Читать книгу Elfenzeit 4: Eislava - Verena Themsen, Uschi Zietsch - Страница 11
3.
Weltenschatten
Оглавление»David, nein!«
Die Köpfe der Wasserwesen fuhren herum, tiefschwarze Augen begegneten Davids Blick, während er vorstürmte, und als seien sie eine Einheit, hob jedes der Wesen gleichzeitig die freie Hand in seine Richtung. Im nächsten Moment traf David eine Strömung, die ihn mit sich fortriss, weg von Rian, und gegen eine Wand schleuderte. Schmerzhaft stachen die kleinen Unregelmäßigkeiten der Felswand in seinen Rücken, und der Langdolch entglitt ihm. Hilflos in der Strömung gefangen hing er an der Wand, kaum fähig, seine Finger zu bewegen oder unter dem Druck gegen seine Brust zu atmen.
Neun Speere hoben sich.
»Nein! Aufhören!«
Rians Stimme klang verzerrt, doch sie erhob sich sogar über das Rauschen des Wassers in Davids Ohren. Die Wesen zögerten, tauschten Blicke untereinander aus. Dann, mit ebensolcher Gleichzeitigkeit wie die vorherige Bewegung, senkten sie ihre Hände wieder. Die Strömung verschwand, und David sank langsam am rauen Stein entlang zu Boden. Erst jetzt spürte er all die kleinen Blessuren, die er schon auf dem Weg hierher davongetragen hatte. Zusammen mit dem Muskelschmerz, der wohl mindestens ebenso sehr von der Unterkühlung rührte wie von der Anstrengung, fühlte sich David so zerschlagen, dass er am liebsten liegengeblieben wäre, um etwas zu schlafen.
Er rappelte sich hoch und bückte sich nach seinem Dolch. Niemand hinderte ihn daran, die Waffe aufzunehmen, obwohl die Bewohner dieser Unterwasserburg ihn mit misstrauischen Blick musterten. Langsam richtete er sich wieder auf, wog die Waffe kurz in seiner Hand und steckte sie dann zurück.
»Was passiert hier, Rian?«, fragte er, ohne die Schuppigen aus den Augen zu lassen.
Seine Schwester hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste, ob gegenüber ihm oder den Wasserwesen, war nicht ersichtlich.
»Sie brauchen Hilfe, David«, erklärte sie. »Was genau los ist, weiß ich auch noch nicht, aber es scheint sehr ernst zu sein.«
David schnaubte. Auf einmal schlug all seine Sorge in Wut um. »Crain braucht unsere Hilfe. Unsere ganze Welt braucht sie! Nebenbei schützen wir die Menschheit vor Bandorchu. Meinst du nicht, damit haben wir genug Probleme am Hals?«
»David!«
»Rian, diese Leute haben dich entführt! Das ist in meinen Augen nicht die Art, wie man sich des Wohlwollens und der Hilfe anderer versichert!«
»Sie haben Angst!«
»Und ich? Glaubst du, ich hatte keine Angst?« Er brüllte, und er sah, wie Rian ebenso wie die Wesen zusammenzuckte. Es ernüchterte ihn, und er strich sich mit einer Hand durch das Haar und schüttelte den Kopf.
»Entschuldige, Rian. Ich wollte nicht mit dir streiten.«
»Sondern mit ihnen, ich weiß«, antwortete sie mit einem schiefen Lächeln, das den verletzten Blick jedoch nur schwach kaschieren konnte.
Warum scheint es, dass ich die, die mir am nächsten stehen, am meisten verletze?
Wieder spürte er das leise Ziehen in seiner Brust. Eine Seele. Für was konnte so eine Seele schon gut sein? Früher hatte er sich nie Gedanken über andere gemacht. Seine Gefühle, sein Wohlbefinden waren alles gewesen, was gezählt hatte. Er hatte in den Tag hinein gelebt, zu seinem eigenen Vergnügen, und nichts anderes hatte man von ihm erwartet. Selbst auf Rian hatte er keine besondere Rücksicht genommen. Aber jetzt … die Zeiten, da er sich um nichts Sorgen gemacht und für nichts Verantwortung übernommen hatte, waren vorbei. Denn Nadja und sein Kind brauchten ihn. Könnte er das, was schon gewachsen war, überhaupt wieder herausreißen?
Er seufzte und sah zu den Wasserleuten. »Also gut. Was für ein Problem gibt es, und warum glaubt ihr, dass wir euch helfen können?«
David sah sich aufmerksam in dem neuen Raum um, in den ihre Gastgeber sie geführt hatten. Er lag ein gutes Stück weiter innen in dem verschlungenen System von Tunneln und Hohlräumen, das dieses Volk im porösen Fels erschaffen hatte. Während die Ankunftshöhle völlig kahl gewesen war, verzierten in dieser lange Tangwedel die Wände, und in Muster geflochtene Netze hingen von der Decke. Einige davon trugen Schalen mit leuchtenden Pflanzen, andere fungierten als Sitzgelegenheiten, in denen David, Rian und zwei der Wesen jetzt saßen. Glimmereinschlüsse in den Felsen rings herum brachen das Licht der Pflanzen und streuten buntschimmernde Strahlen in den ganzen Saal.
Am hinteren Ende des Raums erkannte David ein breit ausgespanntes Geflecht, in dem ein weiteres der Wesen ruhte. Es war fast doppelt so groß wie die anderen, und deutlich runder, fast schon aufgequollen. Schlierige Schatten, die nicht vom Zwielicht des Raumes herrühren konnten, waberten wie treibende Schleier um den Körper herum.
»Wir sind Nöck-Nareva«, begann einer der beiden Wassermänner, die bei ihnen saßen. »Und dort vorn liegt unserer aller Mutter, Nareva. Wir fürchten, sie wird sterben.«
»Und wenn Nareva stirbt, stirbt Nöck-Nareva«, fuhr der andere nahtlos fort.
Erneut sah David zu der Nöck-Schwarmmutter. Waren die Schatten, die sie umschwebten, ein Auswuchs ihres schlechten Zustands?
»Ist sie krank?«, fragte er.
Die beiden schüttelten den Kopf.
»Etwas hat sie befallen, das nicht von hier ist«, sagte der Erste.
»Wir denken, es kommt aus dem Totenland«, fuhr der andere fort, und der Erste setzte hinzu:
»Und du trägst einen Hauch desselben Todesschattens.«
Erstaunt sah David zu den Nöcks, doch sie schauten Rian an, nicht ihn. Mit einem Ruck drehte er den Kopf zu seiner Schwester, und sie zuckte die Achseln. Was die Nöcks gesagt hatten, schien Rian nicht zu erstaunen.
»Die anderen haben mir vorhin schon etwas Ähnliches gesagt«, erklärte die Elfe. »Nach dem Durchgang haben sie kurz angehalten, um mir zu erklären, dass sie meine Hilfe bräuchten. Sie meinten, sie hätten mich ausgesucht, weil ich die Ausstrahlung Annuyns noch an mir tragen würde, und dass das Überleben ihres ganzen Volkes davon abhinge. Darum wollte ich es zumindest versuchen. Immerhin sind sie genauso Teil von Earrach wie die Sidhe Crain. Als Kinder Fanmórs gehört es darum meiner Meinung nach zu unseren Pflichten, sie zu schützen, wenn wir es können.«
David nickte. »Natürlich.«
»Nareva wird schnell schwächer«, meldete sich wieder einer der Nöcks. »Ihre Kräfte sind fast aufgebraucht. Verzeiht, dass wir so unvermittelt vorgegangen sind, aber …«
»… wir fürchten, dass der Schatten sie jeden Moment ins Totenreich ziehen könnte.«
»Und wenn Nareva stirbt, stirbt Nöck-Nareva. Wir haben Angst.«
»Das sagtet ihr bereits, und ich verzeihe euch. Also vergessen wir den Teil.« David erhob sich aus dem Sitznetz. »Ich denke, wir sollten uns näher ansehen, was wir für Nareva tun können, oder, Rian?«
Rian nickte und stand ebenfalls auf. Die beiden Nöcks stießen Luftblasen aus, in denen sich das schimmernde Licht fing, warfen ihre Arme hoch und und stießen sich dann direkt zum Lager ihrer Mutter ab. David und Rian folgten ihnen mit langsameren Schwimmbewegungen.
Je näher sie dem Lager Narevas kamen, desto klarer spürte David, dass dort etwas verkehrt war. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass bei den beiden vor ihnen schwimmenden Nöcks an einigen Körperstellen die Schuppen matt und fleckig wirkten. An anderen hatten sie sich sogar gelöst, sodass die dünne weiße Haut durchschimmerte, unter der die Adern dunkles Blut trugen. War es das, was sie gemeint hatten, als sie sagten, mit Nareva würden auch die Nöck-Nareva sterben? Waren sie alle krank? Die Haut der Schwarmmutter wirkte matt und fleckig unter den schwarzen Schleiern, selbst aus der Entfernung. Ihr Zustand schien sich tatsächlich direkt auf den ihrer Kinder auszuwirken.
Rian verharrte plötzlich.
»Was ist los, Schwester?«, fragte David mit gedämpfter Stimme.
»Ich spüre es. Den Schatten von Annuyn«, antwortete sie. »Sie haben Recht. Etwas von dort ist hier. Es ist … kalt. Formlos. Und es giert nach dem Leben, ohne sich zu erinnern, was es überhaupt ist.«
David sah zu Nareva. Die schwarzen Schlieren, die sie umgaben, waberten in ihre Richtung, wie ausgreifende Finger. Die Nöcks hatten Recht gehabt mit ihrer Vermutung. Hastig ergriff er Rians Hände.
»Ich bin bei dir. Ich lasse nicht zu, dass du noch einmal durch das Tor gehst.«
»Aber das muss ich vielleicht, um Nareva zu retten«, flüsterte sie. »Um einen Todesschatten zurückzubringen, muss das Tor nach Annuyn geöffnet werden – und ich habe noch genug Verbindung, um das tun zu können. Sobald es offen ist, muss jemand den Schatten hinüberbringen.«
David zog Rian an sich. »Dann lassen wir es. Sagen wir ihnen, dass es nicht geht, und ziehen weiter.«
Rian schüttelte den Kopf. »Nein. Es muss einen Grund haben, warum ich hier bin. Auf dieser Reise geschieht nichts zufällig.«
David wurde nachdenklich. »Jemand muss den Schatten hierher gerufen haben, und sobald er sein Werk hier verrichtet hat, wird er sich das nächste Ziel vornehmen. Das müssen wir verhindern, ich stimme zu. Aber wie sollen wir herausfinden, wer den Schatten gerufen hat?«
»Ich werde den Schatten zu mir ziehen, ehe ich ihn durch das Tor bringe. In dieser Zeit kann ich auf seine Erinnerungen zugreifen.«
David musterte seine Schwester. »Es könnte gelingen«, gab er zögernd zu. »Aber fühlst du dich stark genug dafür?«
»Du musst mich halten, David, über unser Band. Unser Band muss stark genug dafür sein. Das ist es doch, oder?«
Wieder stand dieser Zweifel im Raum, diese Angst, dass ihre besondere Verbindung Schaden genommen haben könnte. Der Beweis, dass sie verändert war, war durch Davids Überleben bei Rians Tod gegeben … aber war sie dabei geschwächt worden?
»Es ist stärker denn je«, antwortete David.
Sie lächelte ihn an und nickte dann in Richtung der Schwarmmutter, wo die Nöcks geduldig warteten. »Dann sollten wir ans Werk gehen.«
Die schwarzen Schleier umflorten Rian, als wollten sie sie liebkosen. Mit geschlossenen Augen saß die Elfe im Netz neben der Schwarmmutter und streckte die Hände nach ihr aus. David stand hinter ihr, beobachtete jede ihrer Bewegungen und öffnete sich jeder Empfindung, die er von Rian empfing.
Vorsichtig näherten sich Rians Hände der fleckigen Schuppenhaut. Sie war gelassen, und David spürte ruhige Gewissheit in ihr.
»Ich spüre es«, flüsterte Rian. »Es ist verwirrt. Alles, was es weiß, ist, dass die Lebenswärme es anzieht. Es versucht, über die Schwarmmutter wieder zu leben. Aber das geht nicht. Es kann keinen fremden Körper übernehmen. Nicht so.«
Seltsam, dachte David. Warum sollte jemand einen Schatten aus Annuyn holen und dann ohne Auftrag loslassen? Er sprach seine Gedanken nicht aus, weil er Rians Konzentration nicht unterbrechen wollte. Außerdem vermutete er, dass sie dieselben Gedanken verfolgte wie er. Vielleicht hat derjenige, der den Schatten geholt hat, die Kontrolle über ihn verloren? Vielleicht war es sogar die Schwarmmutter selbst?
Aber nein. Wesen wie die Nöcks beschäftigten sich nicht mit der Nekromantie, und nur diese konnte den Zugriff auf Elfenschatten ermöglichen.
Rians Hände glitten über den massigen Körper der Nöckmutter. Sie tastete die Stellen ab, an denen der Schatten sichtbar daraus hervordrang, und David sah Gänsehaut über ihre Arme laufen. Dennoch zuckte sie nicht zurück, sondern lehnte sich vor und breitete ihre Arme aus, um so viel vom Körper der Nöckmutter zu umfassen wie möglich.
»Jetzt«, sagte sie.
David trat dicht zu ihr und legte seine Arme um Rian, ehe er die Augen schloss und sich auf das Band zwischen ihnen konzentrierte. Er spürte ihre unterdrückte Angst, aber auch Neugier. Sie wollte wissen, woher der Schatten kam, und ob sie das erreichen konnte, was sie sich vorgenommen hatte.
Ich halte dich, Rian, dachte er konzentriert. Ich lasse dich nicht noch einmal gehen.
Rian bewegte sich nicht mehr, und er spürte Kälte über sie kriechen. Langsam hoben sich die feinen Härchen an ihren Armen, die Schauer krochen weiter über ihren Körper, während sie immer heftiger zu zittern begann. Davids Arme prickelten von der Kälte, die sich auf ihn übertrug, und unter anderen Umständen wäre er versucht gewesen, loszulassen. So aber zog er sie enger an sich, mit seinen Armen und über das geistige Band zwischen ihnen. Er spürte auch darin die Kälte. Sie berührte Rians Geist und versuchte, ihn zu lähmen. Doch die Prinzessin zog sich zurück, kapselte sich ein gegenüber dem Schatten und blieb nur dort offen, wo sie mit David verbunden war. Langsam ging das Beben in eine Starre über, und der Prinz spürte, wie sie das Leben in ihrem Körper bewusst immer weiter eindämmte und zugleich mit der Kraft, die er ihr gab, den Schatten an der Oberfläche ihres Geistes hielt.
Überraschtes Murmeln und Gurgeln klang auf, und David öffnete die Augen. Was er sah, ließ Erinnerungen auf ihn einstürzen, die ihn lähmten. Ein goldenes Wabern hing neben Rian und der Schwarmmutter in der Luft. Er hatte dieses Leuchten schon einmal gesehen. Nicht mit den Augen, nein … seine Augen waren vor Erschöpfung geschlossen gewesen. Doch sein eigener Schatten war davon angezogen worden, und er verspürte den Sog auch jetzt. Er spürte hinter dem goldenen Leuchten, das immer mehr von seinem Blickfeld einnahm, die Verlockung des Loslassens, der Erlösung von allem, was ihm Sorgen machte.
Geh nach Annuyn, dorthin kann dir keine Seele folgen. Löse dich, lass dich forttreiben …
Ein warmes Pulsieren war in dem Licht zu sehen, ehe es sich auseinanderzog und den Blick in ein ebenmäßiges Grau frei gab, in dem es keine Fragen und keine Leiden mehr gab. Einfach nur Ruhe, und sich treiben lassen.
Gewaltsam riss David seinen Blick los und drehte den Kopf weg.
Rian!
Schlaff hing sie in seinen Armen, das Band zu ihr wirkte seltsam unwirklich, wie Stoff, der zu lange der Witterung ausgesetzt wurde. Er erkannte, dass er sich hatte ablenken lassen. Der Schatten wurde unaufhaltsam vom Tor angezogen und hatte sich halb aus Rian gelöst. Entweder klammerte er sich noch zu sehr an Rian fest, oder aber sie spürte den Sog des Leuchtens noch stärker als David, denn Rians Schatten löste sich ebenfalls.
»Rian!«, rief David laut. »Rian! Halt dich fest! Bleib hier! Bleib bei mir!«
Er griff nach ihr aus über das brüchige Band, versuchte, es mit seinem Geist wieder zu stärken, die Fäden nachzuweben und zu sichern. Rian öffnete die Augen, doch sie waren glasig und starrten in das Leuchten. David schob sich neben sie, ohne sie loszulassen, legte die Hand an ihr Kinn und zwang ihren Kopf zu sich herum. Ihr Widerstand war gering, aber spürbar. Er sah sie an, auch wenn es für ihn bedeutete, wieder auf das Leuchten zu sehen. Doch es interessierte ihn nicht mehr.
»Rian, sieh mich an«, forderte er. »Sieh mich an! Geh nicht!«
Sie sah ihn an, ohne ihn wahrzunehmen. Der fremde Geist hatte sich inzwischen fast gänzlich gelöst, und seine Schlieren hingen lang auseinandergezogen zwischen dem grauen Schimmern knapp über Rians Haut, das ihr Schatten war, und dem Grau Annuyns.
»Rian, du gehörst dort nicht hin«, rief David beschwörend. »Du gehörst hierher! Nach Earrach, nach Crain! Kämpfe dagegen an! Bleib bei mir! Du gehörst nicht zu Samhain, du gehörst zu mir!«
Das schwache Heben und Senken ihrer Brust war das einzige Zeichen, dass sie noch lebte. Dann blinzelte sie kurz und bewegte die Lippen. David lehnte sich vor.
»Tu ich das?«, flüsterte sie.
Ein noch dunklerer Schatten huschte jenseits des Tores vorbei, und als hätte etwas die schwarzen Fetzen gepackt und zöge daran, rasten die Reste durch das Loch hindurch. Kaum war die letzte Spur des fremden Geistes on Annuyn, stürzten die Ränder zusammen. Für einen Augenblick bildete sich ein grell aufleuchtender goldener Punkt, dann verschwand auch dieser.
Rian blinzelte erneut und runzelte die Stirn.
»David?« Sie klang erstaunt, als habe sie nicht erwartet, ihn zu sehen.
»Rian?«, gab David mit von Erleichterung genährter Belustigung zurück.
Sie versuchte, sich aufzusetzen. »Du kannst mich jetzt wieder loslassen«, bemerkte sie.
»Wenn du darauf bestehst …« David öffnete die Arme. Ihre Haut fühlte sich wieder warm und weich an. Keine Spur der Kälte war zurückgeblieben.
Jubelgeräusche brachen um sie herum aus, die Luft in Perlen aufsteigen ließ, glänzend durch das Licht der Pflanzen. Gurgeln und Pfeifen erfüllte die Luft, Töne, die von höchsten Höhen in tiefste Tiefen und wieder zurück schwankten. David sah auf die Schwarmmutter. Die Schlieren waren gänzlich verschwunden, und auch wenn ihr Körper noch immer Anzeichen der Schwächung aufwies, kam es ihm so vor, als würden die Schuppen bereits heilen.
»Wir danken euch!«, rief einer der Nöcks.
»Ihr habt uns geheilt!«, fiel ein anderer ein.
»Und wir werden unser Wort halten und euch weiter helfen«, ergänzte ein Dritter.
»Sobald ihr es wollt.«
David musterte Rian. »Wie geht es dir? Willst du dich ein wenig ausruhen?«
Sie schüttelte den Kopf, strich sich über das Haar und rückte ihre Jacke zurecht, die durch die Ereignisse etwas in Mitleidenschaft gezogen worden war. Mit Bedauern im Blick sah sie einigen Pailletten nach, die sich gelöst hatten. »Mir geht’s gut. Eigentlich möchte ich möglichst schnell ins Trockene und Warme.«
David nickte. »Bringt uns bitte zurück zu unserem Schiff und helft uns, so schnell und weit wie möglich nach Norden zu kommen.«
»Wir können euch ein ganzes Stück weit von der Tidenwelle tragen lassen. Wir verstärken sie in der Nacht, sodass sie euch den Fluss hinaufträgt.«
David hatte den Überblick verloren, welcher Nöck wann was sagte, und wann ihre Sätze ineinander übergingen. In Wirklichkeit, das wurde ihm klar, sprach ohnehin die ganze Zeit nur eine – Nöck-Nareva.
»Wir möchten euch aber noch etwas schenken.« Die Schwarmkönigin streckte eine Hand aus, und eine durchsichtige Kugel schwebte auf sie zu, die nur dadurch zu sehen war, weil sie das Licht in der Bewegung anders brach. Die Nareva nahm die Kugel in beide Hände. Langsam schrumpfte sie und wurde dabei milchig. Die Hände berührten sich, doch die Nareva führte die Handflächen weiter zueinander. Als sie die Hände wieder öffnete, lag eine Perle von perfekter Form darin. Sie reichte sie Rian.
»Diese Perle ist Wasser, wie ihr es von hier kennt, Wasser, in dem ihr atmen könnt und das euch Schutz geben wird, gegen viele Dinge. Es soll der Dank sein für das, was ihr getan habt.«
Rian nahm die Perle entgegen und betrachtete sie staunend. Sie war glatt und schimmerte in herrlichem Perlmutt. Die Elfe sah die Schwarmkönigin an und nickte mit einem Lächeln. »Die Schuld ist beglichen.«
Die Nöcks verneigten sich vor den Zwillingen. »Wir danken euch!«
Die Tidenwelle trieb sie schneller voran als der schwache Nachtwind es vermocht hatte. Es war eine Welle der Anderswelt, die in beiden Welten ihre Wirkung hatte und sie auch über diejenigen Flüsse nach Norden trieb, die in der Welt der Menschen lagen. »Hütet euch vor den Trollen«, hatte die Schwarmkönigin zum Abschluss gewarnt. »Sie sind immer noch unter den Menschen des Nordens aktiv, manchmal im guten, manchmal im schlechten Sinne. Sie kennen keine Treue und Regeln interessieren sie nicht. Sie nutzen die Macht der Tidenwelle.«
»Trolle sind vermutlich unser geringstes Problem«, meinte David, während er zu den Sternen aufsah und abzuschätzen versuchte, wie weit sie noch nach Norden mussten. »Irgendwo treibt der Getreue sein Unwesen, und er hat viele Helfer. Und wenn bereits die Schatten Annuyns in der Anderswelt auftreten, dann ist womöglich jetzt schon mehr im Argen als wir erhofft hatten. Hast du etwas darüber herausgefunden, wer den Schatten geholt hatte?«
»Ja, das habe ich.«
»Und? Hat es etwas mit dem Getreuen zu tun? Hat er Verbündete in der Anderswelt, die jetzt sogar die Toten für ihre Zwecke nutzen wollen?«
»Nein«, antwortete Rian. »Der Schatten ist nicht geholt worden. Er ist in unsere Welt gefallen.«
Davids Mund wurde trocken. »Das heißt …«
Rian nickte. »Die Grenzen werden dünn. Mauern sind zu Schleiern geworden, und die Schleier reißen auf. Die Welten nähern sich, und wenn nichts geschieht, um es zu verhindern, stürzen sie irgendwann ineinander. Genau, wie Nicholas Abe es Nadja prophezeit hatte.«