Читать книгу Elfenzeit 4: Eislava - Verena Themsen, Uschi Zietsch - Страница 15
7.
In die Tiefe
ОглавлениеDer Draugr schlurfte auf seinen dürren, mit Pergamenthaut überzogenen und Stofffetzen behangenen Beinen auf Rian zu, die Finger nach ihr ausgestreckt, als wolle er sie packen. Unwillkürlich trat sie einen Schritt von der Glastür zurück auf die Terrasse. Auch Mats wich ein Stück, den Blick in einer Mischung aus Furcht und Faszination auf den Untoten gerichtet.
Es ist keine gute Idee, sich von einem Draugr verletzen zu lassen, hallten Mats Worte durch Rians Gedanken. Sie verbreiten Leichengift …
Die Elfe zog den kleinen Dolch, den sie mit sich führte; der einzige Kompromiss, den sie an Waffen machte. Im Gegensatz zu David hatte sie sich nie dafür begeistern können.
»Rian«, hörte sie in diesem Moment ihren Bruder rufen. »Du … was machst du hier?«
»Ich ziehe dich aus dem Mist, in den du dich mal wieder reingeritten hast«, antwortete sie. Erneut wich sie ein Stück nach hinten, die Klinge vor sich gehalten. »Aber es wäre nett, wenn du dich ein wenig beteiligen würdest.«
Der Draugr hatte die Glastür erreicht und stieß sie ganz auf, ehe er hindurchtrat. Von der Wucht seines Stoßes wurde die Tür über den Anschlag hinausgetrieben und verkantete sich in der Schiene. Mit einem Knacken entstand ein Riss quer über das Glas. Der Draugr trat über die Schwelle und blieb stehen. Sein Blick pendelte zwischen Rian und Mats, als könne er sich nicht entscheiden, wem er sich zuerst zuwenden sollte.
»Mats, wie tötet man einen Draugr?«, fragte Rian, während sie beide ein Stück weiter zum Rand der Terrasse zurückwichen.
»Das ist nicht sicher«, antwortete Mats mit vor Aufregung heiserer Stimme. Er hielt die Axt ähnlich abwehrend vor sich wie Rian den Dolch. »Angeblich muss man ihnen den Kopf abschlagen, ihn an ihr Gesäß legen und sie dann verbrennen. Ausprobiert habe ich das natürlich noch nicht.«
Rian riskierte einen Blick vorbei an dem Draugr. Die Frau hatte sich wieder aufgerichtet und musterte die Szene mit verkniffenem Gesicht. Nichts war mehr von der Schönheit zu erkennen, die Rian vorher im Gasthaus aufgefallen war. Die Augen glühten in hellem Schwefelgelb, ihr Gesicht wurde von einer großen Hakennase beherrscht, und das Haar hing ihr in filzigen Strähnen um das Gesicht. Wo die Bluse noch immer offen stand, konnte man unter faltiger grauer Haut ihre Rippen erkennen. Ihr Busen hing schlaff herunter und die breiten Hüften stachen knochig selbst durch den Stoff ihres engen Rockes hervor.
Ganz sicher nicht das Schönheitsideal, das David normalerweise verfolgt, schoss es Rian mit einer gewissen Schadenfreude durch den Kopf.
Ihr Bruder hatte die Lähmung anscheinend noch nicht ganz überwunden, die ihn erfasst hatte. Er hatte die Hand von seinem Kopf genommen, und Rian stellte erleichtert fest, dass er nicht verletzt war. Aber sein herumirrender Blick ließ vermuten, dass er noch immer Schwierigkeiten hatte, die Lage klar zu erfassen.
Der Untote verharrte weiterhin unschlüssig im Durchgang. Er hatte beide Hände erhoben, um auf sie und Mats zu zeigen, und sein Blick ging zwischen ihnen hindurch in die Nacht. Erst als sie das kurze Aufwallen starker Magie bemerkte, wurde Rian klar, dass er nicht etwa aus Unentschiedenheit zögerte.
Sie fuhr mit einem Warnschrei herum, doch sie sah nur noch einen schwarzen Brocken heranzischen, ehe etwas gegen ihren Kopf schlug und sie herumwarf. Schmerz explodierte in ihrem Schädel und ließ sie weiter taumeln. Der Dolch entglitt ihrer Hand, schlug klirrend auf der Terrasse auf, während Schwärze hinter ihren Augen aufstieg und ihre Knie nachgaben. Den harten Aufprall auf dem Stein spürte sie nicht mehr.
»Vorsicht!«
Der Aufschrei seiner Schwester riss David endgültig in die Gegenwart zurück. Mit einem Brüllen sprang er vor, doch ein anderer stand bereits zwischen Rian und dem sich auf sie zu schleppenden Draugr. Der alte Mann, der mit Rian gekommen war, hatte sich bei ihrem Ruf zur Seite geworfen, und ein ähnlicher Gesteinsbrocken hatte ihn daher lediglich am Oberarm gestreift. Hastig raffte er sich wieder auf und stand nun mit drohend erhobener Axt schützend vor Rians reglosem Körper. Den Draugr schien das nicht zu irritieren.
»Du wirst das Mädchen nicht retten können, Elf«, hörte David Birte mit schnarrender Stimme sagen. »Genausowenig wie dieser pathetische Alte da draußen. Mein Diener wird euch allen das Licht auslöschen.«
In diesem Moment ließ Mats seine Axt auf den ausgestreckten Arm des Draugr niedersausen, und wie zur Bestätigung von Birtes Worten prallte der Stahl einfach zurück. Die Waffe entglitt den Händen des Alten und flog in die Nacht hinaus, während er mühsam um sein Gleichgewicht kämpfte.
David fuhr zu Birte herum, sprang über den umgestürzten Sessel und packte sie. Ehe sie reagieren konnte riss er sie grob hoch und zog sie in seinen Würgegriff. Ihr Aufschrei erstickte in einem Gurgeln.
»Wenn du ihn nicht aufhältst, bringe ich dich um«, zischte David.
Befriedigt stellte er fest, dass Birtes Schrei den Draugr innehalten ließ. Langsam drehte der Untote sich um und heftete das rote Glühen seiner Augen auf David.
Der Elf drückte kurz fester zu. »Also?«
Birte kicherte. »Wenn du mich tötest, wird er erst recht über euch herfallen«, sagte sie. »Dann kann ihn nichts mehr aufhalten. Du solltest dir das gut überlegen.«
»Ich habe aber auch keinerlei Grund, dich am Leben zu lassen, wenn du nicht tust, was ich sage«, erwiderte David. »Und ich hätte gute Lust, mich dafür zu rächen, dass du mich in diese Falle gelockt hast.«
Der Draugr hatte sich auf die Glastür zu in Bewegung gesetzt. Offensichtlich betrachtete er nun David als die Hauptgefahr und hatte die anderen beiden vergessen. Der Alte hockte neben Rian und versuchte, sie zu sich zu bringen.
Mein Dolch, dachte David. Er ist im Mantel. Ich muss an ihn herankommen. Er gehört zu den Waffen, mit denen man auch Untote verletzen kann. Fieberhaft überlegte er, wie er an den Mantel gelangen konnte. Den alten Mann konnte er nicht schicken, der würde den Dolch nicht berühren können. Elfenwaffen wehrten sich gegen Sterbliche, außer, sie wurden für diese geschaffen. Rian war bewusstlos. Er musste selbst an die Garderobe gelangen.
Mit Birte fest im Griff bewegte sich David rückwärts um den umgestürzten Sessel herum, immer den Körper der Frau zwischen sich und dem Draugr. Das Wesen zögerte, doch da es keinen anderen Befehl bekam, folgte es ihnen. David bewegte sich in einem Bogen hinter der Couch herum, Richtung Tür. Er wollte den Draugr ausmanövrieren, doch die sich schlaff hängenlassende Birte behinderte ihn so sehr, dass er sich trotz Zögern nicht schneller bewegen konnte als der Untote.
»Greif ihn dir, Ole!«, kreischte die Frau plötzlich. »Kümmer dich nicht um mich! Reiß ihn in Stücke!«
David war versucht, ihr in diesem Moment mit einem schnellen Griff das dürre Genick zu brechen. Doch tot nutzte sie ihm weniger als lebendig, und so entschied er sich für das nächstbeste. Als der Draugr sich mit ausgestreckten Armen nach vorn stürzte, stieß er Birte in dessen Arme. Gleichzeitig packte er die Whiskyflasche und schleuderte sie auf den Draugr. Bei dem Aufprall an seinem Schädel öffnete sie sich, und der Inhalt ergoss sich über den Untoten. David hechtete gleichzeitig auf die Tür zu. Der Draugr stieß die kreischende Birte zur Seite. Der Prinz erreichte endlich seinen Mantel, riss den Dolch an sich und kehrte ins Zimmer zurück. Erleichtert sah er, dass Rian sich aufrichtete, wenngleich mit benommenem Blick. Er sprang an dem zupackenden Draugr vorbei und war mit zwei weiteren langen Sätzen auf der Terrasse, neben seiner Schwester. Der alte Mann suchte im Halbdunkel draußen nach seiner Axt.
Der Draugr streckte die Hände aus. Am Rand der Terrasse lösten sich Steine aus der Pflasterung und rasten auf die Elfen zu. Mit Schwung warfen sie sich beide jeweils zur Seite und rollten sich weg, während die Steine mit dumpfem Knall an der Hauswand auftrafen und die Scheiben der Glastüren durchschlugen. Noch am Boden kauernd sah David sich nach weiteren Geschossen um, doch es schien eine Atempause zu geben, während der Draugr durch die Türöffnung auf die Terrasse trat.
Erneut hob der Untote die Hände, und dieses Mal erhoben sich zusätzlich zu den Steinen und den Plastiktrümmern die Glasscherben. Alles sammelte sich in einem Wirbel um den Draugr, bis er ihn mit einer Handbewegung auf David steuerte. Doch dieses Mal war der Elf vorbereitet, er schwang seine Klinge in einem schnellen Wirbel vor sich, bis man nur noch einen schimmernden Kreis sehen konnte. Mit einem Wort der Macht gab er dem Klingenschild Gestalt und schickte ihn gegen den Wirbel.
Die Geschosse wurden entweder zurückgeworfen oder zersprangen in harmlose kleine Stücke. Scherben wurden auf den Leib des Toten geschleudert, ohne weiteren Schaden anzurichten, als dass seine whiskygetränkte Kleidung zerfetzt wurde. Der Mund des Unwesens öffnete sich zu einem stummen Schrei aus verwesten Stimmbändern, und die Augen fingen an, heller zu brennen.
Der Draugr trat in den Klingenschild, die Magie flackerte und löste sich dann auf. Er wollte einen weiteren Schritt gehen, doch eine dünne Ranke fiel zwischen seine Beine und schlug Wurzeln. Rians Werk! Die Ranke schlang sich um ihn und der Draugr kam ins Taumeln. Doch dann verging die Ranke in einem roten Aufflammen, glitzernde Asche blieb zurück. Aus dem Augenwinkel sah David, dass Rian erneut etwas warf – ein helles Geflecht, kaum sichtbar, das direkt vor dem Fuß des Draugr landete. Er trat darauf, und seine Augen verloren an Helligkeit.
Er müsste jetzt dem verschlungenen Pfad folgen, in den Rian ihr Haar gewoben hatte, bis zu seinem Ende, ohne zu erkennen, dass er sich in einem unsichtbaren Labyrinth befand. Das funktionierte bei den meisten Wesen. Für den Draugr aber war es vermutlich nur eine kurze Ablenkung, die David nicht ungenutzt verstreichen lassen würde. Immerhin hielt Birte sich aus dem Kampf heraus, sie vertraute wohl voll und ganz auf ihren untoten Helfer. Der Menschenmann kam gerade zurück, seine Pfeife glühte wie ein Punkt in der Dunkelheit auf, und Tabakdunst wehte ihm voraus. Der Kerl hatte die Ruhe weg, nicht zu fassen! Doch umso leichter für den Prinzen, sich auf den Kampf zu konzentrieren.
David hob seine grünlich pulsierende Klinge und stürmte vorwärts. Nur am Rande registrierte er, dass an ihm vorbei etwas auf den Toten zugeflogen kam, etwas Dunkles, Gebogenes, aus dem es rötlich leuchtete. Dann, im gleichen Moment, in dem Davids Schwert gegen den Hals des Untoten sauste, traf dieses Geschoss und verstreute glühenden Tabak über die Schulter des Draugr. Mit einem leisen Puff entzündete sich der Whisky.
Innerhalb von Sekunden war der Draugr von Flammen eingehüllt. Gleichzeitig biss Davids magische Klinge in den ausgetrockneten und von Verwesung zerfressenen Körper und trennte ohne spürbaren Widerstand Haut, Sehnen und Halswirbel durch. Noch während der Draugr die Hände hob, um auf die Flammen zu schlagen, flog sein Kopf als feurige Kugel durch die Luft, prallte auf der Terrasse auf und rollte noch einige Meter weiter bis zum Rand. Der Körper geriet aus dem Gleichgewicht und taumelte wie eine brennende Fackel hinterher.
Die Flammen zerfraßen den brüchigen Stoff der Kleidung, doch der eigentliche Körper darunter schien noch nicht in Mitleidenschaft gezogen. Das Feuer wurde weniger, statt sich immer weiter zu entzünden.
David fiel in einem Aufblitzen das wild pendelnde Amulett ins Auge, das noch immer um den Halsstumpf hing. Er duckte sich unter den wirbelnden Armen hindurch und riss die Kette mit einem kurzen Dolchstoß herunter. In einem weiten Bogen flog das Schmuckstück durch die Luft und fiel dann klingend zu Boden. Im selben Moment flammte das Feuer wieder auf und fraß sich zischend in den ausgetrockneten Kadaver. Zwei Schritte taumelte der Körper noch, dann stolperte er über den brennenden Kopf und stürzte.
Der Menschenmann kam mit der Axt herbei und schob mit der Scheide den Kopf zum Gesäß des Toten. »Nur um sicher zu sein«, sagte er. »Wer weiß schon, welche Details bei diesen Dingen wichtig sind und welche nicht.«
Eine Weile blieben sie alle drei stehen. Erst als das Feuer ausgebrannt und von dem Wesen nichts mehr als weiße Asche übrig war, die von Wind und Regen verstreut würde, machten sie sich daran, das Haus zu untersuchen. Von Birte war keine Spur mehr zu finden, und von ihren Gemälden tropfte in langen Schlieren die Farbe.
»Vielen Dank noch einmal, Mats.« David reichte dem Weißhaarigen die Hand. Mats hatte die Zwillinge zum Bootssteg begleitet.
Der schlug kräftig ein. »Das war doch selbstverständlich. Der Draugr musste weg, so oder so. Und die Polizei um Hilfe zu bitten hätte wohl nicht viel gebracht.«
Rian lachte leise. »Wohl eher nicht, da hast du Recht.«
David klopfte Mats auf die Schulter. »Du hast wirklich viel Mut bewiesen. Mehr als man erwarten konnte. Und jede Menge Einfallsreichtum.«
Mats sah auf und lächelte etwas wehmütig. »Ja, aber meine beste Pfeife ist dahin. Sie war ein altes Erbstück. Ich hoffe, ich finde noch mal so eine.«
»Ich wünschte, ich könnte eine Pfeife für dich zu besorgen, in der der Tabak niemals zu Ende geht«, sagte Rian. »Aber leider ist alles, was ich dir als Dank geben kann, das hier.« Sie beugte sich vor und küsste Mats auf beide Wangen und die Stirn.
Der alte Mann blinzelte und errötete leicht. »Ach … ich wollte ohnehin mit dem Rauchen aufhören«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln. »Es ist ungesund, das weiß doch heute jedes Kind. Aber der Kuss einer Elfe, der muss mindestens zehn Jahre mehr Leben bedeuten.«
»Vielleicht nicht ganz so viel, aber ein wenig schon.« Rian lächelte leicht. »Ich habe dir einen Hauch von meiner Lebenskraft mitgegeben.«
Mats blieb der Mund offen stehen. Als er ihn schließlich schloss, atmete er tief durch. »Wenn ich mit hundert noch immer vor meinem Kamin sitze, werde ich mir eine Geschichte ausdenken, in der ich das stolze Elfenpaar erwähne. Wenn ich mein langes Leben als Beweis anführe, wird mir sicher niemand glauben.« Er grinste.
»Tu das, aber lass dir Zeit, ehe du damit anfängst. Im Moment solltest du besser nicht zu viel über uns reden. Es könnte die falschen Leute anziehen.«
Mats nickte.
Die Zwillinge stiegen in ihr Boot, und Mats löste die Leinen. Wind griff in die gehissten Segel und drückte den Bug weg vom Steg, in den Strom hinein. Der Schwede warf ihnen die Leinen zu, und sie legten ab. Rian sah zurück, während das Boot davontrieb, und winkte.
Wieder trieb das Boot in einem Nebel dahin, der in diesem Land allgegenwärtig zu sein schien. Die Segel standen voll, sie machten gute Fahrt. Rian hatte David wieder die Pinne überlassen, lag entspannt auf der Bank und naschte Pralinen.
Es könnte eine weitere ruhige Reise werden; vielleicht erreichten sie bald das ersehnte Ziel …
»Verflucht!« Ihr Bruder riss plötzlich die Pinne herum und warf die Großschot los. Der Schiffsrumpf neigte sich, und Trüffel kullerten aus der Tüte und rollten über die Planken. Rian griff nach der Reling, um nicht ebenfalls von der Bank zu fallen, und löste mit einem Wink ihrer Hand die Vorschot.
»Was ist …« Da sah sie es bereits selbst. Vor ihnen trat der Fluss aus einer Höhle aus, deren Oberkante ihnen bei Weiterfahrt glatt den Mast abrasiert hätte. Dank Davids schneller Reaktion dümpelten sie jetzt dahin, mit gerade noch genug Druck in den Segeln, um auf der Stelle zu bleiben.
»Was jetzt?«
»Vermutlich verläuft der Fluss einfach nur eine Weile unterirdisch. Es müsste möglich sein, auf ihm weiterzureisen, sonst hätten uns die Nöcks nicht zu diesem Weg geraten.«
»Der Durchlass wäre groß genug für das Schiffchen. Also gut, bauen wir um.« David hielt aufs Ufer zu.
Zwei Stunden später hatten sie den Mast gelöst und umgelegt und stattdessen Dollen zur Befestigung von Rudern gesetzt. Sie belegten die Ruder mit Magie, die sie ohne weitere Muskelkraft voranbringen würde. Gleichmäßig hoben und senkten sich die Ruderblätter und hinterließen eine Linie kleiner kreisender Wirbel, als sie in die Höhle einfuhren.
Das andere Ende der Höhle war nicht zu erkennen, und bald wurde es so dunkel, dass selbst die Elfen nichts mehr sehen konnten. Rian öffnete eine Tüte mit Käfern, die sie unterwegs einmal nach einer sehr finsteren Nacht gefangen hatten, um sich künftig besser zurechtzufinden, flüsterte ihnen einige Worte zu und ließ sie dann frei. Die Insekten erhoben sich mit leisem Brummen und Surren und leuchteten hell. In ihrem Licht war erkennbar, dass die Felsdecke sich allmählich hob und die Höhle breiter wurde. Auf beiden Seiten lief der Fels jenseits des Wassers zunächst nur flach aus, ehe er sich zu den Höhlenwänden erhob, als habe der Fluss zu anderen Zeiten mehr Wasser geführt oder oft das Bett gewechselt. Jetzt strömte er ruhig und gleichmäßig dahin.
Das Platschen und leise Gurgeln des Wassers um die Ruderblätter wurde vom sie umgebenden Fels zurückgeworfen und war für lange Zeit das einzige, was die beiden Elfen hörten. Irgendwann fiel Rian auf, dass ein an Lautstärke zunehmendes Rauschen dazu kam. Alarmiert sah sie zu David, doch der zuckte nur die Achseln.
»Wir werden feststellen, was es ist. Dann können wir entscheiden.«
Rian nickte und sah wieder nach vorn. Wenig später erkannten sie die Quelle der Geräuschänderung. Vor ihnen schäumte das Wasser, wo der Fluss in Stromschnellen eine langgezogene Schräge hinunterrauschte. Die Decke hatte sich inzwischen bis außerhalb ihrer Sichtweite erhoben, und sie konnten nicht erkennen, wie weit die Schräge hinauf reichte. Doch sie erkannten, dass das Flusswasser nicht von ganz oben kam, sondern auf halber Höhe aus mehreren breiten Spalten sprudelnd hervorschoss.
»Damit ist unsere Bootsfahrt an dieser Stelle wohl doch zu Ende«, stellte Rian fest.
Langsam trieb das Boot seitlich an die Uferwand, bis der Kiel am Fels entlangschrammte. Die Leinen in den Händen stiegen sie aus und zogen das Boot noch ein Stück weiter hoch, ehe sie es an einigen Felsbrocken festmachten.
»Lassen wir es noch im Wasser, bis wir wissen, ob es sich lohnt, es herauszunehmen.« David deutete in die Richtung, in der die schräge Rinne aufwärts führte. »Vielleicht finden wir den Fluss ja oben wieder.«
Rian sah ebenfalls hinauf. Dort, wo der Fluss hinunterrauschte, würden sie ein wenig im Sprüh der Gischt laufen, aber oberhalb konnten sie bequem weiter hochsteigen. Die Steigung war keine echte Herausforderung, und sie hatten sich bei Antritt der Reise kleidungsmäßig passend ausstaffiert.
Sie nahmen ihre Taschen und gingen los.
»Das war es dann wohl«, schrie Rian, um das Rauschen zu übertönen, und starrte den Wasserfall an, der vor ihnen aus der Höhe direkt in den Fels unter ihren Füßen hineinzufallen schien.
»Nicht unbedingt«, antwortete David und deutete auf einige unregelmäßige Felsplatten, die nahe der Seitenwand in Stufen nach oben verliefen.
»Vielleicht kommen wir darüber bis nach oben und können das Boot dort wieder einsetzen.«
Zweifelnd sah Rian hinauf. »Denkst du, das Boot passt da durch? Da ist die Felsdecke, und vermutlich wird der Wasserfall aus einer Höhle kommen, die schmaler ist als die unten.«
»Solange wir nicht nachschauen, werden wir es nicht wissen. Also, gehen wir. Das Stückchen macht jetzt auch keinen Unterschied mehr.«
Sie stiegen die Felsabsätze hinauf. Der tobende Lärm des Wasserfalls machte jede Unterhaltung vollends unmöglich, je weiter sie hochstiegen und je näher sie dabei der Wasserwand kamen. Die Absätze wurden von Stufe zu Stufe höher, und nach einer Weile mussten sie klettern. Rians Zweifel daran, dass sie selbst mit magischen Hilfsmitteln das Boot hier herauf bringen konnten, wuchsen.
Allerdings zeigte das Licht der im Sprühregen zunehmend nervöser schwirrenden Käfer ihnen inzwischen die Oberkante, über die das Wasser in breiter Front herabstürzte. Die natürlichen Stufen reichten bis hinauf, und die Decke blieb weiterhin hoch. Fast kam es Rian so vor, als rieche sie frische Luft. Da so nah an der Sturzkante des Wassers jedoch die Luft durchgewirbelt und durch die Gischt erfrischt wurde, konnte sie sich auch täuschen.
Der letzte Absatz war so schmal, dass sie nicht mehr nebeneinander stehen konnten. Zuerst kletterte David hoch. Die Stufe von dort zur Kante war höher als er selbst, doch David zog sich problemlos hinauf. Danach konnte Rian ihn nicht mehr sehen. Hektisch surrten die Käfer über ihr hin und her, flogen immer wieder zu ihr hinunter, als wollten sie sie zur Eile nötigen. Sie kletterte ebenfalls auf den Absatz, griff zur Kante darüber und stemmte sich mit ihrer Elfenkraft hoch, richtete sich auf und blickte sich um. Die Höhle verlief ab hier wieder fast waagrecht weiter, und ein Ausgang war nicht zu sehen. Und was auch nicht zu sehen war, war David.
Rian runzelte die Stirn und zögerte. Ein Stück weiter machte der Gang eine Biegung. Vielleicht war David vorausgegangen.
Beim ersten Schritt verlor sie den Boden unter den Füßen.
Rian schrie auf, als sie plötzlich fiel. Was auch immer unter ihr nachgegeben hatte, schloss sich wieder wie eine zurückschnalzende Membran und stürzte sie in Dunkelheit. Sie prallte auf eine schräge Felsfläche auf, doch sie spürte nicht die erwarteten schmerzhaften Ecken und Spitzen. Stattdessen glitt sie über Stein, der blankpoliert war wie Marmor, in unregelmäßigen Windungen weiter abwärts. Sie versuchte mit Händen und Füßen, ihre Fahrt zu bremsen, doch sie war zu schnell. Dann erfasste sie kurz Schwindelgefühl, und ein Prickeln ging über ihre Haut. Plötzlich verschwand der Fels unter ihr. Der Schwung, den sie aus der letzten Kurve mitbekommen hatte, führte dazu, dass sie sich im freien Fall drehte und schließlich mit dem Bauch voran tief in etwas Weiches stürzte, das ihren Fall beendete. Modrig riechender Staub wirbelte um sie herum auf, der ihr in der Nase kitzelte, als sie den Kopf hob. Sie musste niesen, und ihr wurde schwindlig. Licht flackerte auf, und ein Schatten fiel auf die Elfe.
»Gotcha!«, hörte sie eine raue Stimme sagen, ehe ihre Gedanken in bunte Wirbel und umherstiebende Funken zersprangen.
Als Rian erwachte, hatte sie Kopfschmerzen, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Kopfschmerzen waren ohnehin etwas, das sie nur sehr selten bekam – lediglich intensive Magienutzung hatte bisher solche Folgen gehabt.
»Rian?«
Die Elfe drehte den Kopf und blinzelte. »David?«
Erneut wurde ihr schwindlig, und ihr Blick blieb unscharf. Sie sah nur bunte Farbflecken. Aber zumindest war es nicht mehr dunkel.
Sie spürte grobes Leinen, und darunter etwas Schwammiges, das bei jeder ihrer Bewegungen schwankte. Sie schloss die Augen wieder, das war weniger irritierend als die verschwommenen Bilder.
»Sie haben uns betäubt und irgendwohin geschleppt.« David stöhnte unterdrückt. Rian vermutete, dass er unter ähnlichen Nachwirkungen litt wie sie.
»Sie? Weißt du, wer?«
»Wer auch immer den Fluss umgeleitet und den Tunnel in die Anderswelt geschaffen hat.«
Anderswelt? Sie stutzte. Da war dieser Moment gewesen, das Prickeln … ja, in diesem Tunnel war ein Tor, und sie waren hinüber gerutscht.
Rian rieb sich die Augen und öffnete sie testweise wieder. Die Umrisse wurden etwas schärfer. Alles hier schien in verschiedene Braun- und Grüntöne getaucht zu sein. Vorsichtig setzte sie sich auf.
»Guten Morgen, Schwesterchen.«
Die Umrisse der Person, die vor ihr stand, waren ihr vertraut – und sie musste David nicht sehen, um zu wissen, dass er grinste.
»Nur weil du schon länger wach bist und vermutlich bereits klar siehst, musst du nicht herumfeixen«, sagte sie und zog einen Schmollmund. Sie fuhr mit einer Hand durch ihr Haar und rieb sich erneut die Augen. Die Umrisse ihrer Umgebung begannen, sich hervorzuschälen. »Los, erzähl schon, was du gesehen hast. Mach es nicht so spannend.«
»Wir sind in einer Holzhütte. Ziemlich grobe Bauart, aber massiv, und die Tür ist mit mindestens drei dicken Querbalken von außen verschlossen. Nicht so leicht zu durchbrechen, insbesondere, da wir keinen Zugriff auf Magie haben.« Rian sah, dass David eine Hand nach ihrem Arm ausstreckte, und im nächsten Moment spürte sie kaltes Metall an ihrer Hand. Bevor David ihn nach vorn geschoben hatte, war der Ring wegen ihres Pullovers nicht zu spüren gewesen. Sie erschauderte unter der Berührung und schob das Metall schnell wieder zurück. Dabei spürte sie grobe Gravuren auf der Oberfläche, vermutlich Runen, die dafür sorgen sollten, dass die Ringe nicht so leicht zu öffnen waren. Vielleicht verstärkten die Symbole sogar die blockierende Wirkung des Eisens.
»Jetzt verstehe ich, warum mein Kopf so wehtut.«
»Ich glaube, das liegt nicht nur daran, sondern ist auch eine Nachwirkung der Sporen, mit denen sie uns betäubt haben.«
»Sporen?« Blinzelnd sah Rian zu David hoch. Ihr Bruder nickte.
»Wir sind auf einem riesigen Pilz gelandet«, erklärte er. »Dabei haben sich Sporen gelöst, und denen haben wir das Lichterspiel in unseren Köpfen zu verdanken, und die Bewusstlosigkeit. Du bist nicht nur erst später ins Traumland geschickt worden, sondern hast zusätzlich sowohl deine eigene Ladung als auch noch die Reste von meiner abbekommen. Darum hat es dich heftiger erwischt als mich.«
»Wer hat jemals behauptet, irgendeine Welt sei gerecht«, murmelte Rian. »Und weiter?«
»Ich habe nicht gesehen, wer uns da unten in Empfang genommen hat, aber ich schätze, es ist schon einmal ein guter Anfang, dass wir noch leben. Unsere Sachen sind allerdings weg, wir sind ausgeraubt bis auf das, was wir am Leib haben.«
»Dein Dolch?«
»Weg.« Sie konnte sich Davids säuerliche Miene lebhaft vorstellen, auch wenn sein Gesicht für sie immer noch kaum mehr als ein verwaschener Punkt war.
»Und hast du irgendetwas darüber herausgefunden, wo diese Hütte steht?«
»Wenig. Ich vermute, dass wir immer noch unter der Oberfläche sind, und wenn du ganz still bist, kannst du das Rauschen des Flusses hören.«
Rian spitzte die Ohren. Sie waren anscheinend weniger von den Pilzsporen beeinträchtigt als die Augen, denn sie konnte tatsächlich ein fernes gleichmäßiges Rauschen ausmachen, das nach schnell fließendem Wasser klang.
»Meinst du, das hier ist die Höhle, durch die der Fluss fließt?«
»Möglich. Aber ich hoffe, dass wir bald mehr erfahren, denn wenn man sich schon den Aufwand gemacht hat, uns gefangenzunehmen, dann wird man auch etwas von uns wollen.«
Rian neigte den Kopf und rieb sich erneut mit beiden Handballen heftig die Augen. Langsam wurde ihre Sicht klar. Sie konnte die groben Bohlen des Bodens erkennen, wenn auch noch nicht deren Maserung. Die Wände waren ebenfalls aus grob behauenem Holz zusammengesetzt, das wie bei einem Blockhaus aufeinandergesetzt war. Pilzschwämme wuchsen an den Balken, und Moos in den Zwischenräumen. Die Decke bestand ebenfalls aus mit leichter Schräge über die Wände gelegten Bohlen.
»Die kann man nicht hochstemmen«, kam David Rians Gedanken zuvor. »Ich habe es versucht. Entweder sind sie stabil befestigt, oder es sind Felsen drauf gelegt. Sie haben sich nicht einmal ein Fingerbreit bewegt.«
Rian senkte den Blick wieder. David hatte sich abgewandt und setzte sich auf sein Lager. Ein grobes Leinentuch, das vermutlich noch nie gewaschen worden war, lag über einem schwammigen weißen Oval, das in der Mitte eine leichte Kuhle aufwies und Rian seltsamerweise an Marshmallows erinnerte. Es war durchaus bequem, wie Rian eingestehen musste, und hätte das Tuch nicht so vor Dreck gestarrt, wäre sie versucht gewesen, sich wieder für eine Weile in der Kuhle einzurollen.
Auch sonst wirkte der Raum bis auf das Fehlen von Fenstern nicht wie ein Gefängnis. Es war warm, umhertreibende Leuchtkügelchen tauchten alles in schummriges Blaugrün, und auf dem Boden lag zwischen den Lagern etwas, das wie ein unregelmäßiger Moosteppich aussah. Ein großer Baumstumpf stand mitten im Raum, der wohl als Tisch gedacht war, wie auch die kleineren Baumstümpfe darum vermuten ließen, auf die man sich setzen konnte. In einer Ecke waren Schachteln aufgestapelt.
»Spielkarten, Würfel- und Brettspiele«, erklärte David. »Einige davon eindeutig aus der Menschenwelt.«
»Oh!« Rian lächelte und schüttelte den Kopf. »Irgendwie kommt mir das nicht wie ein Gefängnis vor, sondern eher wie eine für uns geräumte Wohnung.«
»Kommt mir auch so vor. Und das lässt mich hoffen, dass unsere Lage nicht so schlecht ist, wie man annehmen könnte.« Er wies auf den Kistenstapel. »Lust auf ein Spiel, während wir warten?«
Sie waren bei der zweiten Runde Backgammon, als jemand an die Tür hämmerte.
»Na, sind die Vögelchen wach?«, krächzte eine Stimme. »Wir wollen euch zur großen Vogelfängerin bringen.« Leises Kichern erklang, und das Kratzen von Holz auf Holz sowie ein anschließendes Poltern bewiesen, dass die Balken vor der Tür weggenommen wurden. Rian und David standen auf und sahen sich an. Die Elfe bemerkte die Angriffslust in den Augen ihres Bruders.
»Ich schätze, wir verlieren nicht viel dabei, wenn wir uns erst einmal ansehen, was los ist«, meinte sie leise. »Lass uns mitgehen und ruhig bleiben, bis wir mehr wissen.«
David verzog die Mundwinkel, nickte jedoch.
Als die schwere Holztür aufgeschoben wurde, fiel von draußen helleres Licht herein, das ebenfalls nur aus Blau- und Grüntönen bestand. Vor der Tür standen in einem Halbkreis mehrere Gestalten, von denen keine der anderen glich. Sie alle hielten Waffen bereit, und alle fünf waren nach Rians Einschätzung Trolle.
»Kommt raus aus dem Käfig, meine Vögelchen«, sagte der größte und winkte mit seiner freien Hand. In der anderen hielt er einen langen Speer mit Widerhaken. Er war mindestens zwei Köpfe größer als Rian, hager, und hielt sich leicht gebeugt. Eine spitze Nase stach wie ein Rabenschnabel aus seinem Gesicht nach vorn, und die Augen glühten in raubtierhaftem Grün. Alle sichtbare Haut war mit kurzem blauem Fell bedeckt, in dem sich in kleinen Kügelchen Dreck angesammelt hatte. Sein langes Haar hatte er mit einem Band am Hinterkopf zusammengefasst und zu verfilzten Zöpfen geflochten, die Rian an Rastas erinnerten. Auf den Wangenknochen wuchs das Haar ebenfalls länger und in Locken.
Dazu passte das schäbige schwarze T-Shirt, das er trug. Silberketten baumelten daran herunter, und eine rote Aufschrift besagte: Ich trage Schwarz, bis es eine dunklere Farbe gibt. An seinen spitzen, nach hinten ragenden Ohren hingen in dichter Reihe silberne Ohrclips mit herunterbaumelnden Totenköpfen, Schwertern, Pentakeln und anderen Symbolen. Zwei breite schwarze, mit spitzen Silbernieten besetzte Lederbänder um die Handgelenke und eine schwarze Lederhose mit weiteren Silberketten daran vervollständigten die Seltsamkeit des Bildes, das er abgab. Seine haarigen Füße hingegen waren bloß, und die Dreckränder auf und unter den spitzen Zehennägeln ließen vermuten, dass sie das immer waren.
Der deutlich kleinere Troll neben ihm trug Springerstiefel, khakifarbenes Hemd und Hose aus Stoff. Er hatte seine orangen Haare so kurz geschnitten, dass sie von seinem Kopf abstanden. In der Rechten hielt er ein Messer mit langer Klinge, und die Linke umschloss einen Schlagring. Seine Augen funkelten angriffslustig, als würde er sich wünschen, dass sie einen Fluchtversuch unternahmen.
Die anderen drei Trolle waren weniger bemerkenswert, obwohl auch sie fleckige und rissige T-Shirts und Hosen trugen, die besser zu menschlichen Jugendlichen gepasst hätten als in die Anderswelt. Es war nicht zu übersehen, dass hier ein Austausch stattgefunden hatte – ob nur in die eine Richtung oder in beide, war eine andere Frage. In jedem Fall hatte man sich um Fanmórs Gebot der Weltentrennung aber offensichtlich wenig geschert.
Rian und David kamen langsam aus der Hütte, die Hände leicht erhoben, obwohl es ohnehin nichts gab, wonach sie hätten greifen können, um einen Angriff zu versuchen. Rian rümpfte die Nase, als die Körpergerüche der Trolle sie trafen. Offensichtlich wuschen sie nicht nur ihre Bettwäsche nie.
Vor der Hütte war der Boden felsig, und Davids Vermutung schien sich zu bestätigen: Sie befanden sich immer noch in einer Höhle, wenn auch in einer riesigen Ausmaßes. Ihre Hütte stand nicht weit von einer Felswand an einem Hang, der in sanftem Schwung abwärts führte. Weitere Hütten waren zu sehen, ohne Ordnung hingestreut zwischen Felsen und ausgedehnten bewachsenen Flächen, die Grün, Blau, Weiß und Braun schimmerten. Die Luft war hier dicht von den Leuchtkügelchen erfüllt, die sie auch in der Hütte gehabt hatten, und zudem wuchsen am Boden und an der hoch über ihnen hängenden Felsdecke große runde Kugeln, die hell leuchteten. Jenseits der Hütten konnte man dort, wo der Fels am tiefsten war, ein dunkles Band ausmachen, und von dort kam auch das Rauschen.
Die Trolle umringten die Zwillinge, und der Große nickte zufrieden. »Gehen wir zur Altmutter. Ihr kommt besser ohne Gegenwehr mit.«
»Sonst hauen wir euch platt«, setzte der Orange mit hoher Stimme hinzu und ballte die Hand zur Faust.
»Schnauze, Bur«, knurrte der Blaue.
Auf einen Wink von ihm hin wandte die Gruppe sich dem Weg zu, der hinunter zu den anderen Hütten führte. Rian und David blieb nichts übrig, als in ihrer Mitte mitzugehen, wollten sie nicht riskieren, »plattgehauen« zu werden.
Eine Weile gingen sie schweigend an Felsen und Feldern von Pilzen, Moosen und niedrigen Gebüschen vorbei. Schließlich fasste Rian Mut und fragte: »Wo bringt ihr uns hin, und was wollt ihr von uns?«
Der Große knurrte und bleckte seine spitzen Zähne. Rian fragte sich, ob das ein Lächeln sein sollte. »Ihr kommt zur Altmutter, hamwa doch gesagt. Die wird entscheiden, was wir mit euch machen. Ihr seid ins Unterland gekommen, obwohl so Leute wie ihr hier nix zu suchen ham, und niemand hat euch hier ham wolln.«
»Aber doch nicht freiwillig! Wir sind in ein Loch gestürzt, das wie eine Falle war!«
»Ändert nix dran. Ihr seid hier und habt hier nix zu suchen. Is’ unser Revier. Ihr habt’s verletzt. Die Altmutter wird sich ne Strafe überlegen. Sie is’ der Boss hier.«
»Platthauen«, murmelte der orange Troll, ohne dass jemand ihn beachtete.
»Und was ist mit unseren Sachen?«, fragte Rian
»Behält sie bestimmt. Schadenersatz.«
Die Elfe stöhnte. All die Schmuckstücke und anderen Geschenke, die ihnen den Weg hatten ebnen sollen, waren jetzt weg, gestohlen. Sie hätten mit so etwas rechnen und einen magischen Bann auf die Taschen legen sollen. Nicht dass sie nicht problemlos neue Sachen hätten besorgen können, sobald sie die lästigen Handfesseln los und wieder in der Menschenwelt waren – aber es würde sie Zeit kosten.
Sie hoffte, dass sie wenigstens ihre Lieblingshandtasche zurückbekommen würde, auch wenn die Schuhe, zu denen sie sie gekauft hatte, vermutlich verloren waren.
»Geht ihr oft in die Menschenwelt?«, fragte Rian, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
Der Troll schüttelte den Kopf und knurrte. Sie bemerkte, dass die anderen ein wenig die Schultern hochzogen und die Köpfe hängen ließen.
»Altmutter hat’s verboten. Eigentlich schon immer, aber … jetz’ noch mehr.«
Rian musterte den Blauen. »Es ist aber doch deutlich zu sehen, dass ihr alle öfter dort wart. Oder ist das alles durch eure Löcher gefallen?«
»Nee.« Er steckte einen Finger in den Mund, fuhr sich über die Zähne und begann, mit seinen Fingernägeln an einer Zahnlücke herumzubohren.
»Wir warn früher ab un’ zu oben«, sagte eine angenehme Stimme hinter Rian. Sie sah sich um. Hinter ihr lief eine Trollin mit so kurzem und hellem türkisfarbenem Fell, dass es fast als Haut hätte durchgehen können. Wo die Ärmel des weißen T-Shirts endeten, waren aufgemalte dunkelrote Ornamente zu sehen, die an Tribal Tattoos erinnerten. Auch die Ohren waren mit mehreren Clips bestückt, und ein kleiner Clip mit funkelndem Stein klemmte am linken Nasenflügel.
Wieder blitzten Rian spitze Zähne entgegen.
»Schöner Schmuck«, sagte Rian.
»Danke. Is’ halt Mist, dass wir uns nix stechen lassn könn’. Wächst alles in nem Tag oder zweien wieder raus, das ist so zum …« Sie machte den Mund weit auf und deutete mit einem Finger rein, als wolle sie das Anstoßen des Brechreizes andeuten. Dann zeigte sie auf das Muster an ihrem Arm. »Tattoos sind auch nich’ drin. Bin stattdessen zu Henna übergegangen, das hält wenigstens ne Weile. Mein Fell nimmt die Farbe gut an.«
»Ah. Ich habe immer gedacht, es wäre eine gute Sache, wenn Wunden so schnell heilen wie bei euch, aber ich sehe, es hat auch Nachteile.«
»Is’ ja egal jetz’«, knurrte der Große. »Is’ eh Essig jetz’ mit den Ausflügen, wenn wir nich riskieren wolln, rauszufliegen. Also wird’s bald auch nix mehr sein mit Henna und so. Wird Jackie sich was anderes suchen müssen.«
»Jackie?«
»Das Mädel da. Jaksarani eigentlich, aber nennt sich Jackie.« Er machte eine Kopfbewegung zu der Trollin mit den Ornamenten.
»Tut mir echt leid, ich geh nämlich genauso wie du gern shoppen.«
Jackie winkte ab. »Null Problemo. Hab Schlimmeres erlebt und überlebt, wird sich auch wieder ändern. Was glaubste, wie die Menschen mich angeguckt ham, wenn meine Tarnung mal ’n bisschen nachgelassen hat?« Sie kicherte.
»Ich kann es mir vorstellen. Menschen haben leider meistens ziemliche Probleme mit allem, was ihnen fremd ist. Wir kennen das zur Genüge. David und ich haben eine Weile in Paris gelebt.«
»Echt jetz’?« Die Trollin bekam große Augen. »Ey, Paris … Wahnsinn. Wart ihr auch mal in New York? Da soll es ja echt hart hergehen.«
»Nein.« Rian schüttelte den Kopf. »Wir sind in Europa geblieben, in der Nähe zu Earrach. Wir sind ja nicht aus Spaß in die Menschenwelt gegangen.«
»Hat man euch rausgeschmissen?«, fragte der Blaue.
»Nein. Wir haben einen Auftrag.«
Der Troll knurrte. »Das is’, schätz ich, was, was ihr dann besser der Alten erzählt. Hrm, der Altmutter«, setzte er hinzu, als Jackie ihm einen Knuff gab. Er machte eine Handbewegung nach vorn. »Sind schon fast da, also denkt nach, was es euch so wert is’, hier wieder weg zu komm’ und nich für uns in den Pilzfeldern zu arbeiten oder von Bur plattgehauen zu werden.«
Dieses Mal war es definitiv ein Grinsen.
Die Hütten waren inzwischen von niedrigen Häusern abgelöst geworden. Es gab also auch unter den Trollen Unterschiede in Wohlstand und Ansehen. Die Häuser waren aus Holz gebaut, lang und schmal im Grundriss und mit Ried gedeckt, das jedoch an vielen Stellen Schimmelflecken hatte oder überwachsen war. Vermutlich hielt in Wirklichkeit nur Magie diese Häuser gegen den Verfall zusammen. Die Wände waren schräg, und zusätzliche, von außen dagegen gestemmte Balken stützten das Dachgebälk ab.
Das Haus, dem sie sich näherten, sah ähnlich aus, nur ein gutes Stück länger und breiter als die anderen. Außerdem war es aus Stein gebaut, und auf dem Dach lagen neue Ziegel. Rauch drang aus einem von mehreren hohen Kaminen und ließ die Leuchtkugeln umherwirbeln.
»Das Feuerhaus«, sagte der Große. »Is’ der einzige Ort im Dorf, wo Feuer brennen darf. Für manche Sachen isses halt ganz nützlich, und da essen wir dann auch alle, aber alles in allem mögen wir Feuer halt nich so gern. Is’ eben das einzige, das uns richtig wehtun kann. Naja, un’ Sonnenlicht. Und damit der Alt…mutter ihre Knochen nich kalt werden und sie mit’m Körper nich auch noch so starr wird wie in ihrem Kopf, sitzt se immer beim Feuer dabei.«
Sie erreichten das Haus. Ein Durchgang ohne Tür führte in das dunkle Innere hinein. Im hölzernen Türsturz darüber waren Runen eingeritzt, die böse Geister fernhalten sollten, wobei Rian sich fragte, wie die Magie die Unterscheidung machen sollte, wenn man bedachte, wie wenig die Trolle sich schon untereinander mochten. Dennoch spürte sie, dass echte Magie an dieser Stelle am Werk war.
Hinter der Tür empfing sie ein großer dunkler Raum, der nur zu einem kleinen Teil von flackerndem Feuerschein erhellt wurde, und ein eindringlicher, aber nicht unangenehmer rauchiger Geruch, der die Ausdünstungen der Trolle gnädig überdeckte. Die Lichtkugeln mochten wohl die Nähe des Feuers nicht, oder aber sie wurden absichtlich ferngehalten, um den Effekt der Flammen hervorzuheben.
Das ganze Haus diente offensichtlich nicht zum Wohnen, sondern war ein Gemeinschaftshaus. Es war nur mit Säulen und einfachen Stellwänden unterteilt. An jeder Seite waren mehrere Feuerstellen zu erkennen, teilweise einfache offene Feuerschalen, teilweise Kamine und Öfen aus Lehm, Stein oder Metall. Anhand der Bauformen und der dabei liegenden Geräte war erkennbar, dass jede Stelle zu etwas anderem diente: zum Kochen, Backen, Räuchern, Grillen und Braten. Im Moment war allerdings keine davon angefeuert, obwohl sich in einigen Ecken Trolle herumtrieben und Dinge taten, die Rian nicht genau erkennen konnte.
In der Mitte des Raums flackerte ein großes Feuer, in einer Feuerstelle, die nur von einem Kreis von Setzsteinen eingegrenzt war. Mehrere Holzscheite lagen sorgfältig aufgeschichtet in den Flammen und spendeten Licht in einem Umkreis von mehreren Metern. Immer wieder stiegen Funken auf, wenn die Restfeuchtigkeit im Holz es zum Platzen brachte oder Teile auseinanderbrachen. Ähnlich den Lichtkügelchen tanzten die Funken in der Luft und wurden dann nach oben abgesogen. Etwas erzeugte auch ohne einen gebauten Abzug hier den notwendigen Sog, um den Rauch zum Großteil durch das Dach nach außen zu lenken.
Dicht beim Feuer saß eine einzelne massige Gestalt zusammengesunken und anscheinend schlafend auf einem hochlehnigen und breiten Sitz aus dunklem Holz. Felle polsterten die Sitzfläche und hingen über die geschwungenen Armlehnen, auf denen ihre dicken Arme ruhten. Langes graues Haar hing in fettigen Strähnen von ihrem nach vorn gesunkenen Kopf und verdeckte ihr Gesicht. Unter den Zotteln trug sie ein wohl ehemals ansehnliches burgunderrotes Kleid mit Goldstickerei, das nun aber ausgebeult, abgewetzt und fleckig um ihren Körper hing. Die Finger waren trotz ihrer Körperfülle erstaunlich dürr und von grauer, glatter Haut überzogen.
Die Haltung der Trolle, die Rian und David hierhergebracht hatten, hatte sich seit dem Eintreten in das Haus deutlich geändert. Ihr vorheriges sorgloses Selbstbewusstsein war zunächst einer gewissen Unruhe und sogar Anspannung gewichen, und als sie sich nun der Gestalt näherten, wurden ihre Schritte immer kürzer und zögerlicher. Mehrere Meter entfernt blieben sie schließlich stehen, und es dauerte einen Moment, ehe der Große tief einatmete, weiter vortrat und dann in die Hocke ging, die wohl einem Kniefall gleichzusetzen war. Eine Faust auf dem Boden und den Kopf ein wenig gesenkt sagte er:
»Altmutter, wir haben die Gefangenen gebracht.«
Seine Stimme klang scheu, und nichts war mehr von der Respektlosigkeit zu spüren, die er zuvor im Gespräch gezeigt hatte. Selbst seine Aussprache war deutlich bemühter.
Die Alte atmete keuchend ein und schnaubte, ehe sie langsam den Kopf hob. Eine große Hakennase war das Erste, was zwischen den Zotteln hervorstach, und ein spitzes Kinn, das dieser Nase entgegenzustreben schien. Dann schüttelte die Alte die Haare beiseite. Wangen wurden sichtbar, auf denen die Haut graue Falten bildete, und darüber glosten schwefelgelbe Augen.
»Sieh an, sieh an. Die Elfenvögelchen sind da«, ertönte ein hohes Krächzen.
David atmete scharf ein.
»Birte!«, flüsterte er.