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1.2 Das ,Essayistische‘ als Frage der Geisteshaltung

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Claire de Obaldia führt dies zu der Frage, „whether the essay can be regarded as a genre at all, or whether it might not represent the very denial of genre“.56 Sie stellt den Essay als ein Schreiben dar, das den Gattungen in gewisser Weise vorausgeht;, als „writing before the genre, before genericness“.57 In Anlehnung an Genette unterscheidet sie zwischen mode und genre: Während sie die geschlossene Form eines „argumentativen“ Essaytyps als literarische Gattung für grundsätzlich klassifizierbar hält, assoziiert sie die offene Form des von Montaigne begründeten meditativen und spekulativen Essays mit einem „Modus“ des Schreibens, den sie „das Essayistische“ nennt.58 Auch ich möchte dies meinen Überlegungen zugrunde legen: Das ,Essayistische‘ soll also ,den Essay‘ ersetzen.59 Das ,Essayistische‘ ist nach Obaldia die Ausdrucksweise eines „essayistischen Geistes,, eines „essayistic spirit,“, und ,der Essay‘ nichts als eine Extrapolation des ,Essayistischen.‘.60 Obaldia legt das ,Essayistische‘ so an, dass es alle literarischen Genres durchdringen, oder an ihnen teilhaben kann. So sieht sie beispielsweise im Roman die vielleicht essayistischste aller literarischen Gattungen; reflexiv, kritisch, unbestimmt und ohne feste Form. Wenn sich nicht beantworten lässt, was der Essay ist, dann immerhin, was das ,Essayistische‘ als Haltung ausmacht. Unter dieser Herangehensweise entstehen dann jene „additiven Aufzählungen von Merkmalen“, die Birgit Nübel als unbefriedigend kritisiert. Dabei ist diese Reihung in keiner Weise falsch. Im Gegenteil halte ich sie sogar für eine intuitive Erfassung dieses Textphänomens für unersetzlich. Sie sind nur eben selbst von dem affiziert, was Wolfgang Müller-Funk sehr treffend als den „essayistischen Impuls“61 bezeichnet. Denn in stilistischer Hinsicht scheint hier tatsächlich eine Impulsivität als asyndotische Struktur ein Weg zu einem assoziativen Verstehen zu sein. So eröffnet Müller-Funk eine breite Perspektive, wenn er Momente beschreibt, die zum „Gestus des Essayistischen“ gehören: „subjektive Erfahrung, lebensweltlicher Bezug, die Affinität zum Experimentellen, Induktion, kreisende Bewegung um ein Thema, das eben nicht mehr ein fixierter Gegenstand ist, Mehrdeutigkeit, Apodiktik und hypothetischer Konjunktiv, literarisches Schreiben, Prinzip Umweg, lebendige Metapher, Grenzüberschreitung, Analogie, Sinn für Ironie und Paradoxie, Gedankensprung, Intertextualität und Dialog.“62 Der Versuch einer wissenschaftlichen Beschreibung eines essayistischen ,Charakters‘, so scheint es, entkommt einer essayistischen Darstellung nicht. Das Bedürfnis umfassender Darstellung bringt die Sätze ins Wanken und löst den inneren Impuls eines Gedankenstroms aus, dessen Bruchstücke das ,Ganze‘ transzendieren sollen. Und so ist Müller-Funks Operation durchaus mit Octavio Paz’ berühmter Charakterisierung der Dichtung aus El arco y la lira vergleichbar: „Die Poesie ist Wissen, Erlösung, Macht, Hingabe. […] Einladung zur Reise ins Geburtsland. Inspiration, Respiration, muskuläres Exerzitium. Gebet an die Leere, Dialog mit der Abwesenheit: […].“63

Der Versuch einer metaphysischen Wesensbestimmung des ,Essayistischen‘ als Geisteshaltung löst die Bestimmung einer Reihe von Merkmalen aus, die sich in ihrer Mehrheit um das Schlagwort des Postmodernen gruppieren. Tatsächlich hatte Lyotard, als er den Begriff der Postmoderne prägte, ähnliche Assoziationen. „Mir scheint“, schreibt er in Postmoderne für Kinder (Le postmoderne expliqué aux enfants), „daß der Essay (Montaigne) postmodern ist und das Fragment (das Athenäum) modern.“64 Obwohl Lyotard selbst seine Vermutung nicht weiter ausführt, lässt sie wertvolle Rückschlüsse zu. Das ,Essayistische‘ reiht sich nicht ein in die großen Welterklärungssysteme. Nach Lyotards viel zitiertem Zusammenbruch der Metaerzählungen bildet fortan die ,kleine Erzählung‘ einen Legitimationsmodus eines postmodernen Wissens.65 Essayistisches Schreiben als fragmentartige oder nicht erschöpfende ,kleine Erzählung,, die eng mit einer perspektivischen sozialen Konstruktion von Realität in unserer Kultur zusammenhängt66 und die ihre Legitimation in sich selbst sucht, ist schon sehr nah an dem, was Lyotard unter dem Schlagwort der Postmoderne vorgestellt hatte. Dabei wird mit der Erwähnung des Postmodernen hier vor allem ein Aspekt des ,Essayistischen‘ eingeholt, den schon Georg Lukács beobachtet, wenn er schreibt: „Tatsächlich werden im Essayisten seine Maße des Richtens erschaffen, doch ist er es nicht, der sie zum Leben und zur Tat erweckt: es ist der große Wertbestimmer der Ästhetik, der immer Kommende, der noch nie Angelangte.“67 ,Der Essay‘ predigt immer das Kommende, doch mit dessen tatsächlicher Ankunft wäre er überflüssig geworden. Er ist daher, wie Lukács sich ausdrückt, „der reine Typus des Vorläufers“.68 Auch Gerhard Haas betont diesen Aspekt übereinstimmend. So sei jede Form des Essays „Vorform“ in dem Sinn, dass ein formales Ruhen im Vollendeten niemals erreichbar sein kann.69 Claire de Obaldia bemüht in diesem Zusammenhang den Begriff der „not yet literature“70, den sie von Alistair Fowlers Konzept der „literature in potentia“71 herleitet. Obaldia bezieht sich in erster Linie auf die Tatsache, dass das ,Essayistische‘ gewissermaßen einen Bodensatz ideeller und stilistischer Art bildet, von dem ausgehend sich literarische Werke entwickeln. In jenem ,not-yet‘, das den essayistischen Ausdruck charakterisiert, schwingen die Aspekte der Möglichkeit als Mutmaßung und Potenz mit: Einerseits stellt ein/e Essayist/in eigene Aussagen immer unter einen Vorbehalt, tätigt sie also nicht apodiktisch, sondern belässt sie im Bereich eines lediglich möglicherweise Richtigen. Andererseits geht es auch darum, die Aussage durch die Fülle weiterer denkbarer Möglichkeiten zu erweitern. Gerhard Haas prägt für das ,Essayistische‘ daher den Begriff der „Möglichkeitsaussage“, die er als „Kern alles essayistischen Denkens und Produzierens“ bezeichnet.72 Montaigne und seine Nachfolger seien Autoren des Wiedergelesenwerdens, weil bei ihnen im Hintergrund des Gesagten das Ungesagte oder halb Gesagte mitschwinge, das weitere Möglichkeiten offenhalte. Insofern ist das ,Essayistische‘ eine Operation, die Sensibilitäten für dieses Nicht- oder Halbgesagte entwickelt – eine Empfindsamkeit, die sich mit einem zentralen Paradigma des Poststrukturalismus deckt. Die essayistische „Möglichkeitsaussage“ vereint, genau genommen, diese beiden eben geschilderten und einander widersprechenden Aspekte: einerseits die radikale Skepsis, die sich zuweilen dem Vorwurf eines „Erkenntnisnihilismus“73 aussetzt, und andererseits das Streben nach einer „intensiveren Wahrheit“: Obaldia spricht angesichts der Abkehr von rein mimetischen Verfahren und der Hinwendung zur Imagination von einer Wahrnehmung des „Potenzials“ der Realität und einer „more intense perception of truth“.74 Diese Formulierung leitet sie von William Hazlitt ab, nach dessen Wort ein Essayist die „Essenz“ seines Gegenstandes zum Leben erwecken müsse, „in a way that yields a more intense sense of truth than would a simple description“.75 Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen und bildet meiner Ansicht nach jene Aporie, die für die paradoxe Grundstruktur des Essayistischen, sowie für die Oszillationen des Geistes zwischen Tragik und Ironie ausschlaggebend ist. Nun ließe sich die Formulierung von Aporien als postmoderner Modus beschreiben, genauso wäre es jedoch möglich, im Streben nach intensiveren metaphysischen Wahrheiten jene „Nostalgie“ zu erkennen, mit der Lyotard die Moderne kennzeichnet.76 Der Begriff der Postmoderne ist so unklar und vielfältig, dass man eher spielerischen Umgang damit pflegen sollte. Brian McHale bringt dies auf die anschauliche Formulierung: „The literary historian as a performance-artist, rather than as policeman.“77 Da sich freilich nur schwer mit einem solchen Begriff arbeiten lässt, will ich ihn hier auch nicht extensiv bemühen. Als Geisteshaltung scheint das ,Essayistische‘ jedoch mit der Vorstellung einer Postmoderne zumindest eng verwandt: Es entspricht einer Sensibilität für das Differente, Abwesende, Vergessene oder gesellschaftlich Verdrängte, das strategisch durch einen Modus der Möglichkeitsaussagen eingeholt werden soll. Damit werden Formen der Legitimierung des Wissens erkundet und angewandt, die jenseits metaphysischer und wissenschaftlicher Systeme liegen.

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