Читать книгу Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático - Veit Lindner - Страница 9

1.3 Das ,Essayistische‘ als Schreibweise?

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Betrachten wir das ,Essayistische‘ ausschließlich als Geisteshaltung, die einzigartige, nicht formalisierbare Formen hervorbringt, stehen wir allerdings vor einem logischen Problem. Denn damit wäre nicht zu erklären, warum im Laufe der Zeit Texte so unterschiedlicher Art immer wieder unter dem Titel ,Essays‘ vereint worden sind. Die absolute Singularität, sagt Derrida gegenüber Dereck Attridge, wäre ohnehin unlesbar. „Um lesbar zu werden, muss sie sich mitteilen, partizipieren und eine Zugehörigkeit entwickeln. […] Jedes œuvre ist singulär in dem Sinne, dass es auf singuläre Weise sowohl von seiner Singularität als auch von seiner Verallgemeinerbarkeit spricht. Von Iterabilität und dem Gesetz der Iterabilität.“78 Das Problem, das Derrida hier unter dem Begriff der Iterabilität fasst, entspricht auch einer Grundproblematik der Gattungstheorie, wie Klaus Hempfer sie skizziert und die in einer Notwendigkeit der Wahl zwischen überzeitlicher und rein historischer Bestimmbarkeit des Gattungshaften besteht.79 Anders ausgedrückt: Weder das Gesetz noch das Phänomen allein können Aufschluss geben, sondern die Bestimmung ihres dynamischen Verhältnisses. Hempfer versucht daher eine Synthese zwischen beiden durch seinen Begriff der „Schreibweisen“. Gattungen sind demnach historische Aktualisierungsformen, die auf bestimmten Strukturgesetzen beruhen. Diese Gesetze bilden „generische Invarianten“, die laut Hempfer auf „Schreibweisen“ zurückgehen. Die Anzahl der verschiedenen „Schreibweisen“ ist apriori nicht ermittelbar; Hempfer nennt aber „das Narrative“ oder „das Satirische“ als Beispiele. Darunter könnte nun also auch ,das Essayistische‘ fallen. Nach Hempfer können sich unterschiedliche „Schreibweisen“ überlagern und zusammen eine Gattung integrieren. Einzelne „Schreibweisen“ würden nicht über ihre Konstituenten selbst definiert, sondern strukturalistisch, durch eine Untersuchung ihrer Relationen zueinander.80 Den invarianten Tiefenstrukturen stellt Hempfer nun Transformationsmöglichkeiten gegenüber, innerhalb derer sich die Strukturen ausdrücken können. Sein Ansatz besteht in einer Entkopplung von invarianter Tiefe und wandelbarer Oberfläche, die im Grunde den Ebenen von ,langue‘ und ,parole‘ entsprechen und getrennt voneinander untersucht werden können.81 Damit werden Formen als wandelbar beschreibbar, ohne ihre konkreten Aktualisierungen jeweils als kontingenten Einzelfall akzeptieren zu müssen. Zusammen mit einer Bestimmung des pragmalinguistischen Kontexts lassen sie sich vielmehr als „im Rahmen der Gesetze einer Struktur mögliche Realisationen“ begreifen.82 Hempfers Verdienst besteht gewiss in der Beobachtung und der präzisen Formulierung, dass „die intuitiv schon immer erkannten Ähnlichkeiten zwischen an der Oberfläche heterogenen Texten nicht durch die ,klassische‘ Abstraktion und Klassifikation isolierter Einzelelemente bestimmt werden können, sondern nur durch die Erstellung abstrakter Bezugssysteme zwischen diesen Elementen, deren historisch variable Konkretisationen dann über jeweils spezifische Transformationsregeln erfaßbar sind“.83 Wie Hempfer selbst einräumt, könnten allerdings noch keine allgemeinen Prozeduren angegeben werden, wie diese Tiefenstrukturen zu ermitteln seien. Man könne weder Zahl noch Art, noch bekannte Kategorien formulieren. Es könne nicht einmal jede Textgruppe auf Tiefenstrukturen zurückgeführt werden.84 Hempfer schlägt daher eine typologische Untersuchung vor, in der Textkorpora empirisch hinsichtlich ihrer transzendierenden Strukturierungsverfahren befragt werden. Allerdings ist bereits die Bildung dieser Korpora extrem problematisch. Sie kann nicht gänzlich auf induktive Verfahren verzichten und Hempfer zufolge keine Objektivität im Sinne eindeutiger Zuordnungen gewährleisten.

Rüdiger Zynmer übernimmt Hempfers Ansatz typologisch zu erfassender „Schreibweisen“. Typologisierende Literaturwissenschaftler, schreibt Zymner, fassen „nicht die ,Welt der Literatur‘ und ihre allgemeinen Gruppen ins Auge, sondern zunächst einmal das besondere Einzelwerk, um von hier aus ,das Ganze‘ der Literatur zu erfassen.“85 Nach Zymner könnten sich „Schreibweisen“ zu manchen Zeiten zu Gattungen stabilisieren, die ganz deren ästhetischem Prinzip oder Verfahren folgen. Als Kriterium zur Unterscheidung von „Schreibweisen“ dient Zymner dabei der Begriff der „Wirkungsdisposition“. So seien sie weder auf den Stil, noch auf inhaltliche Vorgaben zu begrenzen, sondern verbänden unterschiedlichste literarische Mittel mit einer Funktion oder Wirkung, wie etwa, einen Leser in Staunen zu versetzen oder zum Lachen zu bringen, oder jemanden herabzusetzen.86 Auch im Falle des ,Essayistischen‘ wäre meiner Ansicht nach ein Set aus Wirkungsdispositionen durchaus vorstellbar, auf die ich an dieser Stelle aber nicht genauer eingehen werde. Angedeutet sei lediglich eine im Sinne Lyotards ,paralogistische‘ Funktion, die den Text legitimiert, insofern er neue Ideen hervorbringen kann, oder Adornos bekannte Charakterisierung ,des Essays‘ als die Form der Kritik par excellence.87

Eine Typologie ist jedoch ein problematisches Unterfangen: denn sie sähe vor, die am konkreten Textbeispiel zusammengetragenen Merkmale als „Schreibweise“ zu objektivieren. Eine spezifische „Schreibweise“ ließe sich nach Zymner durch Überspitzung und Isolierung bestimmter Merkmale bilden.88 Genau diese Art der Objektivierung ist es jedoch, die für das ,Essayistische‘ immer heikel erscheint. Die Idee eines ,Essayistischen‘ allgemein als historische Invariante zu beschreiben, mag sinnvoll sein; doch lässt es sich nicht ganz mit Hempfers „Schreibweisen“ erfassen. Denn obgleich Hempfer sie über eine spezifische Relation ihrer Elemente und damit dynamisch konzipiert, erscheinen sie in letzter Konsequenz eindeutig festlegbar. Gerhard Haas, der den Begriff des Essayistischen in die Diskussion einführt, folgt ebenfalls einem entsprechenden Ansatz. Für ihn steht fest: „[G]ibt es eine solche unverwechselbare Struktur des Essayistischen nicht, so ist es fragwürdig, mit dem Begriff des Essay wissenschaftlich zu arbeiten.“89 Dabei ist es doch gerade die Verwechselbarkeit mit anderen Strukturen, die das Phänomen wissenschaftlich so interessant macht. „Schreibweisen“, so Hempfer, können durch die Beschreibung der Relationen ihrer Elemente „definiert“ werden. Für historische Gattungen seien „Transformationsregeln“ aufzustellen. Die dafür verwendeten Kriterien seien einer „Systematisierung“ zu unterwerfen.90

Definition, Regelhaftigkeit, Systematisierung, Kategorisierung und Sub-Subkategorisierung – es stellt sich die Frage, ob das ,Essayistische‘ ausgerechnet mit einem terminologischen und methodischen Repertoire erfasst werden sollte, dem es sich am meisten widersetzt. Obwohl Hempfer seine Untersuchungen nicht auf ein ,Essayistisches‘ ausgerichtet hatte, müssen ihn selbst dennoch Zweifel über sein Vorhaben beschlichen haben; das zeigt sich, wenn er etwa erklärt, zumindest für den diachronen Zusammenhang der Texte seien „keine strikten, deterministischen Gesetze zu formulieren, aus denen der Wandel deduktiv-nomologisch zu erklären wäre“.91 Die bisherigen Versuche stellten spekulative Pseudoerklärungen dar. Als Ergebnis seiner Untersuchungen präsentiert Hempfer eine Beobachtung, die im Ansatz auch für eine Beschreibung des ,Essayistischen‘ durchaus praktikabel wäre: Aufgrund der empirischen Gegebenheiten erscheine „als allgemeines Entwicklungsprinzip nur die Dialektik von Genese und Struktur angebbar, die einen nicht deterministischen, teleologiefreien Prozeß der Destrukturation existenter Strukturierungen und der Restrukturierung neuer Ganzheiten konstituiert […].“92 Dabei ist es aber gerade jener Zwischenraum, der zumindest im Fall eines ,Essayistischen‘ zu untersuchen wäre und den Hempfer lediglich mit der Ellipse einer ,Dialektik‘ umschifft. Dynamisch ist an seinem Konzept nur noch der ursprüngliche Einfall. Die „Schreibweise“ verliert sich in einem ,regressus ad infinitum‘, bei dem sich das Dynamische jeweils in die nächst tiefer liegende Schicht oder in die stärkere Mikroskopstufe verschiebt. Eine solche Dynamik ist nichts als ein Lückenbüßer für (noch) Unerklärliches. Es ginge darum, die Bewegung als Bewegung zu denken, und nicht als eine Reihe statischer Momentaufnahmen.

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