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PROLOG

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Immer wenn der Sommerwind weht, dann stelle ich mir vor, wie er sanft über die Wiesenblumen streift und im Wald die Blätter rauschen läßt. Ich sehe die Vögel hoch oben am Himmel fliegen und die Flußfische springen. Und ich erinnere mich an die Wintertage: Wie die kahlen Bäume ächzten, wenn der Wind sie so gewaltsam rüttelte, daß die Äste an die ärmliche Holzhütte, die sich schutzsuchend an einen Hang klammerte, schlugen und peitschten. Die Bewohner von West-Virginia nennen die Berge, zu denen der Hang gehört, »the Willies« – die finsteren Berge.

Der Wind toste nicht nur, er heulte und wimmerte, so daß jeder, der in den finsteren Bergen lebte, ängstlich durch die kleinen schmutzigen Fenster spähte. Das Leben dort oben konnte einen das Fürchten lehren, besonders dann, wenn die Wölfe mit dem Wind um die Wette heulten, Wildkatzen fauchten und andere wilde Tiere durch den Wald streunten. Oft geschah es, daß Haustiere verschwanden, und ungefähr alle zehn Jahre kam ein Kind abhanden, ein Dreikäsehoch verirrte sich und fand nie wieder nach Hause.

Besonders deutlich erinnere ich mich an eine kalte Nacht im Februar, in der ich erfuhr, wer ich eigentlich war. Es war am Vorabend meines zehnten Geburtstages. Ich lag auf dem Boden in der Nähe des Ofens, eingehüllt in meine Schlafdecke, während die Wölfe draußen den Mond anwinselten. Unglücklicherweise hatte ich einen sehr leichten Schlaf und schreckte bei dem kleinsten Geräusch hoch. Man konnte in unserer abgelegenen Hütte jeden Laut überdeutlich hören. Großmutter und Großvater schnarchten. Vater torkelte betrunken herein, stieß gegen die Möbel, bis er krachend auf das Messingbett fiel, daß die Federn quietschten. Mutter erwachte und geriet sofort in Wut; mit hoher, schriller Stimme zankte sie ihn aus, weil er wieder seine Zeit in »Shirley’s Place« verbracht hatte. Damals wußte ich noch nicht, was an »Shirley’s Place« so anrüchig sein sollte und warum es immer Streit gab, wenn Vater dort gewesen war.

Die Holzdielen unseres Fußbodens hatten fingerbreite Zwischenräume und waren schief zusammengezimmert, so daß nicht nur die kalte Luft hindurchpfiff, sondern auch die Schlafgeräusche der Schweine, Hunde, Katzen und anderer Tiere, die unter den Dielen Unterschlupf gefunden hatten, deutlich vernehmbar waren.

Plötzlich drang ein fremdes Geräusch aus der Dunkelheit zu mir. Was bewegte sich im schummrigen Licht der Ofenglut? Ich kniff die Augen zusammen und erkannte Großmutter, die, auf Zehenspitzen und gebeugt, über den rauhen Bretterboden schlich. Mit ihren grauen, wallenden Haaren glich sie einer Hexe. Sie wollte bestimmt nicht zum Plumpsklo – Großmutter war die einzige von uns, die den Nachttopf benutzen durfte. Wir anderen mußten zum 200 Meter entfernten Plumpsklo wandern. Großmutter war Mitte Fünfzig. Chronische Arthritis sowie andere Leiden machten Großmutter das Leben schwer. Sie hatte kaum noch einen Zahn im Mund und sah doppelt so alt aus, wie sie eigentlich war. Leute, die sich daran noch erinnern konnten, hatten mir erzählt, daß Annie Brandywine Casteel einst das schönste Mädchen der Berge gewesen war.

»Komm mit, Mädchen«, krächzte Großmutter heiser und legte ihre knöcherne Hand auf meine Schulter, »’s wird endlich Zeit, daß du aufhörst, nachts zu weinen. Vielleicht tust du’s nicht mehr, wenn du die Wahrheit erfährst. Also beeil dich! Bevor dein Vater aufwacht, machen wir beide uns auf den Weg, und wenn wir zurückkehren, hast du was, an das du dich halten kannst, wenn er dich böse ansieht und dir mit’n Fäusten droht.«

Sie seufzte leise.

»Willst du damit sagen, Großmutter, daß wir hinausgehen sollen? Es ist schrecklich kalt draußen«, warnte ich sie, während ich mich erhob und in Toms viel zu große Schuhe schlüpfte. »Du hast doch wohl nicht vor, weit wegzugehen, oder?«

»Gewiß«, flüsterte Großmutter, »’s gehört sich einfach nicht, wie Luke seine Erstgeborene anbrüllt. Und es tut mir noch mehr weh – das Blut stockt mir schier in den Adern –, wie du gleich zurückschnappst, auch wenn’s gar nicht so schlimm gewesen ist und er sich bald wieder beruhigt hatte. Mädchen, Mädchen, was gibst du immer so freche Antworten?«

»Das weißt du doch, Großmutter«, wisperte ich. »Vater haßt mich, und ich weiß nicht, weshalb. Warum haßt er mich denn so?«

Es schien gerade so viel Mondlicht durch das Fenster, daß ich ihr liebes, altes Gesicht sehen konnte.

»Ja, ja, ’s wird Zeit, daß du’s erfährst«, brabbelte sie vor sich hin, warf mir einen schwarzen, selbstgestrickten Schal über und hüllte ihre schmalen, hängenden Schultern in einen ähnlich düsteren Umhang. Sie führte mich an der Hand zur Tür hin und öffnete sie. Sogleich blies ein scharfer Wind herein. In ihrem Bett hinter dem zerschlissenen blaßroten Vorhang brummten Mutter und Vater leise im Halbschlaf. Großmutter schloß die Tür schnell wieder. »Du und ich haben ’ne wichtige Reise vor uns, dorthin, wo unsere Vorfahren unter der Erde liegen. Hab’s dir schon die ganzen Jahre über zeigen wollen. Und nun gibt’s keinen Aufschub mehr. Die Zeit verrinnt; jawohl. Und eines Tages ist es zu spät.«

Also schritten meine Großmutter und ich in dieser kalten und verschneiten Nacht zum dunklen Kiefernwald. Eisschollen trieben den Fluß hinunter, und das Heulen der Wölfe erscholl nun aus nächster Nähe. »Jawohl, Annie Brandywine Casteel kann sehr wohl ’n Geheimnis hüten«, sprach Großmutter wie zu sich selbst. »Die meisten Leute können’s gar nicht, verstehst du. Sind nun mal nicht alle Menschen so auf die Welt gekommen wie ich... hörst du mir überhaupt zu, Mädchen?«

»Bleibt mir ja nichts anderes übrig, Großmutter. Du brüllst mir ja direkt ins Ohr.«

Sie hielt mich an der Hand und führte mich immer weiter weg von zu Hause. Es war Irrsinn, jetzt hier draußen zu sein. Warum wollte sie mir ausgerechnet in einer frostigen Winternacht ihr wohlgehütetes Geheimnis preisgeben? Warum gerade mir? Aber ich hatte sie so lieb, daß ich sie den holprigen Pfad hinunterbegleitete. Es schien mir, als gingen wir viele Meilen durch die kalte und finstere Nacht, während die alte Mondkugel auf uns herabschien und so aussah, als stecke sie voller böser Absichten.

Großmutters großartige Überraschung war nichts weiter als ein öder, unheimlicher Friedhof im fahlen Licht des Wintermondes. Bevor sie zu reden anfing, frischte der Wind auf; ihre dünnen Haare flatterten wild und vermengten sich mit meinen. »Was ich dir nun erzähle, ist das einzige, was ich für dich hab’, Kind. Es ist das einzig Wertvolle, das ich dir geben kann.«

»Hättest du’s mir nicht auch zu Hause erzählen können?«

»Niemals«, erwiderte sie trotzig. Großmutter konnte manchmal, wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, so standfest wie ein alter Baum mit unendlich vielen Wurzeln sein. »Dort hörst du mir überhaupt nicht zu, wenn ich dir was erzähle. Aber hier vergißt du’s dein Lebtag nicht mehr.«

Sie hielt inne, und ihr Blick heftete sich auf ein schmales, kleines Grab. Sie hob ihren Arm und zeigte mit ihrem knorrigen Finger auf den Grabstein aus Granit. Ich starrte darauf und versuchte die Inschrift zu entziffern. Wie seltsam, daß mich meine Großmutter mitten in der Nacht hierher brachte, an einen Ort, wo die Seelen der Toten ihr Unwesen trieben, vielleicht in den Körper eines Lebenden fahren wollten.

»Solltest deinem Vater verzeihen, daß er so ist, wie er nun mal ist«, fing Großmutter an und schmiegte sich enger an mich, um sich zu wärmen. »Er ist nun mal so, er kann nicht anders; so wie die Sonne nicht anders kann als aufgehen und untergehen.«

Oh, Großmutter hatte leicht reden. Alte Leute erinnerten sich eben nicht mehr daran, was es hieß, jung zu sein und Angst zu haben.

»Laß uns nach Hause gehen«, sagte ich schlotternd und wollte sie mit mir fortziehen. »Ich hab’ so viele Geschichten darüber gelesen, was bei Vollmond um Mitternacht auf Friedhöfen geschieht.«

»Ich hab’ doch mehr Grips, als vor toten, stummen Dingen, die nicht reden und sich nicht bewegen können, mit den Zähnen zu klappern.«

Sie schloß ihre Arme fester um mich und zwang mich, auf das schmale, eingesunkene Grab zu sehen. »Sei still und hör gut zu, bis ich fertig erzählt hab’. Ich will dir was sagen, was dir helfen wird. Dein Vater hat ’n ganz bestimmten Grund, warum er so gemein ist zu dir, wenn er dich sieht. Er haßt dich ja in Wirklichkeit gar nicht. Hab’s mir ganz genau durch den Kopf gehen lassen; wenn mein Luke dich anguckt, sieht er ja gar nicht dich, er sieht jemand anderen... Glaub’s Kind, er hat ’n gutes Herz. Ist in Wirklichkeit ’n guter Mann, das kann man sagen. Hat seine erste Frau so geliebt, er wär’ fast draufgegangen, als sie starb. Ist ihr in Atlanta begegnet. Er siebzehn, sie vierzehn Jahre und drei Tage alt. Hat sie mir später erzählt.« Großmutters dünne Stimme wurde eine Oktave tiefer. »Schön wie ’n Engel war sie, und – meine Güte –, wie hat sie deinen Vater geliebt. Jawohl, einen Narren hatte sie an ihm gefressen und ist gleich von zu Hause abgehauen. Von Boston immer in Richtung Texas gelaufen, jawohl. Mit ihrem feinen Köfferchen, voller Kleider und Sachen wie Spiegel, Armreifen und Ohrringe. Sie kam, um hier zu leben, aber es war nicht richtig, ’nen Mann zu heiraten, der gar nicht ihresgleichen war. Nur weil sie ihn liebte!«

»Großmutter, ich wußte nicht, daß Vater schon einmal eine Frau hatte. Ich dachte, Mutter wäre seine erste und einzige Frau.«

»Du sollst still sein, hab’ ich gesagt. Laß mich das schön der Reihe nach auf meine Art erzählen... Sie kam aus ’ner reichen Familie in Boston, um mit Luke, Toby und mir zu leben. Zuerst hab’ ich sie nicht leiden können. Wußte gleich, die hält nicht durch, gleich von Anfang an. Zu fein und zu gut für unsereinen, die Berge und die viele Mühsal! Dachte, wir hätten ’n Badezimmer oder so was. War ganz durcheinander, wie sie sah, daß sie raus mußte aufs Plumpsklo und auf’m Brett mit zwei Löchern sitzen. Da hat doch Luke ihr tatsächlich ein schönes, kleines Klo gebaut. Hat’s sogar weiß angemalt, und sie hat so ’n hübsches Papier auf ’ne Rolle gewickelt, das hat sie. Und gefragt hat sie mich, ob ich ihr rosa Papier aus’m Warenhaus benützen will. Ihr Badezimmer hat sie’s genannt. Und umarmt und geküßt hat sie den Luke, daß er ihr’s gebaut hat.«

»War Vater nicht so bös’ mit ihr wie mit Mutter?«

»Mund halten, Mädchen, bringst mich ja ganz draus! Als sie zu uns kam, hat sie mein Herz erobert und vielleicht auch das von Toby. Ganz arg bemüht hat sie sich, alles fein und gut zu machen. Gekocht hat sie. Hat versucht, unsere Hütte ein bißchen hübsch zu machen. Und Toby und ich, wir haben ihnen unser Bett überlassen, daß sie ihre Babys auf anständige Art machen konnten und nicht auf’m Boden. Sie wollte unbedingt auf’m Boden schlafen, unbedingt wollte sie’s, aber wir haben’s nicht zugelassen. Alle Casteels sind im Bett gemacht worden, hoffe ich jedenfalls. Und eines Tages lacht und hüpft sie vor lauter Freude, weil sie ein Kind kriegt. Ein Baby von meinem Luke. Und sie tat mir leid, so schrecklich leid. Wir zwei Alten hatten gehofft, ganz fest gehofft, daß sie wieder nach Hause zu ihren Leuten zurückgeht. Aber die Berge haben sie geholt, wie sie’s immer tun mit den Zarten, Schwachen. Aber glücklich hat sie ihn gemacht, als sie noch lebte. So glücklich ist er nie wieder gewesen.« Großmutter hielt inne.

»Wie ist sie denn gestorben, Großmutter? Ist das ihr Grab?«

Bevor die alte Frau eine Antwort gab, seufzte sie tief. »Gerade achtzehn war dein Vater, als sie starb, und sie war erst vierzehn, als er sie mit der kalten Erde bedecken und weggehen und sie allein lassen mußte. Und er wußte, wie sie die kalten Nächte haßte, ohne ihn. Kind, er hat die ganze Nacht auf ihrem Grab gelegen, um sie warm zu halten. Und es war Februar! Das war meine Geschichte vom Engel, der in die Berge gekommen ist, um deinen Vater zu lieben und ihn glücklich zu machen, so glücklich wie er’s nie wieder war und wohl auch nie wieder sein wird, so wie die Dinge stehen.«

»Großmutter, mußtest du mich hierher bringen, um mir das alles zu erzählen! Das hättest du mir doch auch zu Hause erzählen können. Auch wenn es eine traurige und schöne Geschichte ist – trotzdem, Vater ist so ekelhaft. Sie hat wohl das beste von ihm mit ins Grab genommen, und das schlechte hat sie uns zurückgelassen. Warum hat sie ihm nicht beigebracht, auch andere Menschen liebzuhaben? Großmutter, ich wünschte mir, sie wäre nie zu uns gekommen! Niemals! Dann würde Vater Mutter liebhaben, und mich, nicht nur sie!«

»Wie?« rief Großmutter erstaunt. »Was denn, Mädchen? Hast du’s noch nicht erraten? Das Mädchen, das dein Vater Engel genannt hat, war deine Mutter! Sie hat dich auf die Welt gebracht, und als du da warst, konnt’ sie kaum mehr sprechen. Und sie hat dir den Namen Heaven Leigh gegeben, jawohl. Mußt zugeben, daß du mächtig stolz sein kannst auf deinen Namen, von dem man sagt, daß er haargenau zu dir paßt.«

Ich achtete nicht mehr auf den Wind. Ich kümmerte mich nicht mehr darum, daß mir meine Haare ins Gesicht flatterten.

Der Mond tauchte hinter einer dunklen Wolke hervor, und ein Lichtstrahl fiel kurz auf den in Stein gehauenen Namen:

ENGEL

Innigst geliebte Frau von Thomas Luke Casteel

Beim Anblick des Grabes überkam mich ein eigenartiges Schaudern. »Wo hat Vater denn Sarah gefunden? Und so schnell?«

Großmutter redete jetzt immer hastiger, als hätte sie schon lange auf diese Gelegenheit gewartet. »Dein Vater brauchte ’ne Frau, um die leere Stelle neben seinem Bett zu füllen. Er haßte die einsamen Nächte, und Männer haben nun mal ein starkes Verlangen, ein körperliches Verlangen, aber das verstehst du erst, wenn du älter bist. Er wollt ’ne Frau, die ihm das gab, was ihm sein Engel gegeben hatte. Sarah hat sich bemüht, muß man ihr lassen. Sie ist dir ’ne gute Mutter gewesen, hat dich wie ihr eigenes behandelt. Hat dich großgezogen, dich geliebt. Sarah hat Luke ihren Körper mit Freuden geschenkt, aber sie hat nun mal nicht die Seele von Angel. Jetzt verzehrt er sich nach dem Mädchen, das ’n guten Menschen aus ihm gemacht hätte. Er war in jener Zeit ein guter Mann, Heaven, – auch wenn du’s nicht glauben magst. Denk nur mal, als deine Mutter, der gute Engel, noch lebte, ist er tagein, tagaus jeden Morgen mit seiner Klapperkiste zur Arbeit nach Winnerrow gefahren. Hat alles über Tischlerei, Häuserbauen und so gelernt. Ist jeden Tag von der Arbeit nach Hause gekommen, steckte voller Ideen, wie er uns ein Haus im Tal bauen würde und dort das Land bestellen, Rinder, Schweine und Pferde züchten – ein richtiger Tiernarr, dein Vater. Wie du!«

Ich war in einer seltsamen Gemütsverfassung, als Großmutter mich zurück in die Hütte brachte und zwischen altem Gerümpel und vielen Kartons, in denen wir unsere erbärmlichen Kleidungsstücke aufbewahrten, etwas hervorzerrte, das in eine alte Bettdecke eingehüllt war. Sie wickelte es aus, und ein eleganter Koffer, den wir Bergler uns nie hätten leisten können, kam zum Vorschein. »Deiner«, flüsterte sie, um die anderen nicht aufzuwecken. »Gehörte deiner Mutter. Hab’ ihr versprochen, ihn dir zur rechten Zeit zu geben. Heut nacht ist wohl die rechte Zeit. Schau dir’s an, Mädchen. Schau rein, was für ’ne Mutter du hattest.«

Als könnte man eine tote Mutter in einen teuren Luxuskoffer stopfen!

Doch als ich ihn aufmachte, blieb mir die Luft weg.

Vor mir, im trüben Licht des Ofens, lagen die schönsten Kleider, die ich jemals gesehen hatte. Zartes, Spitzenbesetztes, wovon ich nicht mal zu träumen gewagt hätte. Und am Boden des Koffers fand ich etwas Langes, in viel Seidenpapier eingewickelt. Ich merkte es Großmutter an, daß sie aufgeregt war und mich beobachtete, als warte sie gespannt auf meine Reaktion.

Im schwachen Schein der glimmenden Holzscheite blickte ich entgeistert auf eine Puppe. Eine Puppe? Das war das letzte, was ich erwartet hatte. Ich starrte die Puppe mit ihren aschblonden Haaren, die zu einer aufwendigen Frisur hochgesteckt waren, unentwegt an. Sie trug einen Brautschleier, der von einem juwelenbesetzten Häubchen festgehalten wurde. Ihr Gesicht war außergewöhnlich hübsch, mit wunderschön geschwungenen Lippen. Ihr langes Kleid war aus weißer Spitze, bestickt mit winzigen Perlen und glitzernden Steinen. Eine Puppenbraut – mit Schleier und allem. Sogar ihre weißen Schuhe waren aus Spitze und Satin, und als ich einen verstohlenen Blick unter ihren Rock warf, sah ich, daß ihre glänzenden Strümpfe von einem kleinen Strumpfbandgürtel festgehalten wurden.

»Das ist sie. Deine Mutter, Leigh, die Luke Angel nannte«, flüsterte Großmutter. »So sah deine Mutter aus, als sie deinen Vater heiratete und hierher zu uns kam. Das letzte, was sie sagte, bevor sie starb, ›Gib meinem kleinen Mädchen, was ich mitgebracht habe...‹, das hab’ ich nun getan.«

Ja, das hatte sie getan – und dadurch mein Leben von Grund auf verändert.

Dunkle Wasser

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