe genierten, wußte ich sofort, daß ich ihn mochte. Natürlich war es dumm von mir, einen mir vollkommen Fremden zu mögen, nur weil er Sicherheit ausstrahlte, die nichts mit Arroganz zu tun hatte, sondern Stärke und Selbstbewußtsein verriet. Ich sah zu Tom hinüber, und mir wurde klar, warum ich diesen Jungen, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, sofort mochte. Logan und Tom hatten die gleiche natürliche Anmut und Ungezwungenheit, die daher rührte, daß beide wußten, wer und was sie waren. Wieder betrachtete ich Tom. Wie konnte er nur als ein Casteel so stolz neben mir hergehen?

Ich hatte den sehnlichen Wunsch, auch über eine sichere Haltung und über die Fähigkeit, mit mir selbst zufrieden zu sein, zu verfügen, was wahrscheinlich möglich gewesen wäre, wenn mich Vater geliebt hätte – so wie er Tom liebte.

»Schon wieder starrt er dich an«, flüsterte mir Tom zu und versetzte mir einen Rippenstoß, worauf Fanny sofort mit ihrer lauten Stimme zu plärren anfing. »Er starrt nicht auf Heaven! Er starrt nur mich an!«

Fanny hatte mich wieder einmal in Verlegenheit gebracht. Selbst wenn der neue Junge etwas gehört hatte, so zeigte er es nicht. Mit seiner gebügelten grauen Flanellhose, seiner grünen Strickjacke, die er über einem weißen Hemd mit einer grün-grau gestreiften Krawatte trug, fiel er auf wie ein Weihnachtsbaum. Er hatte richtige Sonntagsschuhe aus Leder an, die auf Hochglanz poliert waren. Die Jungen aus dem Tal trugen alle Jeans, Pullover und Turnschuhe. Noch nie war jemand in solchen Kleidern, wie Logan Stonewall sie trug, in die Schule gekommen.

Hatte er gemerkt, wie wir ihn anstarrten? Es muß wohl so gewesen sein, denn auf einmal kam er zu meinem großen Schrecken auf uns zu. Was sollte ich jemandem, der so vornehm aussah, nur sagen? Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Jeder Schritt, den er näher kam, versetzte mich in Panik. Ich wollte mit Keith und Unserer-Jane davonlaufen, bevor er mein schäbiges, verwaschenes Kleid, bei dem zudem noch der halbe Saum herunterhing, entdeckt hatte, und meine ausgetretenen Schuhe, aber Unsere-Jane wehrte sich dagegen.

»Mir ist schlecht«, jammerte sie. »Will nach Hause, Hevlee.«

»Du kannst nicht immer nach Hause gehen«, flüsterte ich ihr zu. »Du schaffst sonst die erste Klasse nicht, wenn du immer krank bist. Vielleicht kann ich dir und Keith ein Sandwich zu Mittag besorgen – und auch etwas Milch.«

»Thunfisch«, jubelte Keith, und bei dem Gedanken an ein halbes Thunfischbrot ließ Unsere-Jane meine Hand los und ging langsam trippelnd ins Klassenzimmer, wo alle anderen Erstkläßler bereits herumtobten und lachten.

Ich eilte meinen beiden Schützlingen nach, allerdings nur so schnell, daß mich Logan Stonewall vor dem Klassenzimmer der Kleinen eingeholt hatte. Ich drehte mich um und sah, wie er gerade Tom begrüßte. Logan sah so aus wie irgend jemand aus den Büchern und Zeitschriften, die ich gelesen hatte. Er wirkte, als ob er aus einer guten Familie käme, die ihm etwas auf den Weg gegeben hatte, was wir aus den Bergen niemals besitzen würden – nämlich Stil. Er hatte eine schmale, gerade Nase, seine Unterlippe war voller und geschwungener als seine Oberlippe. Sogar aus einiger Entfernung spürte ich das warme Lächeln in seinen blauen Augen. Sein Kinn war ziemlich eckig und stark ausgeprägt, und als er mich anlächelte, wurde ein Grübchen in seiner linken Wange sichtbar. Sein selbstsicheres Auftreten machte mich verlegen, ich fürchtete, daß ich irgend etwas Verkehrtes sagen oder tun könnte. Er würde sich dann bestimmt Fanny zuwenden. Es war vollkommen gleichgültig, wenn Fanny etwas falsch machte, die Jungen flogen stets auf sie.

»Hallo, Fremder«, zwitscherte Fanny. Sie kam tänzelnd auf ihn zu und lächelte ihn an. Fanny hatte sich noch nie darum gekümmert, Unsere-Jane und Keith zu ihren jeweiligen Klassenräumen zu begleiten. »Bist der bestaussehende Junge, der mir je begegnet ist.«

»Fanny, meine Schwester«, stellte Tom sie vor.

»Hallo, Fanny...« Logan streifte sie nur kurz mit den Augen. Er wartete darauf, mir vorgestellt zu werden.

»Und das ist meine Schwester Heaven Leigh.« Es lag viel Stolz in Toms Stimme, als hätte er mein häßliches, verwaschenes Kleid nicht bemerkt und nicht daran gedacht, daß ich Grund hatte, mich meiner Schuhe zu schämen. »Das kleine Mädchen dort, das gerade aus der ersten Klasse herausguckt, ist meine jüngste Schwester – wir nennen sie Unsere-Jane. Der Junge mit den kastanienbraunen Haaren, der zu uns herübergrinst, ist mein Bruder Keith. Geh in dein Klassenzimmer, Keith; du auch, Unsere-Jane.«

Wie konnte sich Tom so natürlich neben einem gutangezogenen Stadtjungen geben? Ich war ganz außer mir vor Aufregung, als seine saphirblauen Augen mich auf eine Art und Weise ansahen, wie ich noch nie angesehen worden war.

»Was für ein hübscher Name«, sagte Logan. Unsere Augen trafen sich. »Der Name paßt sehr gut zu dir. Ich habe noch nie so ›himmlisch‹ blaue Augen gesehen.«

»Und ich hab’ schwarze Augen«, quakte Fanny und verstellte mir den Weg. »Jeder kann so blaue Augen haben wie Heaven. Deine blauen Augen gefallen mir viel besser.«

»›Kornblumenblau‹, sagt Miß Deale zu Heavenlys Augenfarbe«, erklärte Tom weiterhin mit unverhohlenem Stolz. »Im Umkreis von zehn Meilen gibt’s kein Mädchen, das diese blauen Augen hat.«

»Das glaube ich...« murmelte Logan Stonewall geistesabwesend und starrte mich immer noch an.

Ich war damals erst dreizehn; er kann nicht älter als fünfzehn, höchstens sechzehn gewesen sein. Wir konnten unsere Blicke nicht voneinander lösen, und es war, als ertöne ein Gong, dessen Widerhall durch unser ganzes Leben klingen würde.

Es war aber nur die Schulglocke, die geläutet hatte.

Die drängelnden Schüler eilten in ihre Klassenzimmer, bevor die Lehrer auftauchten, und das ersparte es mir, etwas zu sagen. Tom saß schon in der Schulbank und lachte über das ganze Gesicht. »Heavenly, so was hab’ ich noch nie gesehen, so wie du in allen Schattierungen rot geworden bist. Logan ist doch nur ’n ganz normaler Junge. Er ist vielleicht besser angezogen und sieht besser aus, aber er ist trotzdem nur ’n ganz normaler Junge.«

Ihm ging es also nicht so wie mir; aber er kniff die Augen zusammen und sah mich auf eine eigenartige Weise an. Dann wandte er sich mit gesenktem Kopf von mir ab, und auch ich blickte zu Boden.

Miß Deale betrat das Klassenzimmer, und bevor ich mir noch überlegt hatte, was ich Logan sagen konnte, war es Mittagszeit. Ich mußte nun wohl mein Versprechen, Sandwich und Milch zu besorgen, einhalten und saß noch an meinem Puh, als alle anderen schon zum Mittagessen hinausgegangen waren. »Heaven, willst du mir etwas sagen?« fragte Miß Deale.

Ich wollte sie um ein Sandwich für Keith und Unsere-Jane bitten, aber ich brachte es nicht fertig. Ich stand auf, lächelte verlegen und eilte hinaus, meine Augen krampfhaft auf den Korridorboden geheftet, während ich betete, daß ich eine Münze dort finden würde – und in dem Augenblick tauchten Logans graue Schuhe auf. »Ich dachte, daß du mit Tom herauskommen würdest.« Er sah ernst aus, auch wenn seine Augen dabei lächelten. »Willst du mit mir Mittagessen gehen?«

»Ich esse nie zu Mittag.«

Meine Antwort verwunderte ihn. »Jeder Mensch ißt zu Mittag. Also, komm mit, es gibt Hamburgers, Shakes und Pommes frites.«

Sollte das heißen, daß er mein Mittagessen auch bezahlen wollte? Mein Stolz war verletzt. »In der Mittagspause muß ich auf Unsere-Jane und auf Keith aufpassen...«

»Na gut, dann sind sie mit eingeladen«, sagte er beiläufig, »und ich lade wohl auch besser gleich Tom und Fanny ein, falls du gerade an sie denkst.«

»Wir können unser eigenes Mittagessen bezahlen.«

Eine Sekunde lang wußte er nicht recht, was er dazu sagen sollte. Er warf mir einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern. »Bitte, wenn du es so haben willst.«

Mein Gott – ich wollte es nicht so haben! Aber mein Stolz war größer.

Er ging neben mir zu den unteren Klassen. Gewiß würde er seine Einladung nun bereuen, dachte ich mir. Unsere-Jane und Keith standen wartend vor ihren Klassenzimmern, beide sahen verschreckt und ängstlich aus. Unsere-Jane warf sich mir schluchzend in die Arme. »Können wir jetzt was essen, Hevlee? Mein Bauch tut weh.«

Zugleich plapperte Keith von einem Thunfischbrot, das ich ihm versprochen hätte. »Hat Miß Deale uns zwei geschickt?« fragte er, und sein kleines Gesicht strahlte erwartungsvoll. »Ist heut Montag? Hat sie uns Milch mitgebracht?«

Ich versuchte Logan anzulächeln, der das Ganze beobachtete und Unsere-Jane und Keith nachdenklich ansah. Schließlich wandte er sich lächelnd zu mir. »Wenn du lieber ein Thunfischbrot magst, dann müssen wir uns beeilen, vielleicht hat die Cafeteria noch welche.«

Jetzt konnte ich nichts mehr dagegen unternehmen, da Unsere-Jane und Keith wie Füchse, die die Spur einer Henne gewittert haben, zur Cafeteria eilten. »Heaven«, sagte Logan ernst, »ich habe noch nie einem Mädchen erlaubt, ihr Mittagessen zu bezahlen, wenn ich sie eingeladen habe. Bitte, sei mein Gast.«

Kaum hatten wir die Cafeteria betreten, hörte ich schon das Geflüster und Gewisper – was wollte Logan von der schäbigen Casteel? Tom saß schon da, als habe Logan ihn eingeladen, und ich fühlte mich gleich besser. Ich brachte ein Lächeln zustande und half Unserer-Jane, sich an den langen Tisch zu setzen. Keith drängte sich ganz eng an sie und blickte schüchtern um sich. »Wollen alle immer noch ein Thunfischbrot und ein Glas Milch?« fragte Logan und bat Tom, ihm zu helfen, das Essen an den Tisch zu bringen. Unsere-Jane und Keith blieben bei ihrer Wahl, und ich stimmte zu, einen Hamburger und eine Cola zu probieren. Während Tom und Logan weg waren, schaute ich mich nach Fanny um. Sie war nicht in der Cafeteria. Das machte mir Sorgen. Fanny hatte ihre eigenen Methoden, zu einem Mittagessen zu kommen.

Um uns herum flüsterten alle gehässig, es schien ihnen gleichgültig zu sein, ob ich es hörte oder nicht. »Was will er denn von der? Sie ist doch bloß ein Hillbilly. Seine Familie scheint wohlhabend zu sein.«

Logan Stonewall zog viele Blicke auf sich, als er und Tom glücklich lächelnd mit Thunfischbroten, Hamburgers, Pommes frites, Shakes und Milch zurückkamen. Unsere-Jane und Keith waren von so viel Speisen geradezu überwältigt. Sie wollten meine Cola, meinen Hamburger und die Pommes frites probieren, schließlich blieb mir nur die Milch, und Unsere-Jane trank die Cola, indem sie ihre Augen vor lauter Wonne fest geschlossen hielt. »Ich hole dir noch eine«, bot ihr Logan an, aber ich ließ es nicht zu. Er hatte schon mehr als genug für uns getan.

Ich erfuhr, daß er fünfzehn Jahre alt war. Er freute sich zu hören, wie alt ich war. Er wollte sogar meinen Geburtstag wissen, als würde das irgend etwas bedeuten, aber ihm schien es wichtig zu sein; seine Mutter glaubte nämlich an Astrologie. Er erzählte mir, wie er es angestellt hatte, die Erlaubnis zu bekommen, im Aufgabenzimmer zu arbeiten, wo ich immer meine Hausaufgaben machte. Ich bemühte mich, die Aufgaben in der Schule zu machen, damit ich keine Schulbücher, sondern Romane mit nach Hause nehmen konnte.

Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich einen Freund, der nicht davon ausging, daß ich leicht zu haben sei, nur weil ich aus den Bergen war. Logan rümpfte weder über meine Kleidung noch über meine Herkunft die Nase. Trotzdem hatte Logan vom ersten Tag an Feinde, einfach weil er anders war. Seine selbstsichere Haltung irritierte alle, seine Familie war zu reich, sein Vater zu gebildet und seine Mutter zu hochmütig. Die anderen Jungen nahmen daher an, daß er ein Feigling sei. Schon an jenem ersten Tag sagte ihm Tom, daß er sich eines Tages in den Augen der anderen bewähren müßte. Die Jungens spielten ihre dummen, wenn auch nicht ganz harmlosen Streiche mit ihm. Sie taten Reißnägel in seine Turnschuhe; sie banden seine Schuhe zusammen, damit er nach der Turnstunde zu spät in den nächsten Unterricht kam; sie träufelten Klebstoff in seine Schuhe und rannten davon, wenn er wütend wurde und drohte, die Schuldigen zu verprügeln.

Nach zwei Wochen wurde Logan zwei Klassen höher als ich und Tom versetzt. Zu der Zeit trug auch er schon Jeans und karierte Hemden, allerdings waren es teure Jeans und Hemden. Trotz seiner angepaßten Kleidung fiel er immer noch auf. Er blieb höflich und zuvorkommend, während die anderen laut und grob waren. Er weigerte sich, sich so zu benehmen wie die anderen Burschen und ihre schmutzige Sprache zu sprechen.

Am Freitag ging ich zum großen Erstaunen Toms nicht in das Aufgabenzimmer. Während wir in der strahlenden Septembersonne nach Hause schlenderten, hörte er nicht auf, mich nach dem Grund zu fragen. Es war ziemlich heiß, und Tom sprang mit seiner ganzen Kleidung in den Fluß, nachdem er sich zuvor die Turnschuhe ausgezogen hatte. Ich ließ mich am Ufer auf das Gras niederplumpsen. Unsere-Jane kuschelte sich an meine Seite, Keith beobachtete ein Eichhörnchen, das ganz oben auf einem Ast saß. Gedankenverloren sagte ich zu Tom, der im Wasser planschte: »Ich wünschte mir, daß ich aschblondes Haar hätte«, doch biß ich mir gleich auf die Zunge, als ich sah, wie Tom mich daraufhin ansah. Er schüttelte den Kopf wie ein Hund, daß das Wasser nur so spritzte. Glücklicherweise war Fanny weit hinter uns zurückgeblieben. Wir konnten von fern ihr Trällern und Kichern über die Hügel und durch den Wald hören.

»Heavenly, weißt du es also doch?« fragte mich Tom stockend.

»Was soll ich wissen?«

»Warum willst du aschblondes Haar haben, wenn es deine Haare doch auch tun?«

»Ach, nur so ein verrückter Gedanke von mir.«

»Moment mal, Heavenly. Wenn wir beide Freunde bleiben wollen, mehr noch als Bruder und Schwester, dann mußt du offen und ehrlich sein. Weißt du’s, oder weißt du’s nicht, wer aschblonde Haare hatte?«

»Weißt du es?«

»Natürlich.« Er stieg aus dem Wasser, und wir gingen zusammen in Richtung Hütte. »Hab’s immer schon gewußt«, sagte er sanft, »vom ersten Schultag an. Die jungen im Aufenthaltsraum haben mir von Vaters erster Frau aus Boston mit ihren langen aschblonden Haaren erzählt. Und wie alle gleich wußten, daß sie in den Bergen nicht überleben wird. Hab’ immer gehofft, daß du’s nicht erfährst, weil du mich dann nicht mehr so toll finden würdest. Ich hab’ nämlich kein Blut aus Boston in mir, keine reichen, kultivierten, vornehmen Ahnen – so wie du. Hab’ hundertprozentige dumpfe Hillbilly-Gene, egal was du und Miß Deale von mir denken.«

Es tat mir weh, ihn so sprechen zu hören. »Hör auf, so zu reden, Thomas Luke Casteel! Erinnere dich, was Miß Deale neulich zu diesem Thema gesagt hat. Die intelligentesten Eltern können ein schwachsinniges Kind auf die Welt bringen – und schwachsinnige Eltern können ein Genie als Kind haben. Hat sie nicht auch gesagt, daß die Natur selbst für einen gerechten Ausgleich sorgt? Erinnere dich doch daran, was sie darüber gesagt hat, daß nichts in der Natur voraussagbar ist. Der einzige Grund, weshalb du nicht so viele Einser bekommst wie ich, ist, daß du zu oft die Schule schwänzt! Du mußt weiter an Miß Deales Ausspruch glauben, daß wir alle einmalige Geschöpfe sind, zu einem bestimmten Zweck geboren, den nur wir selbst erfüllen können. Denk daran, Thomas Luke.«

»Und denk du auch daran«, sagte er rauh und sah mich streng an, »und hör auf in der Nacht zu weinen, weil du anders sein willst. Gefällst mir so, wie du bist.« Seine grünen Augen glänzten sanft im Schatten des Kiefernwaldes. »Du bist meine schöne, dunkelhaarige Schwester, die mir zehnmal wichtiger ist als meine richtige Schwester Fanny, die sich keinen Deut um andere kümmert. Sie liebt mich nicht wie du, und ich kann sie nicht so lieben wie dich, Heavenly. Du und ich, wir gehören zusammen. Du weißt schon, wie sie’s in den Büchern schreiben; durch dick und dünn, durch Sturm und Wind – und durch die dunkle Nacht.«

»Das sagt man doch von der Post, du Dummer«, erklärte ich ihm lachend. Tränen standen mir in den Augen, ich nahm seine Hand und drückte sie. »Laß uns einen Eid schwören, daß wir niemals auseinandergehen werden, so wahr uns Gott helfe.«

Er nahm mich zart in seine Arme, als wäre ich aus zerbrechlichem Glas. »Du wirst eines Tages heiraten, du behauptest zwar immer das Gegenteil, aber Logan Stonewell macht schon Stielaugen nach dir«, sagte er mit belegter Stimme.

»Wie kann er mich lieben, wenn er mich nicht einmal kennt!«

Er schmiegte seinen Kopf an mein Haar. »Er braucht dich nur an zusehen – dein Gesicht, deine Haare –, das genügt. Alles, was du bist, steht dir ins Gesicht geschrieben und leuchtet aus deinen Augen.«

Ich löste mich aus seiner Umarmung und wischte mir die Tränen weg. »Merkwürdig, Vater sieht nie, was du siehst!«

»Warum läßt du es zu, daß er dich so verletzt?«

»Ach, Tom...!« schluchzte ich und fiel ihm in die Arme. »Wie soll ich jemals meiner sicher sein, wenn mein eigener Vater mich nicht ansehen kann? Er muß etwas Böses in mir sehen, daß er meinen Anblick so verabscheut.«

Er streichelte mir über die Haare und über den Rücken, und die Tränen standen ihm in den Augen, als wäre mein Schmerz auch seiner. »Eines Tages wird Vater entdecken, daß er dich gar nicht haßt. Ich bin sicher, daß dieser Tag bald kommen wird.«

Ich riß mich los.

»Nein, diesen Tag wird es nie geben! Das weißt du genausogut wie ich. Vater meint, daß ich seinen Engel getötet habe, als ich auf die Welt gekommen bin. Das wird er mir nicht in tausend Jahren verzeihen! Und wenn du meine Meinung hören willst, ich glaube, daß Mutter verdammtes Glück gehabt hat, ihm zu entkommen! Früher oder später wäre er genauso gemein zu ihr gewesen, wie er jetzt zu Sarah ist!«

Wir waren beide erschüttert von diesen offenen Worten. Er zog mich wieder an sich und lächelte zaghaft, aber er sah traurig dabei aus. »Vater liebt Mutter nicht. Er ist unglücklich mit ihr. Alle sagen, er hat deine Mutter geliebt. Er hat meine bloß geheiratet, weil sie schwanger war und er einmal in seinem Leben das Richtige tun wollte. «

»Aber nur, weil ihn Großmutter dazu gezwungen hat«, sagte ich bitter.

»Niemand kann Vater zu etwas zwingen, wenn er es nicht tun will, vergiß das nicht!«

»Vergess’ ich schon nicht«, sagte ich und dachte daran, wie Vater sich immer weigerte, mich anzusehen.

Wieder war es Montag, und wir saßen alle in der Schule. Miß Deale versuchte uns nahezubringen, daß das Lesen von Shakespeares Dramen und Sonetten ein Vergnügen sei; ich konnte es aber nicht erwarten, ins Aufgabenzimmer zu kommen.

»Heaven, hörst du zu oder träumst du?« fragte mich Miß Deale, und ihre wasserblauen Augen waren auf mich gerichtet.

»Ich höre zu!«

»Und welches Gedicht habe ich gerade besprochen?«

Ich konnte mich um nichts in der Welt auch nur an ein einziges Wort, das Miß Deale in der letzten halben Stunde gesagt hatte, erinnern. Das war sonst nicht meine Art; ich hätte wirklich aufhören sollen, dauernd an diesen Logan zu denken. Wenn er im Aufgabenzimmer immer an meiner rechten Seite saß, überkamen mich jedesmal, wenn sich unsere Augen trafen, die eigenartigsten Gefühle. Ich mußte mich zusammenreißen, um nicht in seine Richtung zu schauen, denn jedesmal, wenn ich es tat, starrte er mich gerade an.

Logan lächelte, bevor er mir zuflüsterte: »Wer war so genial gewesen und hat dir den Namen Heaven gegeben? Ich habe noch nie jemanden mit diesem Namen kennengelernt.«

Ich mußte zweimal schlucken, bevor ich ihm antworten konnte. »Die erste Frau meines Vaters gab mir den Namen gleich nach meiner Geburt, und ich heiße auch noch Leigh, weil das ihr Vorname war. Großmutter hat mir erzählt, daß sie mir einen erhebenden Namen geben wollte, und Heaven ist so ziemlich der erhebendste, den es gibt.«

»Es ist der schönste Name, den ich je gehört habe. Wo ist deine Mutter jetzt?«

»Sie liegt auf dem Friedhof begraben«, sagte ich unverblümt und vergaß, charmant und kokett zu sein, etwas was Fanny niemals passiert wäre. »Sie ist gleich nach meiner Geburt gestorben. Und mein Vater kann mir nicht verzeihen, daß ich ihr das Leben genommen habe.«

»Absolute Ruhe, bitte!« schrie Mr. Prakins. »Der nächste, der spricht, muß fünfzehn Stunden nachsitzen.«

Logans Augen sahen mich voller Mitgefühl an. Kaum hatte Mr. Prakins das Zimmer verlassen, flüsterte Logan mir wieder etwas zu: »Es tut mir leid, daß es passiert ist, aber du hast es nicht richtig erzählt. Deine Mutter liegt nicht tot auf dem Friedhof – sie ist in das große Jenseits gegangen, an einen besseren Ort, sie ist im Himmel.«

»Sollte es einen Himmel oder eine Hölle geben, ich glaube, beides ist hier unten auf unserer Erde anzutreffen.«

»Wie alt bist du eigentlich, hundertzwanzig?«

»Du weißt doch, daß ich dreizehn Jahre alt bin!« fuhr ich ihn wütend an. »Aber heute komme ich mir wie zweihundertfünfzig vor.«

»Warum?«

»Weil es besser ist, als dreizehn Jahre alt zu sein, deshalb!«

Logan räusperte sich, warf einen verstohlenen Blick nach Mr. Prakins, der uns durch die Glaswand im Auge behielt, und riskierte es dann, mir noch etwas zuzuflüstern: »Dürfte ich dich heute nach Hause begleiten? Ich habe noch nie mit jemandem geredet, der schon zweihundertfünfzig Jahre alt ist. Du machst mich neugierig. Ich würde allzu gerne hören, was du zu erzählen hast.«

Ich nickte nur. Mir war etwas übel, und zugleich fühlte ich mich ausgelassen. Ich hatte mich selber in diese Situation gebracht, in der ich ihn mit meinen langweiligen Antworten enttäuschen konnte. Was wußte ich denn schon von Alter, Weisheit und sonstigen Dingen?

Jedenfalls erschien er am Ende des Schulhofes, wo alle Jungens herumstanden, die mit den Mädchen aus den Bergen nach Hause gingen. Fanny stand auch schon da.

Sie wirbelte herum, dabei fielen ihr die Haare ins Gesicht, worauf sie sie mit einer weiteren Bewegung im Kreis um ihren Kopf fliegen ließ. Als sie Logan erblickte, setzte sie ihr breitestes Lächeln auf, in dem Glauben, daß er mit ihr gehen wolle. Etwas weiter entfernt von Fanny standen Tom und Keith. Tom schien überrascht zu sein, daß Logan unseren Heimweg einschlug. Dieser bestand nur aus einem Trampelpfad, der sich durch das Gehölz im Wald schlängelte und schließlich zu unserer Hütte führte, die hoch in den Bergen lag. Kaum hatte Fanny Logan und mich erblickt, da stieß sie einen lauten Jauchzer aus, daß ich am liebsten vor Verlegenheit tot umgefallen wäre.

»Heaven, was machst du mit dem neuen Jungen? Du magst doch keine Jungens? Hast es mir doch schon tausendmal gesagt, willst doch eine alte, vertrocknete Lehrerin werden!«

Ich versuchte, Fanny zu überhören, obwohl ich puterrot wurde. War das schwesterliche Solidarität? Aber ich hätte es besser wissen müssen und kein Taktgefühl von ihr erwarten dürfen. Ich verzog mein Gesicht zu einem Lächeln. Es war ratsam, wenn möglich Fanny überhaupt keine Beachtung zu schenken.

Logan und Tom sahen Fanny mißbilligend an.

»Bitte Fanny, laß das«, bat ich sie peinlich berührt. »Lauf schon mal nach Hause und fang ausnahmsweise mit dem Wäschewaschen an.«

»Hab’s nicht nötig, nur mit einem Bruder nach Haus zu gehen«, bemerkte Fanny gehässig. Dann setzte sie wieder ihr strahlendstes Lächeln auf. »Jungens mögen Heaven nicht, die wollen nur mich. Du wirst mich auch mögen. Magst du meine Hand halten?«

Logan sah mich und Tom kurz an. Dann sprach er voller Ernst zu Fanny: »Danke, im Augenblick möchte ich Heaven nach Hause begleiten und hören, was sie mir alles zu erzählen hat.«

»Solltest mich mal singen hören!«

»Ein andermal vielleicht.«

»Unsere-Jane kann singen«, bemerkte Keith leise.

»Und wie!« rief Tom aus, während er Fanny am Arm packte und sie mit sich zog. »Komm, Keith, Unsere-Jane wartet schon zu Hause auf dich.« Das genügte, und Keith lief schon hinter Tom her, denn Unsere-Jane hatte heute wegen Fieber und Bauchweh wieder einmal die Schule versäumt.

Fanny riß sich von Tom los und kam schreiend und fluchend zurückgelaufen. Schließlich streckte sie die Zunge heraus. »Du bist selbstsüchtig, Heaven Leigh Casteel! Gemein, dürr und häßlich! Ich hass’ deine Haare! Ich hass’ deinen blöden Namen! Ich hass’ alles an dir! Jawohl! Wart nur, bis ich Vater alles erzähl’! ’s wird Vater nicht gefallen, daß du Almosen von fremden Jungs aus der Stadt annimmst – seine Hamburger frißt und Unserer-Jane und Keith das Betteln beibringst!«

Mein Gott, Fanny war in ihrer übelsten Laune, neidisch, boshaft und imstande, ihre Drohung wahr zu machen. Und Vater würde mich dafür bestrafen!

»Fanny«, schrie Tom und holte sie zurück. »Du kannst meine neuen Wasserfarben bekommen, wenn du den Mund hältst, daß Logan uns alle zum Mittagessen eingeladen hat.«

Sofort lächelte Fanny wieder. »Na gut! Ich will auch das Malheft haben, das dir Miß Deale geschenkt hat. Warum gibt sie mir nie was?«

»Weißt du’s nicht?« spottete Tom und gab ihr, was sie verlangte. Es tat mir weh, denn ich wußte, wie sehr er sich die Wasserfarben und das Malheft gewünscht hatte. Er hatte noch nie neue Wasserfarben oder ein Malbuch über Robin Hood besessen. Robin Hood war in diesem Jahr sein Lieblingsheld. »Wenn du dich mal nicht so aufführst in der Garderobe, vielleicht ist Miß Deale dann großzügiger zu dir.«

Ich wäre beinahe wieder vor Verlegenheit umgesunken!

Weinend warf sich Fanny auf den Waldboden, der sich immer steiler zwischen den hohen Bäumen, die fast den Himmel berührten, hochwand. Sie trommelte mit ihren kleinen, harten Fäusten auf den Grasboden, schrie plötzlich auf, weil sie sich an einem versteckten Stein verletzt hatte und ihre Hand nun blutete. Sie setzte sich auf, saugte an der Wunde und sah Tom mit großen, bettelnden Augen an.

»Bitte, bitte, erzähl’s nicht Vater!«

Tom versprach es.

Ich ebenfalls. Aber ich genierte mich immer noch und vermied es, in Logans weit aufgerissene Augen zu sehen, die alles in sich aufsaugten, als hätten sie noch nie eine so dumme und wilde Szene erlebt. Ich wich seinen Augen so lange aus, bis ich merkte, daß er mich verständnisvoll anlächelte. »Du hast wirklich eine Familie, bei der man vor der Zeit innerlich stark altern kann, aber äußerlich siehst du jünger als der Frühling aus.«

»Hast die Worte ja aus einem Lied gestohlen!« schrie Fanny. »Man soll einem Mädchen nicht den Hof machen mit Worten aus ’nem Lied!«

»Halt jetzt endlich den Mund!« befahl Tom. Er packte sie am Arm und rannte mit ihr los, so daß Fanny mitlaufen mußte, andernfalls hätte sie sich den Arm ausgerenkt. Endlich hatte ich Gelegenheit, mit Logan allein zu sein.

Keith bildete das Schlußlicht unserer kleinen Karawane; er war stehengeblieben und starrte wie gebannt nach einer Drossel. Wahrscheinlich würde er sich die nächsten zehn Minuten nicht vom Fleck rühren, es sei denn, der Vogel flog davon.

»Deine Schwester ist wirklich eine Nummer«, bemerkte Logan schließlich, als wir uns so gut wie allein auf dem Waldpfad befanden. Keith war weit hinter uns geblieben und war ganz still. Ich hing meinen eigenen Gedanken nach. Für die Jungen aus dem Tal, die ein sexuelles Abenteuer suchten, waren die Mädchen aus den Bergen eine leichte Beute. Hier oben in den Bergen regten sich die sexuellen Gefühle viel eher als unten im Tal, und Fanny, so jung sie war, war von dieser Atmosphäre angesteckt worden. Vielleicht lag es daran, daß wir beständig Zeugen waren, wie auf dem Hof und in unseren Ein- bis Zweizimmer-Hütten kopuliert wurde. Die Leute von den Bergen mußte man nicht erst aufklären; sie lernten alles über Sex, sobald sie zwischen Mann und Frau unterscheiden konnten.

Logan räusperte sich, um mich daran zu erinnern, daß er auch noch da war. »Ich bin bereit, deinen Weisheiten zu lauschen, die du dir in langen Jahren erworben hast. An sich würde ich mir gern Notizen machen, aber es fällt mir etwas schwer, beim Gehen zu schreiben. Aber das nächste Mal bringe ich ein Tonbandgerät mit.«

»Du lachst mich ja aus«, rief ich empört, bevor ich begann mich zu rechtfertigen. »Wir leben mit unseren Großeltern. Großvater spricht nur dann, wenn es unbedingt notwendig ist, und er empfindet es fast nie als notwendig. Meine Großmutter brabbelt die ganze Zeit vor sich hin, wie furchtbar die Zeiten jetzt sind, und wie schön sie früher waren. Meine Stiefmutter schimpft und tobt, weil sie mehr Arbeit am Hals hat, als sie bewältigen kann. Manchmal, wenn ich nach Hause in unsere Hütte komme, dann glaube ich, zweihundertfünfzig oder tausend Jahre alt zu sein – nur ohne die Weisheit, die man nach einem so langen Leben erworben hat.«

»He«, sagte er lächelnd, »das gefällt mir. Ich verstehe dich. Ich bin ein Einzelkind, und ich bin mit Onkeln, Tanten und Großeltern aufgewachsen, ich kann es dir also nachempfinden. Aber du bist mir doch über, weil du noch zwei Brüder und zwei Schwestern hast.«

»Ist es ein Vorteil oder ein Nachteil, wenn man jemandem über ist?«

»Das kommt darauf an. Aus meiner Sicht, Heaven Leigh, ist es ein Vorteil, eine große Familie zu haben, denn dann ist man nie einsam. Ich bin oft allein, und ich wünschte mir, daß ich viele Brüder und Schwestern hätte. Ich finde Tom großartig, er ist lustig und ein anständiger Kerl; und Keith und Unsere-Jane sind so nette Kinder.«

»Und was hältst du von Fanny?«

Er wurde rot und sah betreten aus, bevor er langsam und vorsichtig etwas sagte. »Ich glaube, daß sie einmal eine exotische Schönheit wird.«

»Ist das alles?« Bestimmt wußte er darüber Bescheid, was Fanny mit den Jungen in der Garderobe trieb.

»Nein, das ist noch nicht alles. Ich denke gerade daran, daß von all den Mädchen, die ich kenne und noch kennenlernen werde, Heaven Leigh die einzige ist, die das Zeug dazu hat, die Schönste von allen zu werden. Ich meine, daß diese Heaven besonders aufrichtig und ehrlich ist... Wenn du also nichts dagegen hast, was ich hoffe, dann möchte ich dich gerne jeden Tag nach Hause begleiten.«

Ich war rundherum glücklich! Völlig ausgelassen lief ich ihm lachend davon und rief: »Bis morgen, Logan. Und danke, daß du mich nach Hause begleitet hast.«

»Aber wir sind ja noch gar nicht da«, rief er mir nach, von meiner plötzlichen Flucht ganz verdutzt.

Ich konnte ihm unmöglich zeigen, wo und wie wir hausten. Sicherlich würde er mich nie wieder sehen wollen, wenn er gesehen hätte, wie wir lebten. »Ein andermal lade ich dich nach Hause ein«, rief ich ihm zu. Ich stand am Rande einer Lichtung, auf die einige Sonnenflecken fielen. Er stand am anderen Ende der kleinen Brücke, die über einen Bach führte. Hinter ihm wuchs das gelbe wilde Gras, und die Sonne hatte sich in seinen Haaren und seinen Augen verfangen. Und wenn ich tausend Jahre alt werde, ich werde es nie vergessen, wie er lächelte und mir zuwinkte. »Okay. Heaven Leigh Casteel ist vom heutigen Tag an mein.«

Ich sang auf dem ganzen Nachhauseweg, glücklich wie nie zuvor. Ich hatte meinen Vorsatz, mich niemals vor meinem dreißigsten Lebensjahr zu verlieben, vollkommen vergessen.

»Siehst ja ganz glücklich aus«, bemerkte Sarah mit einem Seufzer, als sie kurz vom Waschbrett hochblickte. »War es ein guter Tag?«

»Ja, Mutter, ein sehr guter.«

Fanny steckte ihren Kopf aus der Tür. »Mutter, Heaven hat sich einen Jungen aus dem Tal unter den Nagel gerissen... Weißt ja, zu welcher Sorte die gehören.«

Sarah seufzte erneut. »Heaven, du hast ihn doch nicht rangelassen... oder?«

»Mutter«, empörte ich mich. »Du weißt doch, daß ich das nie tun würde!«

»Tut sie doch!« schrie Fanny aus der Tür. »Sie benimmt sich ganz schamlos mit den Jungs in der Garderobe, wirklich schamlos!«

»Na warte, du gemeine Lügnerin!« Ich stürzte auf sie zu, aber Tom schubste sie aus der Tür hinaus in den Hof, wo sie hinfiel und sofort zu heulen anfing. »Mutter, Heavenly treibt sich nicht herum. Fanny selbst ist das schamloseste Mädchen in der ganzen Schule, und das will was heißen.«

»Ja, ja«, murmelte Sarah und reichte mir die Wäsche, »das will wirklich was heißen. Weiß schon, welche es am schlimmsten treibt, braucht’s mir nicht zu erzählen. Ist meine Indianer-Fanny, das Teufelsmädel mit ihrer Wildheit und den koketten Augen, die sie früher oder später in die gleiche Misere stürzen werden, in der ich gelandet bin. Heaven, bleib bei deinem Vorsatz und sag immer nein! – Zieh jetzt das Kleid aus und fang mit der Wäsche an. Fühl’ mich in letzter Zeit nicht so gut. Versteh’ gar nicht, warum ich jetzt dauernd so müde bin.«

»Solltest vielleicht zum Doktor gehen, Mutter.«

»Mach’ ich, wenn man es umsonst kann.«

Ich erledigte die Wäsche und hängte sie mit Toms Hilfe auf die Wäscheleine. Als wir damit fertig waren, sah es aus wie ein paar Meter Lumpen. »Magst du Logan Stonewall?« fragte mich Tom.

»Ja, glaub’ schon...« sagte ich und wurde dabei rot.

Tom sah bedrückt aus, gerade so, als könnte Logan eine Mauer zwischen uns aufrichten. Aber nichts und niemand auf der Welt wäre dazu imstande gewesen.

»Aber, Tom, vielleicht schenkt dir Miß Deale neue Wasserfarben...«

»Ist egal. Werd’ sowieso kein Maler. Werd’ bestimmt nichts besonderes, wenn du nicht da bist und mir Selbstvertrauen gibst.«

»Wir werden immer zusammenbleiben, Tom. Wir haben es uns doch geschworen, zusammen durch dick und dünn zu gehen.«

Später am Abend schimpfte ich Fanny für ihr Benehmen aus und warnte sie vor den möglichen Folgen. Sie brauchte mir nichts vorzumachen; bei einer der seltenen Gelegenheiten, in der wir wie Schwestern, die einander brauchten, gewesen waren, hatte sie mir gestanden, wie sehr sie die Schule haßte, die ihr nur die Zeit stahl. Schon sehr früh – mit kaum zwölf Jahren – interessierte sie sich für ältere Jungen, die sie wohl ignoriert hätten, wenn sie nicht so hinter ihnen her gewesen wäre. Sie genoß es, wenn die Jungens sie auszogen, mit der Hand in Fannys Unterhose faßten, sie liebkosten und sie dabei aufregende und lustvolle Gefühle empfand. Es beunruhigte mich, als sie mir das erzählte, aber es machte mir noch sehr viel mehr Sorgen, als ich Zeugin wurde, wie sie sich in der Garderobe benahm.

»Werd’s nicht mehr tun, bestimmt, ich lass’ sie nicht mehr«, versprach Fanny, die schläfrig und daher bereit war, auf jede Forderung einzugehen und sogar meinem Befehl zu gehorchen, endgültig mit den Jungens aufzuhören.

Gleich am nächsten Tag, trotz ihres Versprechens, war sie wieder dabei, gerade als ich sie von ihrer Klasse abholen wollte. Ich zwängte mich in die Garderobe und riß Fanny von einem pickelgesichtigen Jungen aus dem Tal weg.

»Deine Schwester ist nicht so verdammt hochnäsig und etepetete wie du«, zischte mich der Junge an.

Dabei kicherte Fanny die ganze Zeit.

»Laß mich in Ruh«, schrie Fanny, während ich sie wegschleppte. »Vater behandelt dich wie Luft, deshalb hast du keine Ahnung, wie gut es ist, mit Jungs und Männern zusammen zu sein. Wenn du mich weiter so gängelst, ich soll nicht dies, ich soll nicht das, dann lass’ ich sie alles machen – und es ist mir scheißegal, wenn du’s Vater erzählst. Er liebt mich, und dich haßt er nur!«

Das saß. Wäre Fanny nicht auf mich zugerannt gekommen und hätte sie nicht ihre zarten Arme um meinen Hals geschlungen und mich dabei weinend um Verzeihung gebeten, so hätte ich dieser boshaften, gefühllosen Schwester wohl endgültig meinen Rücken gekehrt. »Tut mir leid, Heaven, ehrlich. Mag dich, ehrlich, mag dich wirklich. Ich mag’s aber nun mal auch, wie sie’s tun. Ist doch normal, Heaven, oder?«

»Deine Schwester wird ’ne Hure«, bemerkte Sarah später mit tonloser Stimme, in der keine Hoffnung mehr lag, während sie unsere Schlafdecken für den Boden aus den Kisten hervorholte. »Da kann man wohl nichts machen. Paß lieber auf dich selber auf, Heaven.«

Dunkle Wasser

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