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2. KAPITEL
SCHULZEIT UND KIRCHGANG

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Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Unsere-Jane groß genug war und mit uns nach Winnerrow in die erste Klasse gehen konnte. Aber in diesem Herbst war sie endlich sechs Jahre alt geworden, und nun sollte sie uns begleiten, auch wenn Tom und ich sie jeden Tag dorthin schleppen mußten. Und so war es auch, im wahrsten Sinne des Wortes: Wir schleiften sie hinter uns her, hielten ihre kleine Hand fest umklammert, damit sie uns ja nicht entkam und in die Hütte zurückrannte. Und wenn ich sie etwas zu schnell hinter mir herzog, ließ sie ihre Füße auf dem Boden schleifen, um sich dagegen zu wehren.

Unsere-Jane war ein liebes und herzensgutes Kind, aber sie konnte einem mit ihrem ständigen Wimmern und dem dauernden Erbrechen, das einen ekligen, säuerlichen Geruch verbreitete, schon auf die Nerven gehen. Ich wollte sie gerade ausschimpfen, weil wir ihretwegen schon wieder zu spät kommen und alle in der Schule wegen unserer Unpünktlichkeit lachen würden. Unsere-Jane lächelte, streckte ihre schwachen Ärmchen nach mir aus, und meine Worte erstarben mir auf den Lippen. Ich hob sie hoch und bedeckte ihr hübsches Gesicht mit Küssen: »Geht’s besser, Unsere-Jane?«

»Ja«, piepste sie, »aber ich geh’ nicht gerne. Tut meinen Füßen weh. «

»Gib sie mir«, sagte Tom und nahm sie mir ab.

Tom trug sie in den Armen und sah auf ihr kleines, hübsches Gesicht hinab, das sie vorsichtshalber schon verzogen hatte, um sofort loszuheulen, falls er sie wieder auf den Boden stellen sollte. »Du bist ’ne kleine Puppe«, sagte Tom zu ihr und wandte sich dann mir zu. »Weißt du, Heavenly, auch wenn Vater das Geld nicht hat, euch ’ne Puppe zu Weihnachten oder zum Geburtstag zu kaufen, dann habt ihr ja was Besseres an Unserer-Jane.«

Ich hätte ihm widersprechen können. Puppen konnte man weglegen und vergessen. Aber niemand konnte Unsere-Jane vergessen, und Unsere-Jane setzte alles daran, daß man sie nicht vergaß.

Keith und Unsere-Jane bildeten ein inniges Paar, so als verbände auch sie eine besondere Seelenverwandtschaft. Stark und robust lief Keith neben Tom her und blickte voll bewundernder Liebe auf seine kleine Schwester. Ebenso eilte er immer nach Hause, um sie zu begrüßen, und sie lächelte dankbar unter Tränen, wenn er alle ihre Wünsche erfüllt hatte. Und immer wollte sie das, was Keith gerade hatte. Keith, gutmütig wie er war, gab all ihren Wünschen nach, ohne sich jemals zu beklagen, auch wenn Unsere-Jane so viel forderte, daß sogar Tom manchmal protestierte.

»Bist ’n Trottel, Tom, und du auch Keith«, bemerkte Fanny. »Ich wär’ ja blöd, wenn ich ’n Mädchen tragen würde, das genausogut wie ich gehen kann.«

Unsere-Jane fing zu jammern an. »Fanny mag mich nicht... Fanny mag mich nicht...« Sie hätte wohl den ganzen Schulweg so weiter gemacht, wenn Fanny nicht widerstrebend Unsere-Jane aus Toms Armen in die ihren genommen hätte. »Ist ja schon in Ordnung. Aber warum kannst du nicht gehen lernen, Unsere-Jane, warum denn nicht?«

»Will nicht gehen«, sagte Unsere-Jane und schlang ihre Arme fest um Fannys Hals und küßte sie.

»Siehste«, sagte Fanny stolz, »mich hat sie am liebsten... nicht dich, Heaven, oder dich, Tom... mich hat sie am liebsten, nicht wahr, Unsere-Jane?«

Verwirrt blickte Unsere-Jane zu Keith, zu mir und zu Tom und fing an zu schreien: »Laß mich runter! Laß mich runter!«

Fanny ließ Unsere-Jane in eine Pfütze fallen. Sie schrie, und Tom rannte hinter Fanny her, um ihr eine gehörige Tracht Prügel zu verpassen. Ich versuchte, Unsere-Jane zu beruhigen, und trocknete sie mit einem Lappen ab, den ich statt eines Taschentuches bei mir trug. Keith brach in Tränen aus. »Wein nicht, Keith. Sie hat sich nicht weh getan. Nicht wahr, Kleines? Siehst du, jetzt bist du wieder trocken, und Fanny wird sich entschuldigen. Aber du solltest wirklich mal probieren, selber zu gehen. Tut deinen Beinen gut. Nimm Keiths Hand, und dann werden wir singen.«

Das waren Zauberworte. So wenig Unsere-Jane gehen mochte, so gern sang sie. Ebenso wie wir alle eigentlich. Sie, Keith und ich schmetterten ein Lied nach dem anderen, bis wir Tom eingeholt hatten, der bis zum Schulhof hinter Fanny hergejagt war. Sechs Jungen hatten eine Mauer gebildet, hinter der Fanny sich versteckte – und Tom konnte gegen die viel älteren und größeren Jungen nicht ankommen. Fanny lachte, und es tat ihr kein bißchen leid, daß sie Unsere-Jane in die Pfütze hatte fallen lassen, so daß sie ihr bestes Schulkleid beschmutzt hatte, das nun feucht an ihren dünnen Beinen klebte.

Während Keith geduldig wartete, versuchte ich Unsere-Jane im Aufenthaltsraum erneut abzutrocknen. Dann begleitete ich Keith in sein Klassenzimmer, trennte ihn von Unsere-Jane und brachte sie in die erste Klasse. Sie saß in der Schulbank mit fünf anderen Mädchen ihres Alters. Sie war allerding die Kleinste. Es war traurig, festzustellen, daß die anderen Mädchen viel hübschere Kleider trugen, aber keine hatte so schönes Haar oder ein so süßes Lächeln. »Bis später, Kleines«, rief ich ihr zu. Sie blickte mir mit großen traurigen Augen nach.

Tom wartete auf mich vor Miß Deales Klassenzimmer. Zusammen gingen wir hinein. Alle Schüler wandten sich nach uns um und starrten auf unsere Kleider und unsere Füße. Ob wir nun sauber waren oder nicht, immer kicherten sie. Tag für Tag mußten wir dieselben Kleider tragen, und Tag für Tag wurden wir voller Verachtung angestarrt. Das kränkte uns zwar, aber wir beide versuchten es zu ignorieren, während wir uns in die hinterste Bank setzten.

Vor unserer Klasse saß die wunderbarste Frau der Welt – ich hoffte und betete, daß ich auch einmal so schön und gut wie sie werden würde. Im Gegensatz zu allen Schülern, die sich nach uns umdrehten, um uns zu verspotten, hob Marianne Deale den Kopf, um uns freundlich zu begrüßen. Ihr Lächeln hätte auch nicht gütiger sein können, wenn wir in den besten Kleidern gekommen wären. Sie wußte, daß wir den weitesten Schulweg hatten und daß Tom und ich die Verantwortung trugen, Keith und Unsere-Jane in die Schule zu bringen. Sie verwandelte unsere Schulzeit in ein echtes Abenteuer auf der Suche nach Wissen, mit dem wir schließlich die Berge und unsere ärmliche Hütte verlassen könnten, um eine größere und reichere Welt zu betreten.

Tom und ich sahen uns an, hingerissen davon, daß wir unserer strahlenden Lehrerin gegenübersaßen, die uns schon ein wenig von jener neuen Welt gezeigt hatte, als sie uns für das Lesen begeisterte. Ich saß in der Nähe des Fensters, denn wenn Tom hinaussah, fühlte er immer den Drang, die Schule zu schwänzen, obwohl er unbedingt die High School beenden und ein Stipendium bekommen wollte, um aufs College zu gehen. Würde es uns nämlich gelingen, das College mit guten Noten abzuschließen, dann hätten wir es wohl geschafft. Wir hatten schon alles geplant. Ich setzte mich und seufzte erleichtert. Jeder Tag, an dem es uns gelang, die Schule zu besuchen, war eine gewonnene Schlacht, die uns näher an unser Ziel brachte. Mein Ziel war es, Lehrerin zu werden, genauso wie Miß Deale.

Mein Idol hatte Haare, die die gleiche Farbe hatten wie das rotblonde Haar Unserer-Jane. Miß Deale hatte hellblaue Augen und war schlank und gut gebaut. Sie stammte aus Baltimore und sprach anders als wir alle. Für mich war sie wirklich und wahrhaftig vollkommen.

Allein ihr Anblick und ihre Anwesenheit gaben Tom und mir die Gewißheit, daß die Zukunft uns noch etwas Besonderes bringen würde. Sie achtete ihre Schüler, sogar uns in unseren schäbigen Kleidern, aber in punkto Ordnung, Sauberkeit und Höflichkeit ließ sie nichts durchgehen.

Als erstes mußten wir unsere Hausaufgaben abgeben. Da es sich unsere Eltern nicht leisten konnten, uns eigene Schulbücher zu kaufen, mußten wir unsere Hausaufgaben in der Schule machen. Manchmal wurde es aber einfach zu viel, besonders wenn die Tage schon kürzer wurden und die Dunkelheit hereinbrach, bevor wir zu Hause ankamen.

Ich schrieb eifrig von der Tafel ab, als Miß Deale hinter meinem Pult stehenblieb und mir zuflüsterte: »Heaven, bleib bitte mit Tom nach dem Unterricht hier. Ich möchte etwas mit euch beiden besprechen.«

»Haben wir etwas falsch gemacht?« fragte ich besorgt.

»Nein, natürlich nicht. Du stellst immer die gleiche Frage, Heaven. Wenn ich euch manchmal zu mir bitte, heißt das nicht immer, daß ich euch rügen will.«

Miß Deale schien nur dann von uns enttäuscht zu sein, wenn wir zurückhaltend und einsilbig auf ihre Fragen nach unserem Zuhause antworteten. Wir wollten Mutter und Vater nicht bloßstellen, und Miß Deale sollte nicht erfahren, wie ärmlich wir wohnten und wie kärglich unsere Mahlzeiten im Vergleich zu dem Essen waren, von dem uns die Stadtkinder erzählten.

Die Mittagszeit in der Schule war die schlimmste. Die Hälfte der Kinder aus dem Tal brachten braune Papiertüten mit ihrem Mittagessen mit, die andere Hälfte aß in der Cafeteria. Nur wir aus den Bergen brachten nichts mit, nicht einmal genug Kleingeld für einen Hot dog oder eine Cola. Wir aus den Bergen aßen bei Tagesanbruch ein Frühstück und eine zweite Mahlzeit vor dem Schlafengehen. Aber wir aßen niemals zu Mittag.

»Was will sie?« fragte mich Tom kurz angebunden während der Mittagspause, bevor er zum Ballspielen und ich zum Seilhüpfen ging.

»Weiß nicht.«

Miß Deale war dabei, Schulaufgaben durchzusehen, als Tom und ich nach der letzten Schulstunde blieben, voller Besorgnis um Keith und Unsere-Jane, die ohne uns völlig hilflos sein würden, wenn sie aus ihren Klassenzimmern kamen.

Plötzlich blickte Miß Deale auf. »Oh, entschuldige, Heaven! Stehst du schon lange hier?«

»Nur ein paar Minuten«, log ich. »Tom ist schnell Unsere-Jane und Keith holen gegangen. Sie bekommen sonst Angst, wenn keiner von uns beiden sie abholt, um sie nach Hause zu bringen.«

»Was ist mit Fanny? Tut sie nichts?«

»Nun«, begann ich zögernd, um Fanny zu schützen, weil sie meine Schwester war, »manchmal wird Fanny abgelenkt und dann vergißt sie ihre Pflicht.«

Miß Deale lächelte. »Ich weiß, daß ihr einen langen Heimweg vor euch habt, ich werde deshalb nicht auf Tom warten. Ich habe mit den Mitgliedern der Schulkommission über euch beide gesprochen, in der Hoffnung, daß ich sie davon überzeugen könnte, euch Bücher für zu Hause mitzugeben. Aber sie bleiben hartnäckig, weil sie glauben, wenn sie euch Privilegien einräumen, dann müssen sie auch allen anderen Kindern kostenlos Schulbücher geben. Darum werde ich euch meine Bücher leihen.«

Ich starrte sie entgeistert an. »Aber werden Sie die Bücher nicht brauchen?«

»Nein. Ich kann andere verwenden. Ab heute könnt ihr die Bücher benutzen, und bitte nehmt euch so viele Bücher aus der Bibliothek, wie ihr in einer Woche lesen könnt. Natürlich müßt ihr auf die Bücher achten, sie sauber halten und termingerecht zurückbringen.«

Ich war so entzückt, daß ich am liebsten laut aufgeschrien hätte. »Alle Bücher, die wir in einer Woche lesen können? Miß Deale, wir sind gar nicht stark genug, um so viele zu tragen!«

Sie lachte, und seltsamerweise traten ihr Tränen in die Augen. »Ich hätte mir denken können, daß du etwas Ähnliches sagen würdest.« Sie strahlte, als Tom mit Unserer-Jane, die ziemlich erschöpft aussah, im Arm und Keith an der Hand hereintrat. »Tom, ich glaube, du hast deine Arme schon so voll, daß du keine Bücher mehr nach Hause tragen kannst.«

Er sah sie verdutzt an. »Wollen Sie damit sagen, daß wir Bücher nach Hause mitnehmen dürfen? Ohne zu bezahlen?«

»Ganz recht, Tom. Und nehmt auch einige für Unsere-Jane, Keith und Fanny mit.«

»Fanny liest keine«, sagte Tom und seine Augen strahlten, »aber Heaven und ich werden sie ganz bestimmt lesen.«

An diesem Tag gingen wir mit fünf Büchern zum Lesen und vier zum Lernen nach Hause. Keith half uns, indem er zwei Bücher schleppte, damit Tom und ich Unsere-Jane tragen konnten, sobald sie müde wurde. Ich erschrak jedesmal, wenn sie nach ein paar Schritten bergauf schon ganz weiß wurde.

Fanny lief hinter uns her, von ihren Verehrern umschwärmt wie eine Blume von Bienen. Keith bummelte hinter Fanny und ihren Freunden her. Er wollte nicht mit uns gehen, aber aus einem anderen Grund als Fanny. Keith liebte die Natur, die Geräusche und Gerüche der Erde, des Windes, des Waldes und vor allem die Tiere. Ich blickte über die Schulter zurück, um zu sehen, wo er blieb, und entdeckte ihn, wie er ganz versunken eine Baumrinde betrachtete. Er hörte nicht einmal, daß ich seinen Namen rief. »Keith, beeil dich!«

Dann rannte er ein kurzes Stück vor, hielt wieder inne, hob einen toten Vogel auf und untersuchte ihn mit vorsichtigen Händen und aufmerksamen Augen. Wenn wir ihn nicht immer wieder daran erinnerten, wo er sich befand, dann blieb er oft weit hinter uns zurück und fand nicht mehr nach Hause. Es war wirklich eigenartig, wie zerstreut Keith war, der nie wußte, wo er gerade war, sondern nur darüber Bescheid wußte, wo etwas wuchs, brütete oder aufzuspüren war.

»Was ist eigentlich schwerer, Tom, die Bücher oder Unsere-Jane?« fragte ich, während ich sechs Bücher schleppte.

»Die Bücher«, antwortete er prompt und setzte unsere kränkelnde Schwester auf den Boden, so daß ich ihm die Bücher geben und Unsere-Jane tragen konnte.

»Was sollen wir bloß tun, Mutter?« fragte Tom, als wir unsere Hütte erreicht hatten, die wieder voller Rauch war, so daß es uns sofort die Tränen in die Augen trieb. »Unsere-Jane wird so furchtbar müde, aber sie muß trotzdem in die Schule.«

Sarah sah tief in die müden Augen von Unsere-Jane, berührte ihr blasses Gesicht, hob ihr Jüngstes sanft hoch, trug es zum großen Bett und legte es hinein. »Sie braucht einen Arzt, aber wir können uns keinen leisten. Deshalb werd’ ich oft so verdammt wütend über euren Vater. Er hat genug Geld fürs Saufen und für die Weiber, aber keins für einen Arzt, um sein eigen Fleisch und Blut zu kurieren.«

Sie klang sehr bitter.

An dem Tag, als Miß Deale uns erlaubt hatte, die Bücher mit nach Hause zu nehmen, schenkte sie uns eine ganze Welt.

Sie erschloß uns unerhörte Schätze, als sie uns ihre Lieblingsbücher in die Hände gab. Es waren Klassiker wie Alice im Wunderland, Alice hinter den Spiegeln, Moby Dick, Die Geschichte zweier Städte und drei Romane von Jane Austen – und sie waren alle für mich. In den folgenden Tagen wählte Tom seine Bücher aus, es waren typische Jungenbücher, die Hardy-Serie, sieben Bände davon. Ich dachte schon, er würde sich nur Unterhaltungsliteratur aussuchen, aber als er auch einen dicken Shakespeare-Band nahm, leuchteten Miß Deales blaue Augen auf.

Wir lasen Bücher von Victor Hugo, Alexandre Dumas und waren begeistert von den Abenteuern – auch wenn sie schrecklich aufregend waren. Wir lasen Klassiker, und wir lasen Schund; wir lasen alles, um der erbärmlichen Berghütte zu entkommen. Wenn wir ins Kino hätten gehen können oder einen Fernsehapparat oder andere Unterhaltung gehabt hätten, dann wären wir vielleicht weniger begeistert von den Büchern gewesen. Und vielleicht hatte es Miß Deale recht klug angestellt, daß sie nur uns erlaubte, die wertvollen Bücher mit nach Hause zu nehmen – weil die anderen Schüler nicht so gut darauf aufpassen könnten, wie sie uns sagte.

Es stimmte jedenfalls. Wir lasen die Bücher nur, nachdem wir uns die Hände gewaschen hatten.

Ich hatte schon den Verdacht, daß Miß Deale unseren Vater recht gut leiden konnte. Sie hätte wirklich mehr Geschmack haben sollen. Nachdem was Großmutter erzählte, hatte ihm sein »Engel« korrekt zu sprechen beigebracht, und sein gutes Aussehen und sein natürlicher Charme gefielen mancher vornehmen Dame – wenn er sich einmal dazu herabließ, charmant zu sein.

Vater ging jeden Sonntag mit uns zur Kirche und saß neben Sarah, umringt von seiner großen Familie. Miß Deale saß klein, zierlich und sehr aufrecht auf der gegenüberliegenden Seite und starrte Vater an. Ich konnte ja verstehen, daß sie sein gutes Aussehen bewunderte, aber sie hätte seine mangelhafte Bildung nicht vergessen sollen. Nachdem, was Großmutter mir erzählt hatte, war Vater schon in der fünften Klasse von der Schule abgegangen.

Die Sonntage folgten sehr schnell aufeinander, besonders wenn man nicht die passende Kleidung besaß. Ich hoffte jedesmal, daß ich ein neues hübsches Kleid bekäme, bevor der nächste Sonntag kam; aber es war überhaupt sehr schwierig, zu neuen Kleidern zu kommen, da Sarah immer so viel zu tun hatte. Also standen wir wieder einmal in der letzten Bankreihe in unseren Fetzen, die andere Leute als Lumpen weggeworfen hätten. Wir sangen gemeinsam mit den besten und reichsten Familien in Winnerrow und den anderen Hillbillies, die nicht besser oder schlechter gekleidet waren als wir.

An jenem Sonntag nach dem Gottesdienst war ich gerade dabei, Unsere-Jane zu säubern, während sie draußen vor dem Drugstore, ein Eis leckte, nicht weit von Vaters Lieferwagen. Miß Deale hatte uns fünf Casteel-Kindern Eis spendiert. Sie stand etwa fünf Meter von Vater und Mutter entfernt, die sich gerade wegen irgend etwas stritten, und es war durchaus möglich, daß Vater Sarah jeden Augenblick schlagen oder Sarah ihm eine Ohrfeige geben würde. Miß Deale starrte sie an. Ich mußte nervös schlucken und wünschte, daß Miß Deale weitergehen oder wenigstens woanders hinschauen würde, aber sie blieb wie angewurzelt stehen und lauschte.

Ich fragte mich, was sie in diesem Augenblick wohl dachte, aber ich habe es nie erfahren.

Keine Woche verging, in der sie Vater nicht einen Brief über Tom und mich zukommen ließ. Er war selten zu Hause; und wenn er auch dagewesen wäre, er hätte ihre kleine, saubere Handschrift gar nicht lesen können; und wenn er es gekonnt hätte, so hätte er ihr trotzdem niemals geantwortet. Erst letzte Woche hatte sie ihm geschrieben:

Sehr geehrter Mr. Casteel,

sicherlich sind Sie sehr stolz darauf, daß Tom und Heaven zu meinen besten Schülern gehören. Ich würde gerne zu einem geeigneten Zeitpunkt mit Ihnen zusammenkommen, um die Möglichkeit eines Stipendiums für Ihre beiden Kinder zu besprechen.

Hochachtungsvoll

Marianne Deale

Gleich am nächsten Tag erkundigte sich Miß Deale bei mir: »Heaven, hast du ihm den Brief nicht gegeben? Er wird doch bestimmt nicht so unhöflich sein und meinen Brief nicht beantworten. Du liebst ihn sicher sehr.«

»Und wie ich das tue«, gab ich zynisch zur Antwort.

Miß Deale bekam schmale Augen und starrte mich mit einem seltsamen Ausdruck an. »Ich bin entsetzt, richtig entsetzt! Liebst du deinen Vater etwa nicht, Heaven?«

»Aber natürlich liebe ich ihn, Miß Deale, wirklich. Besonders wenn er ›Shirley’s Place‹ besucht.«

»Heaven! Du solltest so etwas nicht sagen. Was weißt du schon über ein solches Haus?« Sie hielt inne und sah verlegen drein. Sie senkte die Augen, bevor sie mich fragte: »Geht dein Vater wirklich dorthin?«

»Bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet – sagt Mutter jedenfalls.«

Am nächsten Sonntag sah Miß Deale nicht mehr voller Bewunderung in Richtung Vater; im Gegenteil, sie würdigte ihn keines Blickes.

Auch wenn Vater bei Miß Deale in Ungnade gefallen war, so wartete sie immer noch im Laden auf uns fünf Kinder, während Vater und Mutter sich mit ihren Freunden aus den Bergen unterhielten. Unsere-Jane rannte mit offenen Armen auf unsere Lehrerin zu und schmiegte sich an Miß Deales blauen Rock. »Hier bin ich!« rief sie begeistert. »Kriege ich wieder ein Eis?«

»Das tut man nicht, Unsere-Jane«, ermahnte ich sie sofort.

»Du solltest abwarten, bis Miß Deale dir ein Eis anbietet.«

Unsere-Jane schmollte und Fanny auch. Beide hingen sie mit großen, treuen Hundeaugen an unserer Lehrerin.

»Macht doch nichts, Heaven«, sagte Miß Deale lächelnd.

»Warum, glaubst du wohl, komme ich hierher? Ich mag selber gerne Eis, und es gefällt mir überhaupt nicht, wenn ich es allein essen muß. Also kommt her und sagt mir, welches Eis ihr diese Woche haben wollt.«

Es war leicht zu erkennen, daß Miß Deale Mitleid mit uns hatte und uns wenigstens am Sonntag etwas gönnen wollte. Im Grunde genommen war es nicht richtig, weder für sie noch für uns. Uns fehlte ja so verdammt vieles, aber es war wichtig, daß wir unseren Stolz bewahrten. Doch unser Stolz wurde jedesmal besiegt, wenn es darum ging, zwischen Erdbeer-, Schokoladen- und Vanilleeis zu wählen. Nicht auszudenken, wie lange unsere Wahl gedauert hätte, wenn es noch mehr Sorten gegeben hätte.

Tom entschied sich für Vanilleeis, und ich wählte ein Schokoladeneis, aber Fanny wollte Erdbeer-, Schokoladen- und Vanilleeis zugleich, und Keith wollte dasselbe wie Unsere-Jane, und Unsere Jane konnte sich nicht entscheiden. Sie sah den Mann hinter der Theke an, schaute verträumt auf die riesigen Bonbon-Gläser, beobachtete ein Mädchen und einen Jungen, die gerade Eissoda verspeisten – und zögerte wieder.

Fanny öffnete gerade den Mund, um mit allen ihren Wünschen herauszuplatzen. Schnell griff ich ein. »Miß Deale, geben Sie Unserer-Jane ihr Vanilleeis, mit dem sie sich sowieso bekleckern wird. Das ist mehr als genug. Wir haben alles, was wir brauchen, zu Hause.«

Fanny stand hinter Miß Deales Rücken und schnitt fürchterliche Grimassen. Sie quengelte so lange, bis Tom seine Hand auf ihren Mund preßte und sie zum Schweigen brachte.

»Vielleicht geht ihr eines Tages alle mit mir zum Mittagessen«, sagte Miß Deale beiläufig nach einer kleinen Pause. Wir hatten gerade Unserer-Jane und Keith zugesehen, wie begeistert sie an ihrem Eis schleckten. Es war wirklich rührend. Kein Wunder, daß sie die Sonntage so liebten; am Sonntag erhielten sie den einzigen Festschmaus, den sie je in ihrem Leben kennengelernt hatten.

Kaum waren wir mit dem Eis fertig, erschienen Mutter und Vater in der Tür des Drugstores. »Kommt«, rief Vater, »wir fahren nach Hause – oder wollt ihr laufen?«

Jetzt erst entdeckte er Miß Deale, die gerade für Unsere-Jane und Fanny die Bonbons bezahlte, die sie sich Stück für Stück ausgesucht hatten. Er ging mit großen Schritten auf uns zu. Er trug einen cremefarbenen Anzug, den meine Mutter ihm auf ihrer zweiwöchigen Hochzeitsreise in Atlanta gekauft hatte – wie Großmutter erzählt hatte. Wenn ich ihn nicht gekannt hätte, wäre mir Vater in seinem Anzug wie ein Gentleman vorgekommen.

»Sie sind sicher die Lehrerin, von der meine Kinder die ganze Zeit so viel erzählen«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Sie wich zurück, ihre Bewunderung für ihn schien erloschen, seitdem ich ihr erzählt hatte, daß er »Shirley’s Place« besuchte.

»Ihre älteste Tochter und Ihr ältester Sohn sind meine begabtesten Schüler«, sagte sie kühl, »was Sie mittlerweile bestimmt wissen, denn ich habe Ihnen schon oft über Ihre Kinder geschrieben.« Sie erwähnte weder Fanny noch Keith, noch Unsere-Jane, die nicht in ihrer Klasse waren. »Ich hoffe, Sie sind stolz auf Heaven und Tom.«

Überrascht sah Vater kurz zu Tom und mir. Miß Deale hatte ihm zwei Jahre lang geschrieben, wie intelligent sie uns fand. Die Schule in Winnerrow war so begeistert über Miß Deales Engagement für die unterprivilegierten Kinder aus den Bergen (die man oft für geistig behindert hielt), daß man ihr die Erlaubnis gegeben hatte, unsere Klasse von Jahr zu Jahr weiterzuführen.

»Das sind ja erfreuliche Nachrichten, die man an einem so schönen Sonntag zu hören bekommt«, sagte Vater und versuchte, ihr in die Augen zu blicken. Aber sie weigerte sich, seinen Blick zu erwidern, so als könne sie ihre Augen nicht mehr von ihm abwenden, wenn sie ihn einmal angeschaut hätte. »Ich wollte auch immer schon eine bessere Ausbildung, aber ich hatte nie die Gelegenheit dazu«, erklärte ihr mein Vater.

»Vater«, unterbrach ich ihn mit scharfer Stimme, »wir haben uns entschlossen, nach Hause zu laufen. Mutter und du, ihr könnt schon vorfahren.«

»Will nicht gehen, will fahren«, heulte Unsere-Jane auf.

Sarah stand mit mißtrauisch zusammengekniffenen Augen neben der Tür des Drugstores. Vater machte eine leichte Verbeugung vor Miß Deale. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Miß Deale.« Er neigte sich herunter, nahm Unsere-Jane in einen Arm, hob Keith mit dem anderen hoch und schritt hinaus. Er hatte auf alle Leute im Drugstore wie der kultivierteste, charmanteste Casteel der Welt gewirkt. Die Münder standen offen, als wäre gerade ein Wunder geschehen.

Obwohl ich, um Miß Deale zu warnen, alles über Vater erzählt hatte, leuchtete so etwas wie Bewunderung in ihren himmelblauen, naiven Augen.

Es war ein besonders schöner Tag, die Vögel flogen hoch am Himmel, und die Herbstblätter segelten sanft zu Boden. Mir ging es ebenso wie Keith, der ganz von der Schönheit der Natur gefangengenommen wurde. Ich hörte daher nur halb, was Tom gerade zu mir gesagt hatte, bis ich die vor Überraschung geweiteten Augen Fannys sah. »Nein! Stimmt nicht! Der gutaussehende Junge hat nicht Heaven angeschaut! Mich hat er angeschaut!«

»Welcher Junge denn?«

»Der Sohn des neuen Apothekers, der den Drugstore übernommen hat«, erklärte Tom. »Hast du nicht den Namen Stonewall auf dem neuen Schild im Laden bemerkt? Meine Güte, der war ja schon in der Kirche total hingerissen von dir, Heaven, das muß man wirklich sagen.«

»Lügner!« kreischte Fanny. »Kein Mensch starrt Heaven an, wenn ich in der Nähe bin!«

Tom und ich ignorierten die zeternde Fanny. »Hab’ gehört, er soll morgen in die Schule kommen«, fuhr Tom fort. »Komisches Gefühl, wie der dich so angestarrt hat«, fügte er leicht verlegen hinzu. »Ist mir schon mulmig vor dem Tag, an dem du heiratest und wir nicht mehr so zusammen sind.«

»Wir werden immer zusammenbleiben«, warf ich hastig ein. »Kein Junge wird mich davon überzeugen, daß ich ihn dringender nötig habe als eine Ausbildung.«

Dunkle Wasser

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