Читать книгу Elfenzeit 4: Eislava - Verena Themsen, Uschi Zietsch - Страница 9
1.
Im kalten Strom
ОглавлениеDas Licht der Frühlingssonne durchdrang in schimmernden Bahnen den Morgennebel über dem Fluss, ließ das helle Weiß der Birkenstämme am Ufer aufleuchten und brach sich an den kleinen Wellen, die eine sanfte Brise an der Wasseroberfläche erzeugte. Die Luft trug den Geruch des Schnees in sich, der Schweden noch lange nicht aus seinem Griff entlassen hatte, obwohl die Tage seit fast einem Monat länger waren als die Nächte. Raureif umhüllte die Blätter des frischen Grases, das am Ufer aus dem Boden drängte, und dämpfte das Grün. Lediglich ein einzelnes rotes Bootshäuschen, in der typischen skandinavischen Holzklinkerbauweise errichtet, brachte einen leuchtenden Farbtupfer in die von Nebel und Eiskristallen gedämpfte Szenerie.
David zog leicht an der Pinne des Segelbootes, um gegen die Strömung eines einmündenden Bachs anzuhalten. Die silbrig glitzernden Schoten, von ihm und seiner Schwester schon zu Beginn der Fahrt mit einfachen Elfenzaubern belegt, bewegten sich und passten die Stellungen von Fock und Großsegel so an, dass der von achterlich wehende Wind sie wieder bauchig füllte. Rian, die vor dem Mast an der Backbord-Reling saß und mit über dem Wasser ausgestreckter Hand nach vorn in den Nebel spähte, ließ sich davon nicht stören. Sie schien ganz auf ihre Aufgabe konzentriert, den nächsten Übergang zu einer der kalten Strömungen der Anderswelt zu finden.
David strich sich eine schulterlange blonde Strähne hinters Ohr und beobachtete, wie seine Schwester mit kleinen Bewegungen immer wieder an der unsichtbaren Linie entlang tastete, die ihr sagte, wo das nächste Tor zu finden sein würde. Sie tat es häufiger als notwendig, als hätte sie Angst, sie könnten den Weg verlieren, oder als seien ihre Gedanken anderswo. Doch dann drehte sie den Kopf zurück zu David, und der Blick ihrer violetten Augen begegnete dem seinen.
Sie hatten beide die kleinen Zauber ausklingen lassen, die sonst ihr Aussehen an das der Sterblichen anglichen, da hier auf dem Fluss keine Begegnungen zu erwarten waren. Daher waren es die gewohnten vollständig gefärbten Augäpfel, die David entgegensahen und nicht violette Kreise auf einem weißen Hintergrund. Auf eine Weise, die er nicht recht erklären konnte, gab das dem Prinzen ein Gefühl der Sicherheit und Ruhe. Er lächelte seine Schwester an, und sie erwiderte sein Lächeln.
So viele Dinge änderten sich, seit die Zeit Einzug ins Reich der Elfen gehalten hatte. Selbst das Haar ihres Herrschers und Vaters, des Riesen Fanmór, wies erste graue Strähnen auf, und sein Gesicht zierten Falten, die nicht nur von den ins unermessliche gewachsenen Sorgen herrührten. Da hatte es etwas Tröstliches, dass zumindest Rian noch immer genau so war wie vor dem langen Schlaf, aus dem sie in jenen Herbst hinein aufgewacht waren, der den Einzug der Zeit sichtbar gemacht hatte. Selbst die Erfahrung des Todes und die Wanderung ihres Schattens ins Reich des Grauen Herrn Samhain hatten ihr nicht nachhaltig etwas anhaben können, auch wenn sie für eine Weile vielleicht vorsichtiger und ruhiger geworden war.
David hingegen hatte die verbrachte Zeit in der Welt der Sterblichen für immer verändert.
Unwillkürlich griff er sich an die Brust, wo er glaubte, das sachte Glühen von etwas zu spüren, von dem er nicht sicher war, ob er es wirklich wollte. Eine Seele. Nur ein Funke bisher, kaum geboren, und noch konnte er entscheiden, ob er sie wachsen lassen wollte oder nicht. Doch sie war da, und egal was weiter geschah, nichts würde für ihn jemals wieder so sein wie zuvor.
Er seufzte.
»Wie lange werden wir brauchen, bis wir den Weltenbaum erreichen?«, fragte er, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Niemand hatte ihnen diesbezüglich etwas sagen können.
Rian fuhr sich mit schlanken Fingern durch das kurze blonde Haar. »Nicht mehr allzu lange, hoffe ich. Grog hat uns gewarnt, dass einige der Völker des Nordens viel Freude daran haben, einem die Durchreise so schwer wie möglich zu gestalten. Immerhin haben wir schon was zum Tauschen.« Sie machte eine Handbewegung zu den Taschen, die direkt vor dem Niedergang zur kleinen Kajüte in der Mitte des Cockpits standen. Modeschmuck, Stoffbänder, Porzellanfiguren, Naschwerk aller Art und andere Dinge waren darin gesammelt, was Rian zuletzt bei ihrem Halt in Kopenhagen gekauft hatte. Vieles davon würde ihnen Türen und Tore in der Anderswelt öffnen können, doch manches hatte Rian zweifelsohne für sich selbst reserviert. Wie zum Beispiel die Nougattrüffel, die neben ihr lagen und nach denen sie jetzt griff. »Wir durchqueren Gebiete, die nahe den Grenzen von Earrach liegen«, fuhr Rian fort. »Selbst zu guten Zeiten hat dort Fanmórs Wort nie so viel gegolten wie in Crain oder den anderen Kernländern. Jetzt, da die Tore versperrt sind, wird das mit Sicherheit nicht besser sein.«
David nickte. Rian hatte Recht. Der Zusammenhalt der Teile des Reiches Earrach war als eher lose zu bezeichnen, soweit nicht Fanmór persönlich mit seiner unmittelbaren Macht eingriff. Mit Sicherheit gab es sogar Gegenden, in denen sie ihre Herkunft als Kinder Fanmórs besser verschwiegen, sei es, weil man dort während des Krieges im Stillen Bandorchu unterstützt hatte, sei es, weil man sich gern unabhängiger gesehen hätte, oder nach mehr Einfluss im Reich verlangte. Die Erinnerungen an Alberich, der die Suche der Geschwister nach dem Quell der Unsterblichkeit hatte ausnutzen wollen, um sowohl sie aus dem Weg zu schaffen als auch sein eigenes Aufsteigen zur Macht sicherzustellen, lagen nicht lange zurück. »Hoffentlich ist Nidhögg überhaupt noch da«, bemerkte er. »Über die Nordgötter wissen wir so gut wie nichts. Schon lange haben sie sich nicht mehr gezeigt. Wer weiß, ob sie überhaupt noch in ihren Hallen sitzen.«
»Und auf Ragnarök warten«, setzte Rian hinzu. »Kannst du dich an Grogs Erzählungen über die Asen erinnern? Ist doch abartig, oder? Götter warten auf den Untergang der Welt.«
David blinzelte sich Nebelwasser von den Wimpern. »Deswegen war Grog sicher, dass Nidhögg nach wie vor da sein wird … weil er danach aufräumen muss, für den Neubeginn. Die Asen gehen davon aus, dass nichts endgültig verschwinden kann.«
»So wie ich.« Sie lächelte schief.
Vor Davids innerem Auge blitzte das Bild von Rians totem Körper auf, gestorben an der klaffenden Wunde in ihrer Brust, die Alebins Dolch gerissen hatte. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Das war etwas, worüber er nicht reden, woran er nicht einmal mehr denken wollte.
»Aber die Frage ist: Weiß Nidhögg wirklich etwas über den Lebensquell?«, fragte er stattdessen.
»Wir müssen uns an jeden rettenden Halm klammern«, antwortete Rian. »Zumindest wissen wir dann mehr.«
David verzog das Gesicht. »Ein zerstörerischer Sammler und Fresser von Leichen …«
»Er steht auch für den Neubeginn, weil er Ordnung bringt«, erwiderte Rian. »Der Beiname ›Neumond‹ deutet darauf hin – der Neumond ist das erste Leben, die erste schwache Sichel nach dem ›Tod‹ des Mondes. Er steht ebenso für die Wiedergeburt wie für den Tod davor. Vielleicht ist Nidhögg selbst sogar der Lebensquell für die folgende Welt, und er braucht die Toten, um diese Quelle für alle zu öffnen.«
»Hoffen wir es mal. Und hoffen wir, dass Nadjas Befürchtung sich nicht bestätigt, dass bei ihm die Quelle aller Probleme liegt. Andererseits könnte das auch die Lösung bedeuten.« David drückte die Pinne etwas beiseite, um einem im Fluss treibenden Ast auszuweichen. »Auf wen ist der Drache eigentlich neidisch?«
Rian zuckte die Achseln und griff nach einer Trüffelpraline. »Vermutlich auf alle, die im Freien leben. Insbesondere aber auf den Adler im Wipfel von Yggdrasil. Der ist wohl auch einer von denen, die auf Ragnarök warten, und wird sich genauso wie Nidhögg um die Toten kümmern, wenn es soweit ist. Aber der Adler hat da oben im Wipfel einen Logenplatz, von dem aus er alles überblickt, was in den Welten passiert, während Nidhögg nichts anderes sieht als Wurzeln, und noch nicht mal die Flügel strecken kann in seiner Höhle, geschweige denn fliegen. Kein Wunder, dass unter solchen Umständen so einiges an einem nagt und man auch selbst das Nagen anfängt.« Genüsslich an der Praline lutschend streckte sie die Hand wieder nach der Linie aus. Ihr Blick versank in dem sich langsam lichtenden Nebel, und David spürte, wie die Gedanken seiner Schwester zu wandern begannen.
Eine Weile glitten sie so in Schweigen weiter den Fluss hinauf, wie seit vielen Tagen schon der Strömung entgegen, die sie an den Ursprung aller Kalten Flüsse führen sollte. Der Wind, der sie vorantrieb, war stetig, halb aus dieser Welt und halb aus einer anderen geboren. Sie segelten auf verschlungenen, immer nach Norden führenden Wegen – ein Netz aus Flüssen verschiedener Welten, dem zu folgen nur den Elfen möglich war.
Sie hatten Stromschnellen durchschnitten und Flussdeltas durchfahren, in denen man kaum mehr die Ufer hatte sehen können, waren vorbei an Inseln aus Sand und Fels, an Wäldern, Feldern, Häuserfronten und Fabriken gesegelt. Die Natur des Landes hatte sich in dem Maße verändert, wie es kälter geworden war. Die Buchen waren Birken gewichen, die Nadelbäume häufiger und niedriger geworden, und der Fels, der aus dem Boden brach, war rundgeschliffen von Wind, Eis und Wasser.
David ließ seinen Blick auf den Bäumen ruhen, die noch immer in lockerer Reihe die Uferböschung säumten. Die Sonne hatte inzwischen auch die letzten Nebelstreifen vertrieben und trocknete den Tau von den Blättern, der unter der Wärme aus dem Reif entstanden war.
»David?«
Der Prinz drehte den Kopf und begegnete Rians nachdenklichem Blick.
»Was ist? Sind wir nah dran?«
Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Nein. Oder, ja, aber das war es nicht, was ich sagen wollte.«
»Sondern?« Er hob die Augenbrauen. Es war selten, dass Rian nicht direkt mit der Sprache herauskam. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, wie es die Menschen so schön ausdrückten.
Dieses Mal schien sie sich jedoch zum Sprechen durchringen zu müssen.
»Ich fand es sehr mutig, dass du Fanmór gefragt hast, ob er wirklich unser Vater ist«, sagte sie schließlich. »Und … und dass du von unserer Mutter gesprochen hast. Mutiger als alles andere, was ich je von dir erlebt habe. Das wollte ich dir schon lange sagen.«
Davids Gedanken wanderten zu jenem Moment im Thronsaal zurück, in dem er zum ersten Mal in seinem Leben so offen gegen den Herrscher der Crain angetreten war. Die kaum gebremste Wut des Riesen hatte ihm Angst gemacht, doch er hatte auch die darunter liegende tiefe Sorge gespürt.
»Es war nicht mutig, es war nur … notwendig.« Er zögerte kurz. »Mutig war Nadja, als sie dich aus Samhains Reich zurückgeholt hat. Sie war diejenige, die am wenigsten dafür konnte, dass du dort warst, und die geringste Verpflichtung hatte, aber sie bestand darauf, es zu tun.«
»Was wieder einmal zeigt, wie ähnlich ihr zwei Dickköpfe euch seid«, antwortete Rian mit einem Schmunzeln. »Beide habt ihr Fanmór die Stirn geboten. Und du hast es sogar zum Teil aus … aus Liebe zu ihr getan, oder? Irgendwie erinnert ihr mich manchmal an die Leute in meinen Lieblingsserien …« Das Lächeln flog von ihren Zügen. Sie biss sich auf die Unterlippe und sah wieder auf den Fluss hinaus.
Über das Band, das die Zwillinge seit ihrer Geburt verband, spürte David ihren Zwiespalt. Sie mochte Liebesgeschichten, fand sie faszinierend, weil Elfen normalerweise keine Liebe kannten. Doch für ihn war es Realität geworden. Etwas war geschehen, damals im Kerker der venezianischen Insel Tramonto, als Nadja ihn befreit hatte. Das Tor zu Samhains Reich hatte bereits für ihn offen gestanden, sein Schatten den Weg dorthin angetreten, doch die Sterbliche hatte ihn zurückgeholt. Und dabei hatte sie ihm die Seele geschenkt. Er wusste um Rians Befürchtung, dass seine Seele ihn möglicherweise eines Tages von ihr trennen würde.
Er hegte dieselbe Befürchtung. Er wollte Rian nicht verlieren. Nie wieder. Ihr vorübergehender Tod saß ihm noch immer tief in den Knochen. Obwohl es seine Seele gewesen war, die ihm in diesem Moment das Leben bewahrt hatte, war die Angst vor der Trennung von Rian einer der Gründe, warum er deren Wachstum momentan nicht zuließ. Das, und dass er sich um seine Liebe betrogen fühlte. Weil Nadja vielleicht das Kind eines anderen trug, das Kind des Mörders und Verräters Alebin.
Er wusste, dass er ungerecht war, wusste, dass es geschehen war, bevor ihre Liebe geboren worden war. Auch sein eigenes Bett war zu dieser Zeit fast keine Nacht leer gewesen, wie konnte er es dann Nadja übelnehmen? Zudem hatte Alebin Nadja getäuscht und beeinflusst. Aber das Gefühl ließ sich nicht einfach beiseiteschieben, der Eindruck, dass sie nie vollauf zu ihm gehören würde, dass womöglich immer etwas da sein würde, das sie mit einem anderen verband. Und das war ihm unerträglich.
Rians Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
»Das Tor ist nah«, sagte sie und streckte ihre Hände über das Wasser aus, um erneut die Linie zu erspüren, der sie folgten. Sie schob sich näher an die Reling und beugte sich vor, führte die Fingerspitzen dicht über das Wasser. »Es könnte sein, dass es Unterwasser liegt. Die Linie senkt sich ab.«
»Dann sollten wir anfangen, einen Zauber zu weben, der uns erl…«
Ehe David seinen Satz zu Ende sprechen konnte, durchbrach etwas an der Seite des Bootes die glatte Wasseroberfläche. Eine grauschimmernde Gestalt sprang hoch, beschuppte Arme schlossen sich um Rians Körper, und noch ehe sie auch nur Zeit für einen Ausruf hatte, zog das Wesen sie mit sich zurück in die Tiefen des Flusses.
Im ersten Moment saß David wie erstarrt da. Dann stieß er einen Schrei voller Wut und Angst aus, der alles andere verstummen ließ, sprang auf und hechtete über die Reling ins eiskalte Wasser des Flusses.
Rian, ich komme … halte nur so lange durch, bis ich euch gefunden habe!
Der Elfenprinz drehte sich, versuchte, unter der Oberfläche etwas zu erkennen oder in der eiskalten Strömung Wirbel zu spüren. Das Wasser war recht klar und der Fluss nicht so tief, dass der Grund dunkel gewesen wäre. Tatsächlich sah David eine Bewegung weiter flussaufwärts, einen aufgescheuchten Fischschwarm und ein Glitzern wie von einer Glasperlenschnur.
Luftblasen!
David hielt mit kräftigen Stößen darauf zu. Weit vorn schälten sich mehrere schemenhafte Gestalten aus dem Halbdunkel. Fünf Wesen, die nur als dunkle Schatten zu erkennen waren, scharten sich am Flussgrund um ein kleineres, helles, das sich heftig bewegte.
Rian!
In dem Moment, in dem er ihren Namen dachte, stießen die Gestalten sich ab und zogen die Elfe mit sich. Noch immer wand sie sich erfolglos in den Griffen ihrer Entführer. Die Wesen hatten etwas über sie gestülpt, das ihre Gestalt unscharf wirken ließ und sie zugleich in der Bewegung hemmte.
Die Angst um Rian ließ David noch mehr Kraft in seine Schwimmstöße legen, obwohl die Eiseskälte ihm trotz seiner robusten Konstitution langsam bis auf die Knochen ging. Zudem behinderte ihn die Kleidung. Er hielt für einen Moment inne, um sich aus dem schweren Mantel zu befreien und die Schuhe abzustreifen. Beides sank unwiederbringlich in den dunklen Schlamm des Flussgrundes hinunter.
Nun konnte David die Verfolgung schneller aufnehmen, doch durch die Verzögerung hatte er Rian und ihre Entführer schon aus dem Blick verloren. Er behielt die Richtung bei, die sie zuvor eingehalten hatten.
Aus dem Augenwinkel registrierte er eine Bewegung. Ein weiterer Schwarm, der aufgeregt davonstob, als hätte ein Raubfisch sie aufgescheucht. Und erneut eine kleine Kette von Luftblasen. Ohne zu zögern wechselte David die Richtung und folgte der neuen Spur. Da, eine Bewegung. Ein dunkler Schatten, dazu ein hellerer … er hatte sie wieder.
Hoffnung flammte in ihm auf und trieb ihn voran durch das dunkle Wasser. Seine Glieder wurden allmählich taub von der eisigen Kälte, dennoch gehorchten sie weiter den Befehlen seines Gehirns, schoben ihn voran und ließen ihn dicht über den Flussgrund dahinschießen. Sein Blick verschwamm, und in den Randbereichen seines Sehens setzte ein graues Rauschen ein. Vor ihm tauchte ein dunkler Umriss so plötzlich auf, dass er beinahe nicht mehr ausweichen konnte. Ein Fels.
Das Wasser wurde trüber und erschwerte seine Sicht auf die dunklen Gestalten vor ihm. Trotz der zusätzlichen Last der Elfe entfernten sie sich immer weiter von ihm. Es schien, als habe Rian allen Widerstand aufgegeben.
Oder sie ist bewusstlos.
Erneut feuerte die Verzweiflung ihn an, obwohl er allmählich ein Stechen in seinen Lungen spürte, und sein Blick schnürte sich langsam auf einen schmalen Tunnel ein. Wenn er für sich eine Atemblase schuf, würde ihn das extrem verlangsamen – er musste so hindurch. Erneut war ein Fels im Weg, und diesmal reagierte er zu spät und stieß dagegen. Für einen Moment trieb sein Körper unkontrolliert durch das Wasser, und die Kälte bekam etwas Tröstliches, denn sie betäubte den Schmerz. Ein Fischschwarm tauchte direkt vor ihm auf, silbrig schillernde Körper wimmelten um ihn herum und versperrten seine ohnehin schon eingeschränkte Sicht.
Der Schwarm verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war, und von Rian und ihren Entführern war nichts mehr zu sehen. David schloss die Augen, riss sie dann wieder auf und wollte mit purer Willenskraft den grauen Schleier vertreiben, der sich vor die Sicht schob. Einen Moment lang schärfte sich sein Blick, er sah scharf gestochen den unregelmäßigen schlammigen Grund, die Steine und rundgewaschenen Felsen, jeden einzelnen Wasserfarn und die Fische, die dazwischen nach Algen und Plankton jagten. Doch nicht mehr. Keine Spur zeigte ihm, in welche Richtung er sich wenden musste.
Erneut schloss er die Augen und ließ sich weiter treiben.
Auftauchen, dachte er. Luft …
Mühsam zwang er die Augen wieder auf und versuchte, sich zu orientieren. Wo war oben, wo unten? Er trieb im grauen Dämmerlicht, wohin die Strömung ihn in den vergangenen Augenblicken getragen hatte, und wusste nicht, wo das war. Sein Blick war durchsetzt mit tanzenden Lichtern und dunklen Punkten, die es schwer machten, irgendetwas zu erkennen. Er zwang Arme und Beine unter seinen Willen zurück, wagte einen schwachen Schwimmstoß auf eine helle Fläche zu, und noch einen. Es musste die Oberfläche sein, nur dort war es hell. Im nächsten Moment stieß er an etwas, das seine Knochen zusammenstauchte.
Ein Fels. Ein heller Fels … ich bin zurück zum Grund geschwommen.
David wollte lachen, doch er hatte keine Luft mehr dafür. Stattdessen schloss er die Augen, breitete die Arme aus und ließ sich treiben.
Da geschah der Übergang.
Es dauerte einige Atemzüge, bis David bewusst wurde, dass er atmete. Er hatte aufgehört, seine Luftwege zu verschließen, als der Schmerz der Atemnot zu groß wurde. Körper und Geist waren zu betäubt gewesen, um eine rettende Luftblase zu schaffen. Er hatte tief das eingesogen, worin er trieb, und die Qual in seinen Lungen hatte nachgelassen.
Mit einem Blinzeln sah David sich um. Auch der Schleier um seinen Blick war verschwunden. Er trieb noch immer knapp über dem Grund, zwischen bizarr geformten Gebilden aus porösem Buntgestein, die direkt aus hellem Sand herauszuwachsen schienen. Es war ihm unmöglich zu erkennen, ob er sich noch in dem Flussbett befand. Als er sich auf den Rücken drehte, hatte er das Gefühl, das Wasser müsse sich über ihm ins Endlose erstrecken, trotz des Lichtes, das bis zu ihm durchdrang.
Wasser?
Er hatte den kalten Strom verlassen und war in ein Gewässer geraten, das nicht mehr aus normalem Wasser bestand, sondern aus einem Stoff, in dem er atmen konnte. Wann war das geschehen?
Da war dieses Prickeln, als würde sich jedes einzelne Härchen aufstellen … dieses kurze Gefühl des Schwebens, noch stärker als es ohnehin im Wasser geschieht … der Übergang! Ich muss ihn durch Zufall getroffen haben und in die Anderswelt übergetreten sein. Ich bin in einer Wasserdomäne.
Und trotzdem fühlte es sich falsch an, ungewöhnlich. Als sei etwas Fremdes dabei. Das war nicht Crain, sondern eine der vielen Regionen des Nordens. Manches mochte sich dort anders anfühlen.
Rian! Vielleicht ist sie auch hier?
Der Gedanke setzte seinen Körper unter Spannung. Er drehte sich wieder zurück, suchte nach irgendeinem Anzeichen der Anwesenheit anderer. Da … Spuren im hellen Sand. Jemand hatte nicht weit von ihm am Grund gestanden. Der Sand trieb in Wirbeln darum herum, als seien diejenigen eben erst wieder aufgebrochen, vielleicht während Davids Übergang.
Er schwamm auf die Stelle zu, und tatsächlich nahm er vor sich eine Bewegung wahr, die ihn innerlich aufjubeln ließ. Er sah gerade noch die letzte der Gestalten in einem nahen Tangwald verschwinden. Obwohl sie zügig schwamm, wirkten ihre Bewegungen nicht so, als fühlte sie sich verfolgt. David zog seinen Dolch und verstärkte seine Beinbewegungen. Er überlegte kurz, sich in ein Wasserwesen zu verwandeln – doch das war gar nicht notwendig.
Wellen von Energie durchliefen seinen Körper, als die Runen auf dem Heft des Dolchs mit seinem Körper in Kontakt kamen, und vertrieben den letzten Rest von Taubheit daraus. Mit neu erwachter Kraft trieb er seinen Körper Rian und ihren Entführern nach, in den Tangwald hinein. Die Bewegungen der langen Pflanzenstränge und der aufgewirbelte Sand zeigten ihm deutlich, welche Richtung die Gruppe genommen hatte, und er folgte ihnen mit ausdauernden Schwimmbewegungen. Wo immer ihm Pflanzen in den Weg kamen, schnitt er sich hindurch, wie mit einer Machete im Dschungel.
Nach einer Weile bemerkte er, dass der Boden unregelmäßiger wurde. Erneut tauchten zwischen dem Tang die seltsam geformte Felsen aus löchrigem Gestein auf, und sie wuchsen immer höher hinauf. Schließlich zog sich der Tangwald zurück und machte den Felsen Platz. Für einen Augenblick konnte David die fremden Wasserwesen wieder vor sich sehen. In ihrer Mitte leuchtete Rians heller Haarschopf kurz auf, ehe sie um das nächste Felsgebilde herum verschwand und er nur noch die beiden Wesen sah, die das Ende der Gruppe bildeten.
Ihre dunkle, blauschimmernde Schuppenhaut erinnerte ein wenig an den Kelpie aus Alberichs Rheinhöhle, doch das war die einzige Übereinstimmung. Weder Schleierhäute noch Mähnen waren an ihnen zu sehen, und statt tellerähnlicher Hände und Füße hatten sie schlanke Finger mit Schwimmhäuten sowie an den Enden ihrer Beine kräftige Fischflossen. Ihre extrem kurzen und dicken Hälse waren von eine Krause aus Hautfalten umgeben.
Sie trugen nichts an ihren Körpern, was sie beim Schwimmen hätte hindern können. Lediglich einen Gurt hatte jeder von ihnen über den Rücken geschlungen, in dem mehrere kurze Speere steckten, die vollständig aus Metall gearbeitet waren. Einen solchen Speer hielt jeder von ihnen in der Hand.
Noch während David sie betrachtete, verschwanden auch die letzten beiden der Wasserwesen um den Felsen herum. Wären die Wesen allein gewesen, hätten sie David längst abgehängt. Rian behinderte sie jedoch, sodass er den Anschluss halten und sogar zusehends aufholte. Das war erforderlich, denn nun bewegten sie sich durch ein Felsenlabyrinth. Die Brocken und Nadeln weiteten sich nach oben hin aus, berührten sich, bildeten Brücken oder Tunnel, zusätzlich zu den Löchern, die teilweise in ihr poröses Material gewaschen waren und gewundene Durchgänge darstellten.
Um die nächste Biegung entdeckte er die Gruppe. Es erleichterte David zu sehen, dass Rian sich bewegte. Sie war weder bewusstlos noch gefesselt. Im nächsten Moment erkannte er, dass ihre Bewegungen ruhig und gleichmäßig waren. Die Wesen, zwischen denen sie schwamm, berührten sie nicht einmal.
Rian schwamm freiwillig mit!
Seine Verwirrung ließ David einen Moment in den eigenen Bewegungen innehalten, und da waren sie auch schon in der Dunkelheit eines Felstunnels verschwunden. So schnell er konnte folgte er ihnen.
Als David den Tunnel verließ, hatte die Umgebung sich unmerklich verändert. Hier und da wuchsen wieder Tangpflanzen, zwischen denen sich bunt schillernde Fischschwärme herumtrieben, und der Boden glitzerte, als wäre der Sand mit Quarzen und Gneis durchmischt. Die noch immer vorhandenen Felsnadeln wirkten bearbeitet, als habe jemand ihnen Formen gegeben und Löcher hineingetrieben. Und ungefähr hundert Schwimmstöße vor ihm schwang sich ein Gebilde in die lichterfüllte Höhe, das wirkte, als hätte jemand aus mehreren zusammengewachsenen Felsnadeln ein Schloss geschaffen.
Unzählige dünne Steinspitzen erhoben sich daraus wie Türmchen, und die Wände glitzerten in allen Farben, als wäre Edelsteinstaub darauf verteilt worden. Löcher, die zu regelmäßig waren, um Auswaschungen zu sein, führten in das Innere des Felsenschlosses, in dem ein blau-grünes Leuchten die Hohlräume erfüllte. Die Gruppe hielt auf das Schloss zu.
David hatte auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Wann immer er sich umschaute, entdeckte er niemanden, vielleicht die letzten Wirbel von Schwanzflossen der eifrigen Fische.
Jetzt, da das Ziel so nahe war, nahm die Gruppe zügig an Tempo zu. Selbst Rians Schwimmbewegungen waren kräftiger geworden, und David wurde immer verwirrter.
Was geht hier vor sich?
Dicht vor dem Schloss verlangsamte die Gruppe kurz, als wisse sie nicht genau, welchen der zahlreichen Eingänge sie nutzen sollte. Dann steuerten sie auf eines der größeren Löcher zu. David folgte, so schnell er konnte.
Die hinter dem Loch gelegene Höhlung reichte in alle Richtungen tief in das Gestein hinein. Wände und Decke waren rund ausgeformt, zu gleichmäßig, als dass es auf natürliche Weise hätte entstanden sein können, und der Boden war absolut eben. Hier bewiesen Rians Entführer, dass die Flossen ihrer Beine ebenso stabil wie Füße waren, denn sie hatten sich rings um die Elfe niedergelassen, die Speere auf sie gerichtet. Aus dem hinteren Teil der Höhle schossen jetzt weitere Wesen auf sie zu, blitzende Speere in den Händen.
Ohne zu zögern streckte David seinen Dolch vor und stieß auf das erste Wesen zu.