Читать книгу Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático - Veit Lindner - Страница 10
1.4 Eine Problematik der Formwerdung
ОглавлениеSowenig aussichtsreich ein rein definitorischer Zugriff auf ,den Essay‘ ist, so fragwürdig erscheint auch die wissenschaftliche Beurteilung einer ,inneren Einstellung‘ und ,Essenz‘ eines Autors,93 die ,den Essay‘ in eine Reihe bloßer Akzidenzien verstreut. Das ,Essayistische‘ als historische Invariante mit einer großen Möglichkeit historischer Konkretisierungen zu betrachten erscheint methodisch plausibel, auch wenn es sich nicht als „Schreibweise“ im Sinne Hempfers definieren lässt: Ein Essay wird wohl ohnehin niemals alle isolierten Merkmale des ,Essayistischen‘ auf sich vereinigen. Dazu können keine adäquaten Kriterien zur objektiven Bestimmung von Textkorpora genannt werden. Hempfer will seine Untersuchungen im Sinne einer Formulierung Petöfis verstanden wissen, der in einer lakonischen Bemerkung nicht mehr von der Theorie erwartet, als dass es ihr allmählich gelänge, die „relevanten Fragen“ zu stellen.94 Ich würde dagegen Richard Rorty folgen, der vorschlägt, mit alten Dingen aufzuhören und lieber „etwas anderes“ zu tun und die traditionellen Fragen durch „möglicherweise interessantere Fragen zu ersetzen“.95 Daher schlage ich vor, den Blick sowohl weg vom Essay als Gattung, als auch von der reinen Geisteshaltung, und ebenso von der „Schreibweise“ zu richten – denn all dies folgt einem Denken des fertigen und abgrenzbaren ,Produkts‘. Bereits Juan Marichal hatte sich bei der Betrachtung von Essays für eine dynamischere Herangehensweise ausgesprochen. Seiner Auffassung nach habe man es mit einer „literarischen Operation“ zu tun. Es gehe mehr um ein ,Wie‘ als um eine bezeichnende Haltung.96 Zentral erscheint auch für mich die Frage nach jenem Raum zwischen ,Essay‘ als Geisteshaltung und/oder Schreibweise auf der einen Seite und ,Essay‘ als Form, auf der anderen; zwischen ,mode‘ und ,genre‘.
Wie aktualisiert sich jener „essayistische Geist“? Peter Zima schlägt folgende Aspekte vor, die wieder im Anschluss an einen Postmoderne-Begriff lesbar wären: Konstruktivismus und Perspektivismus, die auf ein Kontingenzbewusstsein antworten; dazu gehören Dialogizität, die Ambivalenz der Erscheinungen, Selbstreflexion und Selbstironie sowie die Annahme der Freiheit des Subjekts in einem nachmodernen kritisch-utopischen Komplex.97 Ausgehend von Kristevas Intertextualitätsbegriff, nach dem er ,den Essay‘ als alle Diskurse aufnehmenden und umgestaltenden Intertext fasst, skizziert Zima eine dialogische Theorie, in der sich eine ideologiefreie Kritik entfalten kann. Zima geht es allerdings weniger um eine Theorie des ,Essayismus‘, sondern vielmehr darum, ein „theoretisches Potenzial ,des Essays‘“ herauszuarbeiten und für eine dialogische Theorie nutzbar zu machen. Für ein Erfassen des ,Essayistischen‘ in seiner Dynamik zwischen Genese und Struktur und als Prozess von De- und Restrukturierung, möchte ich daher einem anderen Ansatz folgen: Mit einem Wort, das Linda Hutcheon für postmoderne Texte prägt, ließe sich dieser Zwischenraum weder als Prozess, noch als Produkt, sondern als „process of making the product“98 charakterisieren. Denn der Prozess des Schreibens erscheint im ,Essayistischen‘ nicht rein intransitiv, nicht teleologiefrei aufs Geratewohl, oder im Sinne eines postmodernen Verständnisses rein spielerisch. Er bezieht immer ein Objekt ein, das zu wissen gewesen wäre und in dem auch das Schreiben seine Erfüllung in der Form gefunden hätte.
Das ,Essayistische‘ ist ,embodyment‘, ,Verkörperung‘, eine Problematik des Schreibens als Formwerdung, die sich in einer Problematik der Selbstwerdung des schreibenden Subjekts spiegelt. Typologisch lässt sich (wenn auch nicht erschöpfend) feststellen, dass sich diese Problematik in einer Reihe isomorpher Denkfiguren niederschlägt, die zwischen Konstruktion und Dekonstruktion changieren. Dazu gehören eine labile Metaphysik und eine ebenso labile Subjektkonstruktion. Diese Figuren konstituieren keine „Schreibweise“, sondern sind eingebunden in das Wirken einer ,Praxis‘, die jenen Zwischenraum von ,process‘ und ,product‘ als Aporie ausformuliert. Ich möchte daher das ,Essayistische‘ in seiner Dimension als ,Praxis‘ näher betrachten und diese als Suche nach einer ,möglichen‘ Form (sei es ein Wissen, das Subjekt, der gestaltete Text, oder die Wahrheit selbst) beschreiben, deren aporetische Struktur in den Metaphern von Weg und Lichtung evoziert wird. Die problematische ,Praxis‘ einer Formwerdung ist im Falle des ,Essayistischen‘, wie oben bereits erwähnt, verbunden mit einer ,Selbstwerdung‘ des schreibenden Subjekts. Zur Beschreibung dieser Bewegung schlage ich zwei mögliche Wege vor: Zunächst möchte ich versuchen, sie psychoanalytisch nach Lacan als ein Schreiben im ,Spiegelstadium‘ zu erfassen, das vor allem den Aspekt der ,Selbstwerdung‘ innerhalb eines dynamischen Wechselverhältnisses von Symbolischem und Imaginärem berührt. Zur Erweiterung der Diskussionsgrundlage will ich in dem Octavio Paz gewidmeten Analyseteil anschließend Julia Kristevas Begriff der „Textpraxis“ für das ,Essayistische‘ erproben und deren Operationen auf einer textuellen Tiefenebene sichtbar – oder hörbar – machen.