Читать книгу Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático - Veit Lindner - Страница 11
1.5 Über den wissenschaftlichen Umgang mit dem ,Essayistischen‘
ОглавлениеIm Hinblick auf die Problematik des wissenschaftlichen Umgangs mit dem ,Essayistischen‘ sind die Erfahrungen mit einem ,Performance-Begriff‘ wie dem der Postmoderne wertvoll: Das ,Essayistische‘, hatte Obaldia geschrieben, sei ein „writing before the genre, before genericness“. Dies entspricht einer der prägenden Erfahrungen aus dem Feld der Postmoderne: Sie berührt nicht nur eine Gattungsproblematik, sondern hat auch Konsequenzen, wenn es um die generelle Möglichkeit eines literaturwissenschaftlichen Zugriffs auf das ,Essayistische‘ geht. In dem Sinn, in dem Lytotard die Postmoderne als der Moderne ,vorausgehend‘ lokalisiert, bilden Regeln und Kategorien keine präskriptiven Werte für die Konstruktion von Essays; diese sind vielmehr Objekt ihrer andauernden Suche. Die Metapher des Schreibens als (Um)Weg entfaltet ihre Wirksamkeit im Kontext des postmodernen Verständnisses der ,Suche‘. Ihre Bedeutung liegt in einem ,quest for knowledge‘99 selbst. Postmoderne Schriftsteller arbeiteten, so Lyotard, „um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird“.100 Daher hätten diese Texte den Charakter eines Ereignisses; das heißt, für den Autor kommen die Regeln immer zu spät, beginnt ihr Werk immer zu früh. Es könne daher auch nicht nach fester Maßgabe beurteilt werden.101 Dieser Umstand macht eine ausschließlich literaturwissenschaftliche Herangehensweise umso schwieriger, und die Frage, ob sie überhaupt möglich ist, muss für mich in letzter Konsequenz zwingend offenbleiben. Die Diskussion darüber ist kein ketzerisches Störfeuer unakademischer Geister, sondern integraler Bestandteil einer ernsthaften wissenschaftlichen Beschäftigung mit Essays. Gerade in diesem Punkt kann und darf wissenschaftliche Erkenntnis nicht im Versuch bestehen, einen ,Schlussstrich‘ zu ziehen. Das heißt, wenn Literaturwissenschaft das Phänomen ,Essay‘ wirklich beschreiben will, kann sie dies nur mittels einer kritischen Beschäftigung mit ihrem eigenen Diskurs tun. Das ,Essayistische‘ ist in seiner Regellosigkeit vor allem textliches Ereignis: In dem Augenblick, in dem feste Beurteilungskriterien für die Texte angesetzt werden, ist das Ereignis schon vorüber. Studien, die ausschließlich versuchen, metasprachlich über einen Untersuchungsgegenstand zu verfügen, die eine solche Sprache ständig unterläuft, aber auch den Dialog mit ihr sucht, gehen am vielleicht ,wesentlichsten Punkt‘ des ,Essayistischen‘ schlicht und einfach vorbei. Mit den Worten Derridas: „Die Analyse von Mehrdeutigkeit, Heterogenität oder Instabilität entzieht sich per definitionem jeder endgültigen Schlussfolgerung und jeder erschöpfenden Formalisierung.“102 Das ,Essayistische‘ muss in seiner ,Bewegung‘ betrachtet werden, und dies lässt sich nicht nur anhand dynamischer Beschreibungsmittel bewerkstelligen, sondern es muss auch selbst in gewissem Umfang performativ sein, das heißt, es muss die Bewegung seines Gegenstands in seine eigene Methodik mit aufnehmen, sie in gewissem Maße spiegeln. Wolfgang Müller-Funk schreibt gar: „Es würde dem Thema widersprechen, wollte man es global ,bewältigen‘: eine Theorie des Essayismus will essayistisch vorgetragen sein, zwischen Erzählung und Abstraktion hin- und herpendelnd, ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Umkreisung, Abwägung, Versuch, Mosaik, Fragment.“103 Dem schließe ich mich zumindest teilweise an. Eine Theorie des ,Essayistischen‘ darf freilich kein Essay sein, muss aber auf gewisse Elemente des Essayistischen zurückgreifen und sie in den wissenschaftlichen Diskurs integrieren. Für eine theoretische Annäherung an das ,Essayistische‘ halte ich daher vor allem Theorien für hilfreich, die sich im Umfeld des Poststrukturalismus oder, weiter gefasst, der ,Tel-Quel-Gruppe‘ bewegen. Sie besitzen häufig selbst jenen Ereignischarakter und reflektieren ihr ,Ereignis‘ metadiskursiv mit. Dabei entwerfen sie ein großes Repertoire von Beschreibungsmitteln für Texte, die in ähnlicher Weise performativ funktionieren: Essays.
Die Bildung eines Textkorpus stellte ein spezifisches Problem für meine Arbeit dar, und die Frage, ob und auf welche Weise sich bestimmte Texte im Licht eines ,Essayistischen‘ als performativer ,Praxis‘ betrachten lassen, wirft im Grunde erneut die Frage nach Subordination und genereller Kategorisierung auf. Gerade die hatte man jedoch vermeiden wollen. Es mag vielleicht verwundern, dass die Wahl mit María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático ausgerechnet auf Texte gefallen ist, deren Bezeichnung als ,Essays‘ nicht vollkommen unstrittig sein mag – oder wenigstens unerwartet. Sie entbehren vielleicht eines Exemplarischen im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand; zumindest wenn wir darunter das Vorhandensein einer möglichst breiten Schnittmenge an Textmerkmalen verstehen, die sich insgesamt für das ,Essayistische‘ ermitteln ließen. Darüber hinaus nehmen sie innerhalb des Œuvre der beiden Autoren eine gesonderte Stellung ein.104 Doch essayistische Texte verweigern ohnehin jeden Charakter des Exemplarischen. Vielmehr, denke ich, sind sie innerhalb von Strukturen zu betrachten, die Walter Benjamin als „Konstellationen“ beschreibt: „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene und in keiner Weise können diese Phänomene Kriterien für den Bestand der Ideen sein. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen.“105 Übertragen auf den Kontext dieser Studie, heißt das: Es kann nicht darum gehen das ,Essayistische‘ zu bestimmen, um davon ausgehend abzuleiten, nach welchen Gesetzen essayistische Texte funktionieren. Auch können die Einzeltexte als Phänomene nicht Zeugnis für die Existenz des ,Essayistischen‘ ablegen. Die Phänomene, schreibt Benjamin, bestimmten durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen die Begriffe, mit denen sie erfasst werden können. In diesen Begriffen besteht ihre Bedeutung für die Idee. Umgekehrt erscheint die Idee bei Benjamin als Interpretation der Phänomene und ihrer Elemente, die erst durch ebendie Idee – wie die Sterne in den Sternbildern – ihre Zusammengehörigkeit erhalten. Essays und das ,Essayistische‘ können also nur gemeinsam untersucht werden. Letzteres kann nur in Konstellationen aus Einzeltexten erscheinen, und die Frage wäre also, wie sich ein Sternbild seine Sterne ,aussucht‘. Ein einzelner Stern kann dabei kaum als exemplarisch oder besonders typisch für das Sternbild gelten. Die Idee, sagt Benjamin, ist zwar das Allgemeine, aber nicht das Durchschnittliche. Ein Stern erhält seine Bedeutung für das Sternbild vielmehr aufgrund seiner einzigartigen Lage als Extrempunkt innerhalb der Konstellation. Das heißt, auf den Kontext übertragen: Wenn Einzeltexte ihre Bedeutung für das Essayistische aufgrund der Begriffe besitzen, die sich aus ihnen bilden lassen, so müssen es Texte sein, in denen diese Begriffe in aller Deutlichkeit und in extremer Weise zum Vorschein kommen.106 Eine Analyse die sich im Rahmen einer Konstellation bewegt, muss versuchen, Elemente der Einzeltexte begrifflich herauszulösen und in einen Zusammenhang zu bringen: „Als Gestaltung des Zusammenhangs, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben.“107
Mit Claros del bosque und El mono gramático stützt sich meine Auswahl auf eine gewissermaßen reduktionistische Bestimmung des ,Essayistischen‘, die außer ihrer Eleganz noch einen weiteren Vorteil besitzt; sie markiert auch einen Extrempunkt des ,Essayistischen‘: Birgit Nübel beschreibt ein ,Essayistisches‘ nach Lukács, Bloch und Benjamin als intellektuelles Gedicht, Denkbild oder Gedankenerzählung, die ihren Charakter durch die Kombination von poetischen (bildhaft-narrativen) und argumentativen (diskursiv-reflexiven) Mustern erhält. Deren Verbindung beruhe jedoch nicht auf Kausalität und logischer Deduktion, sondern erfolge auf assoziative, sprunghafte Weise.108 Extrem ist die Textauswahl in mehrfacher Hinsicht: Erstens, weil hier María Zambrano und Octavio Paz die Polarität des Poetischen und des Argumentativen thematisch verarbeiten; zweitens, weil die fraglichen Texte auch auf einer operationalen Ebene diese Thematik performativ verarbeiten; und drittens, weil sie dies auf extreme Weise tun. Beide Texte reflektieren die Spannung poetischer und diskursiver Elemente in äußerster Intensität. Zwischen diesen beiden entsteht damit ein erweiterter Raum, in dem (wie in Platons Großbuchstaben) hervortritt, was sich in seinem Inneren abspielt. Denn das ,Essayistische‘ als „(Such-)Bewegung zwischen verschiedenen Punkten“109 bleibt im Ungefähren, solange der Zwischenraum lediglich als ,sprunghafte Assoziation‘ gekennzeichnet ist. Wenn es darum gehen soll, analytisch an den Operationsmodus der ,essayistischen Praxis‘ heranzukommen, dürfen solche Zwischenräume nicht einfach als Leerstelle ,übersprungen‘ werden. Wie genau werden durch den Sprung zwischen Poetischem und Argumentativem assoziative Querverbindungen gebildet, und welche Rolle spielt diese Bewegung innerhalb der problematischen Suche nach Sinn und Bedeutung, Ganzheit und Totalität? Diese Fragen halte ich für die drängendsten für die wissenschaftliche Arbeit am essayistischen Schreiben.
Einer Untersuchung innerhalb einer Konstellation ist jedoch nicht damit Genüge getan, Begriffe zu isolieren. Nach Benjamin ist die Idee nur als „Gestaltung des Zusammenhanges umschrieben“.110Die Elemente der beiden Texte von Zambrano und Paz sollen daher in solch einen gestalterischen Zusammenhang mit begleitenden Theoriebeiträgen gebracht werden. Lektüren von Jacques Lacan und Julia Kristeva, Jacques Derrida, Helène Cixous, J.-F. Lyotard, Michel Foucault, aber auch Martin Heidegger und weitere Texte von Zambrano und Paz sind Teil der Konstellation, mit der das ,Essayistische‘ zu umschreiben ist. Was sie verbindet, erscheint dabei immer wieder bildlich über die Metaphern des Wegs, der Lichtung und des Horizonts, die die Begriffe aufnehmen und stützen.
Die ,Konstellation‘ ist nicht als wissenschaftlich exakter Begriff belastbar, sondern selbst nur bildlich zu verstehen. Der Versuch einer Identifizierung ist, wie bei allen metaphorischen Darstellungen, hochproblematisch. Daher wird eine Identifizierung des Sternbilds in diesem Fall mit einer Idee des ,Essayistischen‘ früher oder später unweigerlich zu Widersprüchen führen. So lässt sich beispielsweise die Frage einer Varianz von Ideen allenfalls durch die Vorstellung einer Konstellation aus Konstellationen klären. Ebenso ließe sich aber das ,Essayistische‘ mit Derrida als die Idee des totalen Bekenntnisses und des „Alles-versammeln-Wollens‘ bestimmen, die in unterschiedlichen, wandelbaren essayistischen Konstellationen erscheint. Eine weitere Möglichkeit wäre – und sie scheint mir im Kontext dieser Arbeit nicht die schlechteste –, das ,Essayistische‘ als Praxis zu sehen, die an der Konstellationenbildung selbst teilhat; eine Kraft, welche die Sternbilder durch die Verbindung von Elementen erkennt – oder überhaupt erst gedanklich erzeugt und sich damit ebenso die Idee seiner selbst erschafft.111 All diese Vorstellungen besitzen Gültigkeit; die Konstellation bleibt als Metapher nur einem approximativ-intuitiven Verstehen zugänglich. Darin liegen zugleich ihre Schwäche und ihre Kraft.