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6. KAPITEL
BITTERE ERNTE
ОглавлениеEines Nachts, während alle schliefen, schlich ich zu jener Stelle, wo ich den Koffer meiner Mutter versteckt hatte, um ihn zum ersten Mal, seit Großmutter ihn mir gegeben hatte, wieder zu öffnen. Ich zerrte ihn unter alten Schachteln voller Lumpen und Gerümpel hervor. Ich setzte mich hinter Old Smokey, damit Fanny nicht aufwachte und ich ungestört die Puppe hervorholen konnte.
Die geheimnisvolle, wunderschöne Puppenbraut, die für mich meine Mutter darstellte.
Ich hielt das harte Bündel in meinen Armen, und die Erinnerung an jene Winternacht, in der meine Großmutter mir die Puppe gegeben hatte, kehrte zurück. Seither war ich zwar schon oft an den Koffer gegangen, aber ich hatte nie die Puppe ausgepackt. Oft überkam mich der Wunsch, das schöne, von hellen Haaren umrahmte Gesicht, lange zu betrachten, aber ich befürchtete, daß mich dann bei dem Gedanken an meine Mutter, die ein besseres Schicksal verdient hatte, das Mitleid übermannen würde. Großmutters Flüstern hallte wie ein geisterhaftes Echo in meinen Ohren:
»Nu’ mach schon, Kind. Solltest mal den Koffer richtig durchschauen. Wundert mich schon lang, warum du nicht mit der Puppe spielst und die ganzen schönen Kleider nicht tragen magst.«
Ich spürte wieder das dünne Gespinst ihrer weißen Haare, die sanft mein Gesicht kitzelten, und den kalten Wind von damals, als ich die Puppenbraut auspackte. Im Feuerschein starrte ich sie an. Wie schön sie in ihrem kostbaren weißen Spitzenkleid aussah: Es war mit winzigen Knöpfen hochgeschlossen bis zum Kinn. Sie trug einen Schleier sowie weiße, spitzenbesetzte Satinschuhe.
Ihre Unterwäsche war ebenfalls kostbar: Ein winziger Büstenhalter umschloß die kleinen, harten Brüste, und sie hatte einen deutlich sichtbaren Spalt zwischen den Schenkeln, dort wo die meisten Puppen geschlechtslos waren.
Warum war diese Puppe anders und realistischer gemacht?
Dies war das Geheimnis meiner Mutter und ihrer Puppe. Welche Bedeutung hatte diese Puppe in ihrem Leben gehabt? Ich würde es eines Tages herausfinden. Ich küßte ihr kleines Gesicht und studierte ganz aus der Nähe ihre kornblumenblauen Augen. Dabei entdeckte ich winzige grüngraue und violette Pünktchen darin, wie sie auch meine Augen aufwiesen. Die Puppe hatte die gleichen Augen wie ich!
Am nächsten Tag in der Frühe – Fanny war bei einer Freundin, und Tom brachte Keith und Unserer-Jane bei, wie man besser angelt – erinnerte ich mich an Großmutters Erzählung, wie Vater nach dem Tod meiner Mutter alles, was ihr gehört hatte, mit dem Beil vernichten wollte und Großmutter den Koffer schnell vor ihm versteckt hatte. Er war meine einzige Verbindung zur Vergangenheit. Vater würde niemals so mit mir reden wie Großmutter. Und Großvater hatte sicherlich das Mädchen, das sein Sohn Engel genannt hatte, nicht einmal bemerkt.
»Ach«, seufzte ich, als Tom hereinkam. »Schau mal her, Tom, Großmutter hat mir erzählt, daß diese Puppe hier meiner Mutter gehört hat. Es ist eine Puppenbraut, die so aussieht wie sie, als sie noch ein Mädchen war und so alt wie ich. Sieh mal, was auf ihrer Fußsohle steht.« Nachdem ich sie bis auf Strümpfe und Schuhe wieder anständig angezogen hatte, hielt ich sie ihm so hin, daß er es lesen konnte:
A Tatterton Original Portrait Doll
»Zieh ihr Strümpfe und Schuhe an und versteck sie schnell«, flüsterte Tom. »Fanny kommt grad mit Keith und Unserer-Jane. Für mich hat sie ganz genau dein Gesicht. Fanny soll so was Schönes nicht kaputt machen.«
»Bist du denn gar nicht überrascht?«
»Schon. Aber ich hab’ sie schon vor langer Zeit entdeckt und sie wieder zurückgelegt, wie’s mir Großmutter angewiesen hat... Also schnell, bevor Fanny kommt.«
So schnell ich konnte, zog ich ihr hastig Strümpfe und Schuhe über, wickelte den Koffer gerade noch rechtzeitig in die schmutzige alte Decke ein, und dann erst wischte ich mir die Tränen von den Wangen.
»Heulst du immer noch wegen Großmutter?« fragte Fanny, die es fertigbrachte, eine Sekunde zu trauern und in der nächsten zu lachen. »Geht ihr bestimmt besser jetzt, als hier den ganzen Tag rumzusitzen, Schmerzen zu haben und zu jammern. Überall ist es besser als hier.«
Meine Puppe half mir über vieles hinweg, über Sarahs schlechte Launen und Ungerechtigkeiten, über Vaters Krankheit und über die Tatsache, daß ich Logan schon seit einer Woche nicht gesehen hatte. Warum wartete er nicht mehr, um mich nach Hause zu begleiten? Warum war er nicht gekommen, um mir zu sagen, daß es ihm wegen Großmutter leid tat? Warum gingen er und seine Eltern nicht mehr in die Kirche? Was für eine komische Art Liebe zeigte er nun, nachdem er mich geküßt hatte?
Schließlich kam ich dahinter. Seine Eltern mußten von Vaters Krankheit erfahren haben, und sie wollten nicht, daß ihr einziger, hoffnungsvoller Sohn so ein Berggesindel wie mich besuchte. Ich war nicht gut genug für ihn, auch wenn ich nicht die Syphilis hatte.
Weg mit diesen Gedanken. Lieber dachte ich an die Puppe und an das Geheimnis, warum meine Mutter in ihrem Alter noch eine Puppe haben wollte, die ihr ähnlich sah.
Am nächsten Tag tauchte Logan neben meinem Schulspind auf. Seine Augen lächelten mich an, obwohl sein Mund zusammengepreßt blieb. »Hast du mich vermißt, als ich diese Woche weg war? Ich wollte dir noch sagen, daß meine Großmutter krank geworden ist und wir hingeflogen sind, um zu sehen, wie es ihr geht. Aber es war keine Zeit mehr vor dem Abflug.«
Ich sah ihn mit großen, nachdenklichen Augen an. »Und wie geht es deiner Großmutter jetzt?«
»Gut. Sie hat einen kleinen Schlaganfall gehabt, aber bei unserer Abfahrt schien sie sich schon viel besser zu fühlen.«
»Wie schön«, sagte ich mit halberstickter Stimme.
»Was habe ich Falsches gesagt? Ich weiß, daß irgend etwas gewesen ist! Heaven, haben wir uns nicht gegenseitig geschworen, immer ehrlich zueinander zu sein? Warum weinst du denn?«
Ich senkte den Kopf, und ich erzählte ihm von Großmutter, und er fand die richtigen Worte, mich zu trösten. Ich weinte an seiner Schulter, und als wir den Pfad hochgingen, hatte er immer noch seinen Arm um meine Schulter gelegt. »Was ist mit dem Baby, das deine Stiefmutter erwartet?« erkundigte sich Logan. Er schien froh zu sein, daß Tom, Fanny, Unsere-Jane und Keith nicht in Sicht waren.
»Es wurde tot geboren«, antwortete ich steif. »Großmutter ist am gleichen Tag gestorben... zwei Menschen an einem Tag zu verlieren, das hat uns wohl alle ganz gelähmt.«
»Heaven, dann ist es ja auch kein Wunder, daß du so eigenartig ausgesehen hast, als ich dir erzählte, daß es meiner Großmutter besser geht. Es tut mir leid, wirklich verdammt leid. Hoffentlich wird mir eines Tages jemand beibringen, die richtigen Worte in solchen Augenblicken zu sagen. Im Moment fühle ich mich unfähig dazu... Ich weiß nur, daß ich deine Großmutter genauso geliebt hätte wie du.«
Bestimmt hätte Logan Großmutter geliebt, auch wenn es seinen Eltern peinlich gewesen wäre. So wie für sie peinlich wäre, falls Großvater je...
Am nächsten Tag gab mir Miß Deale einen Wink, ich sollte nach der Schule noch ein paar Minuten dableiben. »Hol du Unsere-Jane und Keith ab«, flüsterte ich Tom zu, bevor ich an ihr Pult ging. Ich wollte Logan noch treffen und war ängstlich darauf bedacht, einer Lehrerin auszuweichen, die manchmal zu viele Fragen stellte, bei denen ich mir nicht sicher war, ob ich sie beantworten sollte.
Sie sah mich lange an, so als wollte sie, wie Logan, aus meinen Augen eine Änderung ablesen. Ich wußte, daß ich Ringe unter den Augen hatte und dünner geworden war, aber was hätte sie sonst noch entdecken können? »Wie geht es dir?« fragte sie und sah mir dabei direkt in die Augen, so als wollte sie mich vom Lügen abhalten.
»Gut, sehr gut.«
»Heaven, ich habe gehört, was deiner Großmutter passiert ist. Es tut mir leid, daß du jemanden, den du so liebgehabt hast, verlieren mußtest. Aber ich habe dich oft in der Kirche gesehen und weiß, daß du ebenso gläubig bist, wie deine Großmutter es war, und daß du an die Unsterblichkeit der Seele glaubst.«
»Ich versuche es... wirklich...«
»Jeder tut das«, sagte sie sanft, wobei sie ihre Hand auf meine legte. Ich seufzte tief und hielt die Tränen zurück. Ich wollte keinesfalls als Nestbeschmutzerin gelten und meine Familie verraten, aber unwillkürlich mußte ich ihr doch alles erzählen, auch wenn ich nicht wußte, was sie schon erfahren hatte. »Großmutter ist wahrscheinlich an Herzversagen gestorben«, sagte ich und meine Augen wurden feucht. »Sarah hat ein totes Baby ohne Geschlecht auf die Welt gebracht, Vater ist weg, aber sonst geht es uns prima.«
»Ohne Geschlecht? Heaven, jedes Baby gehört zu dem einen oder dem anderen Geschlecht.«
»Das habe ich auch gedacht, bis ich bei der Geburt dieses Babys geholfen habe. Bitte erzählen Sie es niemandem, es würde Sarah verletzen – aber dieses Baby hatte keine Geschlechtsteile.«
Sie erblaßte. »Oh... Entschuldige, daß ich so taktlos war. Ich hatte zwar einige Gerüchte darüber gehört, aber ich schenke dem, was ich so höre, niemals Glauben. – Natürlich gibt es Anomalien in der Natur. Da aber die Kinder deines Vaters alle so schön sind, bin ich natürlich davon ausgegangen, daß deine Mutter wieder ein wohlgeratenes Kind bekäme.«
»Miß Deale, es wundert mich, daß Sie noch nicht richtig über mich Bescheid wissen. Sarah ist nicht meine Mutter. Mein Vater hat zweimal geheiratet. Ich bin das Kind seiner ersten Frau.«
»Ich weiß«, sagte sie ganz leise. »Ich habe von der ersten Frau deines Vaters gehört. Sie soll sehr schön gewesen sein und sehr jung, als sie starb.« Sie errötete und fingerte an unsichtbaren Fusseln auf ihrem teuren Strickkostüm herum. »Ich nehme an, daß du deine Stiefmutter sehr liebst und so tust, als wäre sie deine richtige Mutter.«
»Früher schon«, lächelte ich. »Ich muß jetzt gehen, sonst begleitet Logan noch ein anderes Mädchen nach Hause. Danke, Miß Deale, daß Sie so eine gute Freundin sind; und daß Sie uns durch alle Klassen begleitet haben; daß Sie Tom und mir das Gefühl gegeben haben, etwas wert zu sein. Erst heute morgen haben Tom und ich darüber gesprochen, daß die Schule ohne Miß Deale doch langweilig wäre.«
Sie berührte meine Hand, lachte leise und hatte dabei Tränen in den Augen. »Du wirst von Mal zu Mal schöner, Heaven – aber vergiß nicht, dir ein Ziel zu setzen. Und gib es dann nicht gleich auf, nur um wie alle anderen Mädchen überstürzt eine Ehe einzugehen.«
»Sie brauchen keine Angst zu haben, daß ich mein Ziel aufgebe!« rief ich ihr zu und eilte zur Tür. »Der Tag ist noch lange nicht da, an dem ich dreißig bin, in der Küche eines Mannes stehe, für ihn koche und wasche und jedes Jahr ein Baby von ihm bekomme!« Und schon rannte ich aus dem Klassenzimmer zu der Stelle, wo ich hoffte, Logan anzutreffen.
An diesem Tag war es im Tal sonnig und mild mit großen dicken Wolken am Himmel, die sich in Richtung London, Paris und Rom wälzten, als ich auf eine Gruppe von sechs oder sieben Jungen prallte, die wie zu einem Knäuel zusammengeballt standen und johlten.
»Bist eine Memme aus der Stadt!« schrie ein Grobian namens Randy Mark einem völlig verdreckten Jungen zu, der sich zu meinem Entsetzen als Logan entpuppte! Hatten sie ihn also doch erwischt – und Logan hatte immer behauptet, sie würden es nie schaffen. Er lag am Boden und rang mit einem gleichaltrigen Jungen. Logans Hemdsärmel war schon zerrissen, sein Kinn rot und geschwollen, die Haare fielen ihm ins Gesicht.
»Heaven Casteel ist doch nur ’ne Nutte und treibt’s wie ihre Schwester – auch wenn sie uns nicht ranläßt, aber bei dir tut sie’s.«
»Tut sie nicht!« brüllte Logan. Sein Gesicht war rot angelaufen, und er war so empört, daß er vor Wut zu kochen schien. Dann schnappte er Randys Bein und drehte es rücksichtslos herum. »Nimm sofort alles zurück, was du über Heaven gesagt hast! Sie ist das verehrungswürdigste und anständigste Mädchen, das ich je in meinem Leben getroffen habe!«
»Weil du ’nen faulen Apfel nicht von ’nem guten unterscheiden kannst. «
Wer hatte damit angefangen, und was war bereits geschehen? Ich sah mich um und entdeckte ein Mädchen aus meiner Klasse, die mich immer wegen meiner schäbigen Kleider auslachte. Jetzt grinste sie verschlagen. Bereit mitzukämpfen, lief ich auf Tom zu, der neben den Kämpfenden hockte.
»Tom, warum hilfst du Logan nicht?« fragte ich ihn.
»Das würde ich, wenn die anderen dann nicht glaubten, er könne nicht selbst kämpfen. Heavenly, Logan muß da alleine durch, oder es wird ihm ewig nachhängen, daß ich ihm geholfen hab’.«
»Aber die jungen aus den Bergen kämpfen nicht fair, das weißt du doch!«
»Macht nichts. Er muß ihre Bedingungen annehmen, oder sie werden ihn immer hänseln.«
Fanny hüpfte aufgeregt hin und her, gerade so, als würde Logan um ihre und nicht um meine Ehre kämpfen. Keith zog Unsere-Jane fort zu den Schaukeln und schaukelte sie, damit sie nicht sah, wie einer ihrer Freunde verletzt wurde. Wie einfühlsam Keith war, dachte ich noch, bevor ich mich wieder dem kämpfenden Paar am Boden zuwandte.
Es war schlimm, tatenlos zusehen zu müssen, wie ein Junge nach dem anderen über Logan herfiel; er konnte kaum verschnaufen, schon sprang ein neuer Junge in den Ring, den sie in die Erde eingezeichnet hatten, und boxte auf ihn ein. Logan war blutverschmiert, sein Gesicht voller blauer Flecken, sein linkes Auge geschwollen. Fast weinend packte ich Tom am Arm. »Tom, du mußt ihm jetzt helfen!«
»Nein... warte... er hält sich gut.«
Wie konnte er nur so etwas behaupten, da Logan viel schlimmer als alle anderen aussah? »Sie töten ihn, und du sagst einfach, er hält sich gut!«
»Sie töten ihn doch nicht, du Dummerchen. Sie wollen nur sehen, was er aushalten kann.«
»Was er aushalten kann?« schrie ich und war schon drauf und dran, mich in den Kampf einzumischen, aber Tom hielt mich rechtzeitig zurück.
»Blamier ihn ja mit deiner Hilfe nicht«, flüsterte er eindringlich. »Solange er zurückschlägt, werden sie ihn respektieren. Wenn du oder ich ihm helfen, ist alles umsonst.«
Also blieb ich stehen und sah zu. Jedesmal wenn er einen Schlag einstecken mußte, zuckte ich zusammen; wenn er zurückschlug, jubelte ich wie eine Wilde. Er sah blitzschnell zu mir herüber, wich dem nächsten Schlag aus und landete einen schnellen Uppercut. Ich brüllte ihm Ermunterungen zu und kam mir so gemein wie die anderen herumstehenden Mädchen vor.
Jetzt lag Logan oben und der Junge unter ihm schrie wie am Spieß. »Entschuldige dich... nimm das zurück, was du über mein Mädchen gesagt hast!« befahl ihm Logan.
»Deine Freundin, die Casteels... taugen alle zusammen nichts.«
»Nimm’s zurück, oder ich brech’ dir den Arm«, sagte er und drehte den Arm seines Feindes heftig herum. Der Junge unter ihm bettelte um Gnade. »Ich nehm’s zurück.«
»Entschuldige dich bei ihr, solange sie dich hören kann.«
»Bist nicht wie deine Schwester Fanny!« schrie der Junge. »Aber die wird ’ne Nutte, das weiß die ganze Stadt.«
Fanny stürzte sich auf ihn und versetzte ihm einige Fußtritte, während die anderen lachten. Jetzt erst ließ Logan den Arm des Jungen los, drehte ihn um und gab ihm einen Kinnhaken. Sofort hörten alle auf zu schreien und starrten auf das bewußtlose Gesicht des Jungen, während Logan aufstand, sich die Kleider säuberte und alle Anwesenden – außer Tom und mir – wütend anstarrte.
Plötzlich ließen sie alle mich, Tom und Fanny allein zurück, während Keith und Unsere-Jane weiter auf der Schaukel spielten und den Kampf gar nicht beachtet hatten. Tom eilte auf Logan zu und klopfte ihm auf die Schultern. »Mensch, warst verdammt gut, richtig gut! Deine Rechte war erstklassig! Die Beinstellung hast du auch richtig hingekriegt... Ich hätt’s selber auch nicht besser gekonnt.«
»Danke für das Training«, murmelte Logan, der etwas benebelt und sehr erschöpft aussah. »Wenn es euch nichts ausmacht, gehe ich ins Schulgebäude und wasche mich etwas. Wenn ich so nach Hause komme, wird meine Mutter ohnmächtig.« Er lächelte mir zu. »Heaven, willst du auf mich warten?«
»Natürlich.« Ich starrte auf seine blutunterlaufenen Flecken und sein blaues Auge. »Danke, daß du meine Ehre verteidigt hast...«
»Nicht deine, unsere, du Gans!« schrie Fanny. Dann, mir blieb fast das Herz stehen, stürzte sie auf Logan zu, umarmte ihn und küßte ihn auf die geschwollenen und blutenden Lippen.
Eigentlich hätte ich das tun sollen.
Logan lief ins Schulhaus, Tom packte Fanny am Arm, rief Keith und Unsere-Jane und schlug den Weg zu unserem Trampelpfad ein. Ich stand jetzt allein im Schulhof und wartete, bis Logan aus dem Umkleideraum der Jungen wieder herauskam.
Ich setzte mich auf die Schaukel, die Unsere-Jane benutzt hatte, und schaukelte immer höher und höher, bog meinen Oberkörper so weit nach hinten, daß meine Haare fast auf dem Boden schleiften. Seit Großmutters Tod hatte ich mich nicht mehr so glücklich gefühlt. Ich schloß die Augen und schaukelte noch höher.
»He... du da oben, komm runter, ich möchte dich noch nach Hause bringen, bevor es dunkel wird, und mich mit dir unterhalten.«
Als ich die Schaukel langsam zum Stehen gebracht hatte, sah ich, daß Logan jetzt etwas sauberer und weniger zerzaust aussah. »Bist du ernstlich verletzt?« fragte ich besorgt.
»Nein, nicht weiter schlimm.« Er sah mich mit einem Auge an. »Würde es dir was ausmachen, wenn ich es wäre?«
»Natürlich.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht, warum. Aber du hast mich dein Mädchen genannt. Stimmt das, Logan?«
»Wenn ich es gesagt habe, dann muß es auch stimmen. Es sei denn, du hättest etwas dagegen.«
Ich hatte wieder festen Boden unter den Füßen, und er nahm mich bei der Hand und zog mich sanft zum Waldpfad.
Winnerrow besaß nur eine Hauptstraße, von der aus alle anderen Straßen abgingen. Die Schule stand zwar mitten im Städtchen, aber die Bergkette schien unmittelbar dahinter emporzuragen. Auch das Städtchen entkam den »Willies« nicht. »Du hast mir noch nicht geantwortet«, drängte Logan, als wir eine Viertelstunde nebeneinander gegangen waren, Hand in Hand, ohne ein Wort, nur gelegentlich ein Blick.
»Wo warst du voriges Wochenende?«
»Meine Eltern wollten sich das College ansehen, wo ich studieren werde. Ich wollte dich anrufen, aber du hast kein Telefon, und ich hatte keine Zeit mehr, zu dir zu gehen.«
Wieder diese Geschichte. Seine Eltern wollten nicht, daß er mich besuchte, sonst hätte er sich die Zeit nehmen können. Ich blieb stehen, legte meine Arme um seine Hüfte und drückte meine Stirn gegen sein schmutziges, zerrissenes Hemd. »Es ist schön, deine Freundin zu sein, aber ich muß dich warnen. Ich möchte erst dann heiraten, wenn aus mir eine selbständige Persönlichkeit geworden ist, und ich die Chance gehabt habe, zu leben und etwas aus mir zu machen. Ich will, daß mein Name nach meinem Tod etwas bedeutet!«
»Suchst du Unsterblichkeit?« zog er mich auf, dabei drückte er mich fester an sich und verbarg sein Gesicht in meinen Haaren.
»So was ähnliches. Weißt du, Logan, es ist einmal ein Psychologe in unsere Schule gekommen, und der hat uns erzählt, daß es drei Sorten von Menschen gibt: Erstens, solche, die anderen dienen. Zweitens, solche, die der Welt etwas geben, indem sie die erzeugen, die anderen dienen. Drittens gibt es Menschen, die nur dann zufrieden sind, wenn sie etwas Eigenes erreicht haben, nicht durch Dienen und auch nicht über ihre Kinder, sondern aufgrund ihrer Leistung und Begabung. Ich gehöre zur dritten Sorte. Es gibt eine Nische für mich auf dieser Welt, wo ich meine Talente entwickeln kann – und wenn ich jung heirate, werde ich diesen Platz nie finden.«
Er räusperte sich. »Heaven, greifst du nicht etwas weit vor? Ich habe dir keinen Heiratsantrag gemacht, sondern dich nur gefragt, ob du meine Freundin werden willst.«
Abrupt hob ich den Kopf. »Willst du damit sagen, daß du mich nicht eines Tages heiraten willst?«
Er hob hilflos die Hände. »Heaven, wer kann schon die Zukunft voraussagen und wissen, wen wir mit zwanzig, fünfundzwanzig oder dreißig Jahren lieben werden? Nimm doch, was ich dir jetzt anbiete. Alles weitere bleibt abzuwarten.«
»Und was bietest du mir jetzt?« fragte ich mißtrauisch.
»Mich und meine Freundschaft. Und ich bitte um das Recht, dich gelegentlich küssen zu dürfen, deine Hand zu halten, deine Haare zu berühren, dich ins Kino zu begleiten. Du sollst mir deine Träume erzählen und ich dir meine, wir sollten uns zusammen amüsieren und unsere gemeinsame Zeit so gestalten, daß wir uns später gerne daran erinnern – das wär’s.«
Es war mehr als genug.
Wir spazierten weiter Hand in Hand. Es war schön, in der Abenddämmerung auf unsere Hütte zuzugehen, die in dieser Beleuchtung fast anheimelnd aussah. Logan konnte beruhigenderweise ja nur mit einem Auge sehen, und das trostlose Leben, das wir fristeten, würde er wohl erst wirklich begreifen, wenn er in die Hütte hineingesehen hätte.
Ich wandte mich zu ihm und nahm sein Gesicht in beide Hände. »Logan, darf ich dich einmal küssen? Du bist genauso, wie ich mir immer einen Freund vorgestellt habe. Oder findest du das zu aufdringlich?«
»Ich glaube, ich werde es überleben.«
Langsam glitten meine Arme um seinen Nacken – wie schrecklich sein Auge aus der Nähe aussah – ich schürzte die Lippen und küßte sein zugeschwollenes Auge und die Schnittwunde auf seiner Backe und schließlich seine Lippen. Er zitterte. Ich ebenfalls.
Ich fürchtete mich, etwas zu sagen, um nicht das innige Gefühl zwischen uns zu zerstören. »Gute Nacht, Logan. Bis morgen.«
»Gute Nacht, Heaven«, flüsterte er. Es hatte ihm die Stimme verschlagen. »Wirklich, ein wunderbarer Tag, ein ganz phantastischer Tag...«
Ich blickte Logan nach, bis er verschwunden war. Es herrschte jetzt ein »Dämmerdunkel« – so hatte Großmutter diese Tageszeit immer genannt –, als ich in die Hütte trat. Sofort wurde meine strahlende Laune gedämpft. Sarah kümmerte sich inzwischen nicht mehr darum, ob die Hütte sauber oder wenigstens aufgeräumt war. Die Mahlzeiten, die früher auch nicht gerade abwechslungsreich gewesen waren, bestanden jetzt meist nur noch aus Brot und Griebenschmalz – ohne Salat oder Gemüse. Schinken und Huhn gab es nur noch selten. Und die Erinnerung an Frühstücksspeck mußte man wohl verdrängen. Unser Gemüsegarten, in dem Großmutter und ich viele Stunden mit Unkrautjäten und Säen verbracht hatten, war jetzt vollkommen vernachlässigt. Das reife Gemüse verfaulte einfach an Ort und Stelle. Und da Vater nicht mehr nach Hause kam, gab es auch kein geräuchertes Schweinefleisch und keinen Schinken mehr als Beilage zur Bohnen- oder Wirsingsuppe oder zum Spinat und den Rüben. Unsere-Jane verweigerte das Essen oder erbrach es sofort wieder, und Keith weinte ununterbrochen, weil er nie satt wurde. Fanny tat nichts anderes als jammern und klagen.
»Ich kann nicht alles alleine machen, es muß mir jemand helfen!« schrie ich und wirbelte im Kreis herum. »Fanny, du gehst zum Brunnen und füllst den Eimer mit frischem Wasser, aber bis zum Rand und nicht nur ein paar Tassen voll, wie du das sonst gerne machst, weil du so faul bist. Tom, geh in den Garten und sammle alles, was wir an Gemüse noch essen können. Unsere-Jane, hör auf zu weinen! Keith, spiel mit Unserer-Jane, damit sie mit dem Weinen aufhört und ich nachdenken kann.«
»Gib du mir keine Befehle«, schrie Fanny. »Ich muß nicht alles tun, was du sagst! Nur weil ’n Junge für dich gekämpft hat, heißt das noch lange nicht, daß du die Königin der Berge bist.«
»Doch, du mußt Heaven folgen«, entgegnete ihr Tom und schubste sie aus der Tür. »Geh zum Brunnen und hol frisches Wasser.«
»Ist aber dunkel draußen«, jammerte Fanny. »Du weißt doch, daß ich in der Dunkelheit Angst hab’.«
»Na gut, dann hol’ ich das Wasser, und du sammelst das Gemüse, und hör auf, immer freche Antworten zu geben... sonst bin ich der König der Berge und hau dir den Hintern voll!«
»Mutter«, sagte ich am nächsten Tag zu Sarah. Ich hoffte, ich könnte sie in ein kleines Gespräch verwickeln und sie etwas aufmuntern, bevor ich auf die ernsteren Dinge zu sprechen kam. »Ich habe mich vor einigen Stunden verliebt.«
»Tu’s nicht, wärst sonst blöd«, brummte Sarah und warf einen kurzen, kritischen Blick auf meine Figur, die nun unübersehbar weibliche Formen angenommen hatte. »Verlaß die Berge und geh weit genug, daß dir kein Mann ’n Kind andrehen kann«, warnte sie mich. »Lauf von hier fort, so schnell du kannst, bevor du so wirst, wie ich es geworden bin.«
Verwirrt schlang ich meine Arme um Sarah. »Mutter, bitte rede nicht so. Vater kommt bald wieder nach Hause und bringt uns genügend Essen. Er kommt immer, wenn wir ihn wirklich brauchen.«
»Stimmt, tut er.« Sarah verzog ihr Gesicht zu einer scheußlichen Grimasse. »Grad immer im rechten Augenblick erscheint unser Luke wieder, zurück vom Rumhuren und Saufen, schmeißt die vollen Säcke auf’n Tisch, als brächt’ er Goldbarren heim. Das ist ja wohl alles, was er für uns tut, oder?«
»Mutter...«
»Bin nicht deine Mutter!« brüllte Sarah mit rotangelaufenem Gesicht. Sie sah regelrecht krank aus. »Bin’s nie gewesen. Wo bleibt denn deine berühmte Gescheitheit? Siehst du nicht, daß du mir gar nicht ähnlich siehst?«
Sie stand vor mir mit gespreizten Beinen, barfüßig und mit zerzaustem Haar, das sie seit der Totgeburt ihres Kindes weder gewaschen noch gekämmt hatte. Sie hatte auch seit einem Monat kein Bad genommen. »Ich verschwind’ aus diesem Höllenloch, und wenn du nur ’n Fünkchen Verstand hast, tust du’s auch.«
»Mutter, bitte geh nicht«, schrie ich verzweifelt und versuchte, ihre Hand zu ergreifen. »Auch wenn du nicht meine richtige Mutter bist, habe ich dich lieb, wirklich! Wir können doch nicht in die Schule gehen und Großvater alleine lassen! Er kann nicht mehr gut gehen, seit Großmutter tot ist. Er kann fast nichts mehr machen. Bitte, Mutter.«
»Tom kann das Holz hacken«, sagte sie mit tödlicher Ruhe, als hätte sie sich schon entschlossen, uns zu verlassen, egal, was uns zustoßen würde.
»Aber Tom muß in die Schule, und damit wir im Winter genügend Brennholz haben, muß sich mehr als einer darum kümmern; Vater ist ja weg.«
»Ihr kommt schon durch. Tun wir doch immer, oder?«
»Mutter, du kannst doch nicht einfach so fortgehen!«
»Kann ich, verdammt noch mal. Ich kann tun, was ich will – und es geschieht Luke nur recht!«
Fanny hatte alles gehört und kam auf uns zugerannt. »Mutter, nimm mich mit dir, bitte, bitte!«
Sarah schob Fanny von sich, trat einen Schritt zurück und sah uns ruhig und völlig gleichgültig an. Wer war diese Frau mit dem steinernen Gesicht, die nichts mehr zu kümmern schien? Sie war nicht die Mutter, wie ich sie immer gekannt hatte. »Gute Nacht«, sagte sie. Sie hatte sich dem Vorhang zugewandt, der ihre Schlafzimmertür war. »Euer Vater kommt schon zurück, wenn ihr ihn braucht. Tut er doch immer, oder?«
Vielleicht hatte mich der Duft von Obst, der vom Tisch herkam und mich in der Nase kitzelte, aufgeweckt.
Meine Güte, da lag ja eine Menge Essen auf dem Tisch. Woher kam das alles? Gestern abend war unser Küchenschrank noch leer gewesen. Ich nahm einen Apfel und biß hinein; dann eilte ich zu Sarah, um ihr zu sagen, daß Vater in der Nacht heimgekehrt war und uns Essen mitgebracht hatte. Ich schob den zerschlissenen Vorhang beiseite und erstarrte. Den Apfel noch zwischen den Zähnen, riß ich die Augen weit auf. Sarah war weg. Nur ein zerwühltes Bett, auf dem ein Zettel lag.
Sarah mußte sich in der Nacht, als wir alle schliefen, auf und davon gemacht haben. Sie hatte einen Zettel hinterlassen, den wir wohl Vater bei seiner Rückkehr überreichen sollten – falls er jemals zurückkehren würde.
Ich rüttelte Tom wach und zeigte ihm den Zettel. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und las ihn dreimal durch, bevor ihm der Inhalt langsam zu dämmern begann. Er schluckte heftig und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Wir beide waren jetzt vierzehn Jahre alt. Die Geburtstage kamen und gingen, ohne daß es ein Fest gab oder wir sonst irgendwie gefeiert wurden.
»Was macht ihr schon so früh?« brummelte Fanny.
Wenn sie mit steifen Knochen in ihrer harten Bettstatt auf dem Boden, ohne ein wenig Polsterung zwischen sich und dem Bretterboden aufwachte, war sie immer mißgelaunt. »Ich riech’ kein Brot, keinen Speck... seh’ kein Schmalz in der Pfanne.«
»Mutter ist weg«, sagte ich leise.
»Würd’ Mutter nie tun«, sagte Fanny und setzte sich auf. »Sie ist bestimmt draußen auf’m Klo.«
»Mutter hinterläßt keinen Zettel für Vater, wenn sie aufs Klo geht«, überlegte Tom laut. »Und ihre Sachen sind weg – war ja nicht viel.«
»Aber das Essen, ich seh’ Essen auf’m Tisch«, quietschte Fanny, sprang auf und schnappte sich eine Banane. »Wetten, daß Vater zurückgekommen ist und das ganze Zeug gebracht hat... Mutter und er sind wahrscheinlich draußen und streiten.«
Ich dachte über die Sache nach; vermutlich war Vater in der Nacht in die Hütte geschlichen, hatte das Essen gebracht und war wortlos wieder verschwunden; als Sarah dann das Essen entdeckt hatte, wußte sie, daß Vater sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sie zu begrüßen, und das war wohl der ausschlaggebende Grund gewesen wegzugehen. Wir hatten jetzt genügend Nahrungsmittel, und Vater würde uns nicht verhungern lassen.
Eigenartig, wie Keith und Unsere-Jane die Abwesenheit Sarahs als selbstverständlich hinnahmen, so als würden sie ihre Liebe und Zuneigung nicht vermissen. Beide kamen auf mich zugerannt und starrten mir entsetzt ins Gesicht. »Hevlee«, weinte Unsere-Jane, »du gehst doch nicht fort, oder?«
Wie ängstlich ihre großen blaugrünen Augen blickten. Wie hübsch ihr kleines puppenhaftes Gesicht war, als sie mich ansah. Ich streichelte ihr über die rotblonden Haare. »Nein, Kleines, ich bleibe hier. Keith, komm her, ich möchte dich ganz fest umarmen. Heute werden wir gebratene Äpfel und Würstchen zum Frühstück machen und dazu Brot... Schaut her, Vater hat uns Margarine gebracht. Eines Tages werden wir richtige Butter essen, nicht wahr, Tom?«
»Das hoff’ ich doch«, sagte er und nahm die Margarine. »Aber jetzt bin ich erst mal froh, daß wir was zu essen haben. He, glaubst du wirklich, Vater ist wie der Weihnachtsmann mitten in der Nacht gekommen und hat uns das alles gebracht?«
»Wer sonst?«
Er stimmte mir zu. So gemein und ekelhaft Vater auch war, er kümmerte sich doch immer, daß wir genug zu essen hatten und nicht froren.
Unser Leben war jetzt auf das Wesentliche reduziert. Sarah hatte sich davongemacht, Großmutter war tot.
Großvater tat weiter nichts, als vor sich hinzustarren oder zu schnitzen. Ich ging zu seinem Schaukelstuhl, in dem er die ganze Nacht mit herabgesunkenem Kopf geschlafen hatte und jetzt wie ein Häufchen Elend aussah. Ich nahm seine Hand und half ihm aufstehen. »Tom, sieh zu, daß Großvater aufs Klo geht, während ich Frühstück mache. Wenn er gegessen hat, gib ihm wieder Holz zum Schnitzen; ich halt’s nicht aus, wenn er nur dasitzt und nichts tut.«
Das wohlschmeckende Frühstück hat uns damals den Tag bestimmt erträglicher gemacht. Wir aßen heiße Würstchen, gebratene Äpfel und Kartoffeln, dazu Brot mit Margarine, die uns so gut wie Butter schmeckte.
»Wär’ schön, wenn wir ’ne Kuh hätten«, bemerkte Tom, der sich immer darum sorgte, daß wir alle nicht genügend Milch tranken. »Wenn Vater die doch bloß nicht verspielt hätte.«
»Skeeter Burl hat ‘ne Kuh, die uns mal gehört hat. Vater hat nicht das Recht, unsere Kuh zu verspielen. Stehl sie doch einfach zurück, Tom«, schlug Fanny vor, die sich mit Stehlen auskannte.
Ich fühlte mich wie ausgehöhlt, und die Sorgen, die ich in meinem Alter kaum bewältigen konnte, lasteten schwer auf mir; als ich darüber nachdachte, fiel mir ein, daß es ja viele Mädchen in meinem Alter gab, die schon eine eigene Familie zu versorgen hatten. Aber diese Mädchen besaßen nicht den Ehrgeiz, auf ein College zu gehen. Sie gaben sich damit zufrieden, als Frau und Mutter ihr Leben zu fristen und in Hütten zu wohnen. Wenn sie von ihren Männern einmal in der Woche verprügelt wurden, dann nahmen sie es gleichmütig als eine Selbstverständlichkeit hin.
»Heaven, kommst du nicht?« fragte mich Tom, der sich gerade für die Schule fertig machte.
Ich sah zu Großvater hinüber und dann zu Unserer-Jane, der es nicht gutging. Sie hatte das Frühstück – das beste seit Wochen – kaum angerührt.
»Geh du schon vor, Tom, mit Fanny und Keith. Ich kann Unsere-Jane nicht alleine lassen, wenn es ihr so schlecht geht. Außerdem möchte ich nicht, daß Großvater nur dasitzt und schaukelt und dabei vergißt, etwas herumzugehen.«
»Ihm geht es gut. Er kann doch auf Unsere-Jane aufpassen.«
In dem Augenblick, als er es ausgesprochen hatte, war mir klar, daß er es nicht so meinte; er wurde rot, senkte den Kopf und sah so bedrückt aus, daß ich am liebsten wieder geweint hätte. »In ein paar Tagen werden wir uns daran gewöhnt haben, Tom. Es wird schon weitergehen, du wirst sehen.«
»Ich bleib’ zu Hause«, bot Fanny an. »Ich pass’ auf Unsere-Jane und Großvater auf.«
»Die beste Lösung«, stimmte ihr Tom glücklich zu. »Fanny wird die High School sowieso nie beenden. Sie ist alt genug, leichte Arbeit zu machen.«
»Gut«, stimmte ich probeweise zu. »Fanny, zuerst mußt du Unsere-Jane baden. Du mußt zusehen, daß sie den Tag über acht Gläser Wasser trinkt und zwischendurch immer etwas ißt. Dann muß Großvater immer wieder zum Klo geführt werden, und du solltest darauf achten, daß hier alles sauber und aufgeräumt ist.«
»Geh’ lieber doch zur Schule«, seufzte Fanny. »Bin nicht Großvaters Sklavin und nicht die Mutter von Unserer-Jane. Ich bin lieber bei den Jungs.«
Ich hätte es wissen müssen.
Tom ging widerstrebend zur Tür. »Was soll ich Miß Deale sagen?«
»Erzähl ihr nicht, daß Sarah uns verlassen hat«, stieß ich hervor. »Sag ihr nur, ich bin zu Hause geblieben, weil es so viel zu tun gibt; Großvater fühlt sich nicht wohl und Unsere-Jane ist krank. Das ist alles, hast du mich verstanden?«
»Aber sie könnte uns vielleicht helfen?«
»Wie?«
»Weiß ich nicht, aber ihr fällt bestimmt etwas ein.«
»Thomas Luke, wenn du deine Ziele, die du dir gesetzt hast, erreichen willst, dann kannst du nicht herumgehen und um Hilfe betteln. Du mußt alle Schwierigkeiten überwinden und deine eigenen Lösungen finden. Wir beide werden zusammen versuchen, die Familie gesund durchzubringen. Sag Miß Deale und Logan, was du willst, sie sollen nur nicht merken, daß Sarah uns verlassen hat. Sie kann jede Minute zurückkommen, wenn sie einsieht, was sie falsch gemacht hat. Wir wollen sie doch nicht beschämen, oder?«
»Nein«, sagte er und atmete erleichtert auf. »Sie kommt bestimmt wieder, wenn ihr klar wird, daß es falsch war, uns zu verlassen.«
Er nahm Keith an die rechte Hand, und Fanny nahm seine linke Hand, und so stapften sie los in die Schule. Ich blieb mit Unserer-Jane im Arm zurück auf der Veranda. Sie weinte, als sie Keith in die Schule gehen sah, und ich wünschte mir, ich hätte mit ihnen gehen können.
Das erste, was ich tat, nachdem ich Unsere-Jane gebadet und sie ins große Messingbett gelegt hatte, war Großvater sein Schnitzmesser und ein paar Holzstücke zu geben. »Schnitz doch etwas, das Großmutter gefallen hätte, zum Beispiel so ein Reh mit großen traurigen Augen. Großmutter mochte die besonders – weißt du noch?«
Er blinzelte mit den Augen, blickte zu ihrem leeren Schaukelstuhl hinüber, und zwei große Tränen liefen ihm über die faltigen Wangen. »Für Annie«, flüsterte er, als er sein Lieblingsmesser in die Hand nahm.
Tom war ganz niedergeschlagen, als er nach der Schule nach Hause kam und sah, daß Mutter immer noch nicht zurückgekehrt war. »Jetzt muß wohl ich der Mann im Haus sein«, sagte er, und der Gedanke, was ihm nun alles bevorstand, schien ihn zu erdrücken. »Wird kein Geld geben, wenn sich keiner drum kümmert. Arbeiten auf dem Hof ist schwer, wenn man nicht die richtige Ausrüstung hat. Die Lebensmittelläden verkaufen nichts auf Kredit, und was wir haben, wird nicht lange reichen. Wir könnten auch alle ein neues Paar Schuhe gebrauchen. Heavenly, du kannst nicht mit Schuhen in die Schule gehen, die vorne aufgeschnitten sind.«
»Ich kann überhaupt nicht mehr zur Schule gehen, weder mit Schuhen noch ohne«, antwortete ich ihm mit tonloser Stimme und wackelte mit meinen Zehen. Ich hatte die Schuhe vorn aufschneiden müssen, weil sie mittlerweile viel zu klein waren. »Du weißt, daß ich Großvater nicht alleine lassen kann, und Unsere-Jane ist noch nicht gesund genug, um wieder in die Schule zu gehen.«
Tom starrte mich mit schreckensweiten Augen an. Wir hatten uns nach einem Gericht aus Bratkartoffeln, Würstchen, Brot, Schmalz und Äpfel zum Nachtisch, für das Bett fertig gemacht. Alle Willenskraft war aus seinen Augen geschwunden.
»Was sollen wir bloß tun, Heavenly?«
»Mach dir keine Sorgen, Tom. Fanny, Keith und Unsere-Jane, ihr geht in die Schule. Ich bleib’ zu Haase und pass’ auf Großvater auf, wasche und koche. Das kann ich ja«, fügte ich trotzig hinzu.
»Aber du gehst gerne in die Schule und Fanny nicht.«
»Egal. Fanny hat nicht das nötige Verantwortungsgefühl, um hier zu bleiben und den Haushalt zu führen.«
»Sie benimmt sich absichtlich so«, meinte Tom mit Tränen in den Augen. »Heavenly, egal, was du sagst, ich geh’ zu Miß Deale und erzähl’ ihr alles. Vielleicht fällt ihr etwas ein, das uns helfen kann.«
»Nein, das darfst du nicht! Denk doch an unseren Stolz, Tom; er ist das einzige, was uns bleibt. Wir sollten auf das achten, was uns wichtig ist und was wir schätzen können.«
Stolz zu sein, war für uns beide sehr wichtig. Vielleicht weil man sich aus freien Stücken dazu bekennen konnte und weil unser Stolz uns das Gefühl vermittelte, etwas Besonderes zu sein. Tom und ich, wir beide, wollten der Welt etwas beweisen. Fanny hingegen war anders. Sie hatte bereits gezeigt, daß sie unzuverlässig war.