Читать книгу Elfenzeit 4: Eislava - Verena Themsen, Uschi Zietsch - Страница 16

8.
Licht und Schatten

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Ainfar fiepte leise und ließ seine kleine Hand über einen der Gitterstäbe des Käfigs gleiten.

»Ich weiß, Kleiner«, sagte Melemida, ohne die tägliche Umgestaltung des Eingangsraums zu unterbrechen, die zu ihren Aufgaben gehörte. »Aber ich kann dich nicht rauslassen, selbst wenn ich es wollte. Die Königin hat deinen Käfig mit ihrem eigenen Siegel verschlossen. Und damit hast du noch richtig Glück gehabt. Der Getreue hätte dir vermutlich genüsslich jedes einzelne Fellhaar herausgerupft und dann angefangen, dir die Haut in kleinen Streifen abzuziehen, wenn sie es erlaubt hätte.« Sie kicherte kurz. »Ich wüsste ja zu gern, was du dort drinnen gesehen hast …«

Ainfar sank wieder auf seine Hände hinunter und betrachtete Melemida. Die Zweige und Borkenstücke, die sie unter Bandorchus Zorn verloren hatte, wuchsen allmählich wieder nach, und sie wirkte nicht mehr wie ein in den Sturm geratener alter Baum, sondern gewann langsam etwas von der Biegsamkeit und Frische eines Sprösslings zurück.

Die Königin war wütend darüber gewesen, dass sie in den Augen Bandorchus die Aufsicht über Ainfar – oder »Ariàn«, wie sie ihn genannt hatte – vernachlässigt und dadurch ihr Schoßtier in Gefahr gebracht hatte. Sie hatte Melemida übel misshandelt, und die Zofe musste danach für einige Zeit mit den Sammlern auf die Ebene. Doch inzwischen hatte die Königin sie zurückgeholt, und die Dryade ging ihren gewohnten Pflichten nach.

Der Tiermann hätte es verstanden, wenn Melemida ihrerseits ihm das Geschehene nachgetragen hätte, doch es schien, als dächte sie nicht einmal daran. In dieser Welt war ein anschmiegsames Schoßtierchen, wie er es darstellte, etwas, das selten war und daher behütet wurde. Das hatte ihm auch das Leben gerettet, als er staubbedeckt und benommen am Boden von Bandorchus Schlafzimmer nach kurzer Bewusstlosigkeit wieder zu sich gekommen war.

»Er gehört mir! Wage es nicht noch einmal, ihn anzugreifen!« Die schneidende Kälte in der Stimme der Königin hatte Ainfar erschauern lassen. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass der Stiefelabsatz des Getreuen nicht mehr über ihm hing. Mit schmerzendem Kreuz raffte er sich wieder auf, um dorthin zu sehen, wo Bandorchu hoch aufgerichtet stand. Ihr Gesicht war zu einer eisigen, von goldenem Haar wie Flammen umlohten Maske erstarrt, und der harte Blick ihrer Augen bohrte sich förmlich in ihr Gegenüber. Ihre Gedanken hatten um ihren Leib ein feuerrotes Kleid geboren, das ihren Zorn mit den Wellen unterstrich, mit denen der Stoff über ihren Körper wogte.

Auch den Getreuen ließ all das offensichtlich nicht unberührt. Mit gesenktem Kopf stand er leicht gebeugt vor ihr, die Hände in die Ärmel seiner Robe geschoben. Er wirkte, als warte er einen Sturm ab.

»Verzeiht, meine Königin. Ich dachte, es sei nur irgendein Tier, das von draußen hereingeschlüpft sei. Ich konnte nicht ahnen, dass Euch etwas an ihm liegt.« Seine Stimme war sanft, fast schon unterwürfig.

Sie schüttelte unwillig ihr Haar zurück. »Jetzt weißt du es. Und ich erwarte, dass du in Zukunft mein Urteil abwartest, ehe du in meinen Mauern deine Macht gegen einen meiner Untertanen einsetzt.«

Der Kopf des Getreuen hob sich ein Stück, und einen Moment schien es fast, als wolle er widersprechen, als würde es zu einem Messen der Kräfte zwischen ihm und der Herrscherin kommen. Einen scharfen Atemzug lang lag unerträgliche Spannung in der Luft. Doch dann deutete der Dunkle eine Verbeugung an.

»Wie Ihr es wünscht, Herrin.«

Ein Lächeln ließ Bandorchus Gesicht aufleuchten. Sie musterte den Getreuen zufrieden und legte eine Hand auf seine Brust. Die dunkle Robe bebte leicht unter einem Schauder, der den Mann offensichtlich bei dieser Berührung überlief. Er sank vor ihr auf die Knie, und sie legte lächelnd eine Hand auf seinen Kopf.

Dann wandte sie sich Ainfar zu, und etwas von der vorherigen Kälte kehrte in ihren Blick zurück.

»Und nun zu dir, du neugieriger kleiner Störenfried …«

Seither lebte er in diesem Käfig, außer wenn die Königin ihn mit sich nahm. Diese Gelegenheiten schienen allerdings zuzunehmen. Zudem kümmerte sie sich jetzt stets persönlich um ihn, anstatt ihn Melemida zu überlassen. Das gab ihm mehr Gelegenheiten als früher, sich an sie zu schmiegen und sie mit seinem weichen Fell zu liebkosen, oder sie mit seinen großen Knopfaugen anzusehen und all die kleinen Gesten zu vollführen, von denen er wusste, dass sie Bandorchu in Entzücken versetzten. Trotz des Käfigs war er sicher, ihre Zuneigung zurückgewonnen oder sogar über das alte Maß hinaus gesteigert zu haben.

Aber was nützt mir das alles, wenn ich keinen der Momente unbeobachtet bin, in denen ich frei bin?

Er war in mehr als einer Hinsicht aufgewacht, als er das Bewusstsein nach seinem Sturz wiedererlangt hatte. Plötzlich war ihm klar geworden, dass er sich erneut vergessen hatte. Wieder war sein eigentliches Ziel aus seinen Gedanken gedrängt worden durch das Leben, das er hier führte – nur war er dieses Mal in Glückseligkeit versunken anstatt in Lethargie. Wäre seine Neugier nicht gewesen, vielleicht wäre es ihm nie mehr bewusst geworden.

Und nun weiß ich Dinge, die lebenswichtig sind für Fanmór und das Reich der Crain, und kann sie nicht weitergeben. Ich kann nicht einmal nach einem Weg suchen, es zu tun.

Wären es nur die Gitterstäbe gewesen, hätte Ainfar leicht die Gestalt zu etwas noch Kleinerem wechseln können, um hinaus zu schlüpfen. Doch mit ihrem Siegel hatte die Königin einen Bann um den Käfig gelegt, der ihm nicht einmal erlaubte, die Nase zwischen den Stäben hindurch zu stecken. So half es ihm auch nicht, dass niemand ahnte, wie er wirklich in Bandorchus Zimmer gelangt war. Alle gingen davon aus, dass er gemeinsam mit dem Getreuen durch die Tür geschlüpft war und sich die ganze Zeit dort aufgehalten hatte.

Wäre er nur frei gewesen, dann hätte er alles Wissen sammeln können, das Fanmór brauchte. Das Netz dieser kleinen Schlitze, die in der Zitadelle verteilt waren, hätte ihm erlaubt, unbemerkt überall hinzugehen, alles zu belauschen und zu beobachten …

Und wozu? Mit wem willst du dein Wissen teilen?

Ainfar ließ den Kopf hängen, trottete in die Mitte des Käfigs und rollte sich zusammen. Solange er keinen Weg fand, Verbindung zu Regiatus aufzunehmen, war alles Sammeln von Wissen nur Vorwand, um das Leben im Schattenland nicht als ganz so sinnlos zu empfinden. Und es war nicht das schlechteste Leben, das er führte, das musste er zugeben. Er hatte keine Verpflichtungen, außer die Königin zu erfreuen, konnte mit ihr an der Tafel speisen und in seinem goldenen Käfig auf einem Lager aus Seidenstoff und weichem Nymphenhaar schlafen.

Der einfachste Weg wäre, dem Vergessen nachzugeben und zu werden, was er bisher nur vorgab zu sein. Er würde ohnehin nie einen Weg hinaus finden. Nichts verließ das Schattenreich, außer denen, für die die Königin mühsam ein Tor öffnete.

Aber muss ich denn selbst gehen? Sie schickt Diener, die in ihrem Auftrag handeln – könnte ich nicht vielleicht ebenso einen Boten schicken, anstatt selbst zu gehen?

Der Gedanke ließ ihn sich aufsetzen.

Warum sollte es nicht möglich sein? Sie erschuf die Tore hier, in ihren Gemächern. Er konnte versuchen, in solch einem Moment etwas hinauszuschmuggeln. Aber dafür musste er erst wieder aus diesem Käfig herauskommen. Er brauchte Freiheit … und er musste dafür der Königin womöglich noch näher kommen.

»Hier, mein Kleiner. Ein Nachtisch.« Zwischen ihren schlanken Fingerspitzen hielt Bandorchu ihm eine Wurzel hin.

Ainfar richtete sich dort auf, wo er neben ihrem Teller in der Mitte der oberen Tafel saß, an der er selbst früher einmal bedient hatte. Andere begleiteten jetzt die Schüsseln und Platten mit ihrem Singsang und legten der Königin und ihrem Hofstaat vor. Und Ainfar wurde nun bedient, von niemand anderem als der Königin selbst.

Seine kleinen Pfoten griffen nach dem Wurzelstück, während er der Herrscherin einen langen Blick aus glänzenden schwarzen Knopfaugen schenkte und dabei mit der Nasenspitze zuckte. Sie lächelte.

»Immer bedacht, mir zu gefallen. Du bist wirklich der treueste meiner Untertanen.« In ihrer seidigweichen Stimme klang ein gurrender Unterton mit, der Ainfars Innerstes erzittern ließ. Irgendwo in ihm klang der alte betäubende Kreisgesang wieder auf … sie mag mich … sie genießt meine Nähe … Er blinzelte und drängte es zurück.

Nicht wieder vergessen. Ich darf mich nie wieder vergessen. Ich habe ein Ziel.

Er senkte den Blick auf die Wurzel und konzentrierte sich darauf, sie auf manierlichste Weise zu verspeisen, zum Entzücken der Königin und aller anderen Wesen am Tisch, die mit leisen Freudenlauten jede seiner Bewegungen kommentierten.

Schranzen, dachte Ainfar abfällig. Wie viele von ihnen meinen wohl, was sie sagen, und welche hoffen nur, auf diesem Weg der Königin zu gefallen?

Er schob sich den letzten Bissen Wurzel in den Mund, leckte die Finger ab und sah zu Bandorchu auf. Erneut ließ er die Nasenspitze zucken und streckte sie ihr entgegen.

»Du kleiner Strolch, du bettelst ja … aber wenn du noch mehr isst, passt du irgendwann nicht mehr durch die Käfigtür.«

Ainfar zuckte zusammen, als er das Wort hörte, ließ sich auf seine Vorderpfoten sinken und sah die Königin aus großen Augen an. Sie lachte auf und ließ ihren Zeigefinger über seinen Rücken gleiten. Er streckte den Körper, um den Moment der Berührung zu verlängern, und hob den Kopf, um seine Wange an ihrer Hand zu reiben. Bandorchu beugte sich vor und sah ihm in die Augen.

»Also gut, kleiner Racker, du hast gewonnen«, flüsterte sie. »Kein Käfig mehr für dich. Aber ich werde trotzdem dafür sorgen, dass du keine ungeplanten Ausflüge mehr unternimmst. Ich werde dich nämlich keinen Moment mehr aus meiner Nähe lassen.«

Ainfar glaubte, sein kleines Herz müsse zerspringen.

Keinen Moment ohne sie … Er hatte die Glückseligkeit erreicht.

»Und damit ich sicher sein kann, dass du dich nicht doch davonstiehlst, werde ich dich an die Leine legen.«

Sie musste es erdacht haben, während er nur in ihre Augen gesehen und wenig Acht auf die Berührung ihrer Finger an seinem Hals gegeben hatte. Doch nun lösten sich ihre Fingerspitzen, und die Wärme wurde durch etwas Kaltes, Hartes ersetzt. Erschrocken hob er die Pfoten zu dem Ding an seinem Hals und versuchte, dorthin zu schielen.

»Oh, was für ein edles Halsband.« Eine Hofdame schlug mit entzücktem Gesichtsausdruck die Hände zusammen. »So hübsche Kristallsplitter, und ganz in Silber gefasst, und … ist das Rote darunter Seide oder Haut?«

Ainfar schüttelte sich bei dem Gedanken, es könne die Haut irgendeines Wesens aus den Katakomben sein.

»Seide«, antwortete Bandorchu und streckte erneut die Finger aus, um Ainfar am Halsband hochzuheben. Einen Moment glaubte er, ersticken zu müssen, als er in der Luft hing, doch dann setzte sie ihn auf ihrer Handfläche ab.

»So, mein kleiner Ariàn. Mit diesem Band wirst du dich nie weit von mir entfernen können, es sei denn, ich wünsche es so. Und jetzt begeben wir zwei uns zur Ruhe.«

Sie erhob sich und ließ ihn in eine hinzugedachte Tasche in ihrem weiten Ärmel gleiten. Ein Freudentaumel erfasste ihn und zündete ein Feuerwerk in seinem Kopf, während ihr weiches Dahingleiten ihn sanft im Stoff ihres Gewandes schaukeln ließ.

Sie mag mich … sie will mich bei sich haben … sie teilt ihr Bett mit mir …

In diesem Moment wollte er mit keinem Wesen innerhalb oder außerhalb des Schattenlands tauschen.

Eng zusammengerollt lag Ainfar auf der seidigen Decke, hineingekuschelt in die Kniebeuge seiner Königin. Wie schon so oft ließ er seinen Blick ihre sich als schlanke Formen abzeichnenden Beine hinaufwandern, bis zu jener Stelle, an der sie sich vereinten. Keine Nacht verging, in der ihr Duft, das Geräusch ihres Atems, die Nähe ihrer Haut und die leisen Laute, die sie gelegentlich im Schlaf von sich gab, ihn nicht in Träume voller Leidenschaft warfen. Wie oft hatte er schon mit dem Gedanken gespielt, sich als Maus des Halsbandes zu entledigen während sie schlief und sich dann in seiner wahren Gestalt zu ihr zu gesellen.

Er schloss die Augen, und seine Nase zitterte, während er ihren Geruch einsog und sich seinen Fantasien hingab. Ihre Haut zu berühren, ihren Atem einzusaugen, während seine Lippen sich ihren näherten, mit seinen Fingern ihre Brüste zu umstreichen, bis die Höfe sich zusammenzogen und die Brustwarzen der kühlen Luft entgegenhoben …

Bandorchu stöhnte leise und streckte die Beine aus. Ainfar schreckte auf. Die näher rückenden Beine schoben ihn aus seiner Kuhle und drückten ihn so tief in die seidigen Falten, dass er in Gefahr geriet, zu ersticken. Strampelnd befreite er sich von dem Stoff und krabbelte vom Körper der Königin weg. Alle Träume darüber, was seine Hände und seine Lippen auf ihrer Haut tun würden, waren wie weggeblasen. Hastig kletterte er zu den Kissen hinauf, die am Kopfende des Bettes verteilt waren, und brachte sich auf einem von ihnen in Sicherheit, während Bandorchu sich umdrehte. Ihr Gesicht wandte sich ihm zu, und die Elfe schlug die Augen auf.

Wie immer fühlte Ainfar sich sofort von ihrem Blick gebannt.

»Ariàn«, murmelte sie und streckte die Hand aus, um über sein Fell zu streichen. Die Berührung jagte einen wohligen Schauer über seinen Rücken. Im nächsten Moment setzte sie sich auf, und ein Funkeln trat in ihre Augen.

»Er kommt zurück«, flüsterte sie. »Ich spüre ihn. Er hat das Tor durchschritten, das ich für ihn erschaffen habe.« Hastig stand sie auf und hüllte sich mit nicht mehr als einer Handbewegung in ein Gewand von demselben Smaragdgrün wie ihre Augen. Ainfar setzte sich auf. Die Gier, die in ihrem Ausdruck lag, machte ihm Angst. Falten und Schatten entstanden in ihrem Gesicht, als wolle die Haut sich straff über den Knochenschädel spannen, wie bei einer lebenden Toten. Das Leuchten der Augen schien auf einmal aus tiefen, dunklen Höhlen hervorzudringen.

»Endlich. Endlich erhalte ich wieder Nahrung …«

Ainfar blinzelte und setzte sich auf. Unwillkürlich entfuhr ihm ein fragendes Fiepen.

Bandorchu drehte sich um, und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder weich, als ihr Blick auf ihn fiel. »Ja, du magst dich wundern. Du brauchst nichts für deine Ernährung als Essen und Trinken. Aber ich brauche mehr. Materie allein kann meinen Hunger nicht stillen, kleiner Silberling, und keine Reiche erschaffen wie das meine hier.« Sie breitete die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst. »Es benötigt wahre Macht, nicht nur ein wenig Begabung im Umgang mit Magie. Und wahre Macht braucht wahre Nahrung …«

Die sonst so reine Stimme erhielt einen kratzenden, gierigen Unterton, der die Schönheit verzerrte und entstellte, sie ins Gegenteil verkehrte, stärker als wenn sie von grundsätzlicher Hässlichkeit gewesen wäre. Ainfar kuschelte sich wieder in sein Kissen. Diese Bandorchu wollte er nicht sehen und nicht hören! Sie musste schön sein, immer schön!

Es war der Getreue, der diese Hässlichkeit in ihr hervorlockte. Er war schuld an allem, da war sich Ainfar nun sicher. Auch wenn er immer noch nicht begriff, wovon seine Königin sprach, es war klar, dass es etwas mit diesem Fremden zu tun hatte, der sich in die Gemeinschaft um Bandorchu gedrängt und den Platz als Favoriten an ihrer Seite beansprucht hatte.

Wie sehr Ainfar ihn hasste!

Ainfar nagte an der Nuss, die Bandorchu ihm gegeben hatte, und sah immer wieder zu der Tür, die zum innersten Gemach der Königin führte. Seit sie von der Audienz mit dem Getreuen zurückgekehrt waren, hatte sie sich darin eingeschlossen. Ainfar hatte sie in ihrem privaten Wohnraum davor gelassen, den er wegen des roten Halsbands nicht ohne ihren Willen verlassen konnte. Aber im Gegensatz zum Käfig würde hierbei eine einfache Verwandlung genügen, um das zu umgehen. Doch noch zögerte er.

Er dachte mit Schaudern an die Audienz zurück. Die Gegenwart des Getreuen jagte ihm nach wie vor Angst ein, und einen Moment hatte seine Nähe alle Pläne Ainfars sinnlos erscheinen lassen. Doch er hatte den Moment überstanden, und mehr denn je war er jetzt entschlossen, alles herauszufinden, was von Bedeutung sein mochte.

Und das, was der Getreue der Königin übergeben hatte, mochte von Bedeutung sein, auch wenn Ainfar noch nicht begriff, warum und wie. Aber die aufflackernde Gier, mit der sie den Sack bei der Übergabe betrachtet hatte, und die Hast, mit der Bandorchu danach in ihre Gemächer zurückgekehrt war, sagten Ainfar eindeutig, dass er das enthielt, weswegen sie die Rückkehr des Getreuen so herbeigesehnt hatte.

Ainfar fragte sich, was in dem Sack sein mochte. Etwas Lebendes auf jeden Fall, denn das Gewebe hatte sich immer wieder ausgebeult, als versuche etwas verzweifelt, daraus zu entkommen. Als Erstes waren ihm kleine Tiere in den Sinn gekommen, aber das hätte nicht die starke Aura gerechtfertigt, die den Sack umgab. Es war etwas darin, das von gewöhnlichem Stoff nicht gehalten werden konnte. Ein Geisterwesen vielleicht?

Er würde es nicht wissen, bis er es gesehen hatte.

Ainfar schloss die Augen. Es wurde Zeit, seinem Plan zu folgen und mehr herauszufinden. Es war gefährlich, sicher – aber was wären seine Pläne noch wert, wenn er nicht bereit war, Gefahren dafür auf sich zu nehmen?

Er löste das Bewusstsein seiner jetzigen Gestalt auf, das er im hintersten Winkel seines Denkens festhielt, und ersetzte es durch das einer neueren, kleineren: Eine winzige graue Maus, wie sie überall zuhauf vorkamen, als scherten sie sich nicht um Grenzen von Welten und Zeiten und seien die eigentlichen Herrscher des Universums. Er umfasste das Bild und gab ihm die Energie, die es brauchte, um Wahrheit zu werden.

Seine Haut zog sich zusammen, und ein schmerzliches Fiepen entkam seinen Mund, ehe er es aufhalten konnte. Mit spürbarem Knirschen verschoben seine Knochen sich, ehe sie schrumpften, und etwas schob sich schmerzhaft am Steißbein aus seinem Körper. Er verlor das Gleichgewicht. Spastische Zuckungen durchliefen seinen Körper. So lange lag die letzte Verwandlung zurück, dass er fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte, wie viel zerrender Schmerz darin lag. Es war nur ein kurzer Moment, doch einer, der sich in die Ewigkeit zu dehnen schien.

Die Tasthärchen um seine Nase zitterten, als er die Augen wieder öffnete. Ihm wurde schwindelig beim Anblick des plötzlich ins noch Größere verzerrten Raumes, obwohl der Unterschied in der Größe gering war gegen das, was er bei der Aufgabe seiner Elfengestalt erlebt hatte. Doch vielleicht war es gerade das fast-richtig, das die Wahrnehmung verschlimmerte – als sähe man durch ein Wasserglas. Alles blieb erkennbar und war dennoch verzerrt und in falscher Perspektive.

Hastig trippelte Ainfar aus dem Halsband heraus, kauerte sich hin und leitete die Rückverwandlung ein. Jede Nutzung von Magie mochte ihn verraten, doch als Maus würde es ihn zu viel Zeit kosten, die Schlitze zu erreichen. Dieses Mal auf den Schmerz vorbereitet gelang es ihm, ihn auszublenden. Erleichterung durchströmte ihn, als er die Augen wieder öffnete und alles erneut so war, wie er es gewohnt war.

Im nächsten Moment jagte er auch schon über den Boden und sprang über Stuhl und Tischchen zu den Wandverzierungen hinauf, die ihm erlaubten, die gebogenen Schlitze zu erreichen. Er erinnerte sich noch klar an seinen ersten Ausflug, als er den Zugang zum Schlafgemach gesucht hatte. Einer seiner Fehlwege hatte ihn in den Raum geführt, in den er nun wollte, und er hatte sich den Weg sorgfältig eingeprägt. Ainfar huschte hinaus in das grelle Licht und die scharfen Schatten, die über die Wände des dunklen Kristallpalastes huschten, orientierte sich einen kurzen Moment anhand der Stuckaturen und schlüpfte dann durch ein schmales Loch.

Ein hoher, klagender Ton empfing ihn, der seine Härchen sich aufstellen ließ. Zuerst hielt er es für ein Geräusch des Windes, der sich an einer Mauerverzierung fing. Doch je weiter er durch die Mauer drang, umso deutlicher wurde der Laut, und umso mehr fuhr er ihm in die Knochen.

Wie die Klage einer Banshee, dachte er.

Schließlich erreichte er das Ende des Tunnels. Er streckte den Kopf hinaus und sah sich um, doch die Wandfläche war hier so geneigt, dass sich ihm lediglich eine Ecke des düsteren, von flackerndem Licht erfüllten Raums offenbarte. Die Schlitze waren offensichtlich Teil eines Reliefs, das er nicht genau erkennen konnte. Es schien jedoch genug Halt zu bieten, dass er nicht in den Raum fallen würde.

Mühsam zwängte Ainfar sich durch die Öffnung, die gerade groß genug war für seinen Körper, und fand sich in der Darstellung eines Käfigs wieder, in dem Skelette und halb verweste Kadaver mit gebrochenen Knochen und schwärenden Wunden hingen. Der Anblick ließ in ihm Übelkeit aufsteigen, und sein erster Impuls war, sich wieder zurück in den Gang zu schieben.

Was für ein Wesen kann derartige Freude an Grausamkeit haben, dass es solche Bilder in seinen Gemächern haben will? Hat Bandorchu etwa ebenso viel Freude am Leid anderer, wie man es dem Getreuen nachsagt? Ich dachte immer, sie sei nur so hart wie es erforderlich ist, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten … doch das hier ist mehr als das!

Der Ton, der Ainfars Weg durch den Tunnel begleitet hatte, war in ein leiseres Wimmern übergegangen. Er löste den Blick von den Schreckensbildern um ihn herum und drehte den Kopf zum Raum, um herauszufinden, welches gequälte Wesen diesen Laut hervorbrachte.

Er sah direkt in die schreckgeweiteten Augen Bandorchus.

Ainfars Herz setzte für einen Schlag aus, dann begann es vor Angst zu rasen.

Sie sieht mich …

Doch es wirkte nicht, als würde die Königin ihn wahrnehmen, denn sie zeigte keinerlei Reaktion. Es war Zufall gewesen, der seinen Blick dem ihren hatte begegnen lassen. Ihre Augen huschten durch den ganzen Raum, während ihre Hände immer wieder tastend über ihr Gesicht glitten.

»Was ist nur aus mir geworden«, flüsterte sie. »Wer bin ich … was bin ich …«

Der Sack, den sie vom Getreuen erhalten hatte, lag zu ihren Füßen, leer, soweit Ainfar das beurteilen konnte. Sie taumelte ein wenig, trat darauf und geriet ins Rutschen, fing sich jedoch sofort wieder. Ein Ausdruck schierer Panik breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie auf das schwarze Tuch hinunter sah.

»Seit wann brauche ich das? Wann bin ich so geworden? Wie konnte das geschehen?«

Es war der reine helle Klang von Bandorchus Stimme, doch es war, als würde eine andere sie benutzen. Niemals hatte Ainfar die Stimme in dieser Art zittern oder brechen hören. Niemals zuvor hatte er Verzweiflung oder vielmehr abgrundtiefen Horror darin gehört.

»Was für ein … Unding bin ich geworden?«

Erneut fuhren ihre Finger über ihre Wangen, krümmten sich und hinterließen rote Striemen. Ihre Augen quollen so sehr hervor, dass Ainfar glaubte, sie müssten im nächsten Moment als grüne Kristalle herausfallen. Doch stattdessen löste sich lediglich glasklares Wasser, rann über ihre Haut und fiel in glitzernden Tropfen zu Boden, um dort aufzuplatzen und in winzigen Spalten und Rissen zu versickern.

»Was für ein Monster frisst Seelen, um die eigene Macht zu erhalten?«, flüsterte sie.

Kälte fuhr in Ainfars Knochen, als stünde der Getreue neben ihm.

Seelenfresser?

Wenn es das war, was Bandorchus Macht erhielt, dann hatte sie wirklich die letzte Grenze überschritten. Dann war sie nicht mehr als ein Monster.

Aber was geschieht hier?

Bandorchus Kopf fuhr herum. Sie musterte die Steinwächter, die als bedrohliche Schatten in den Ecken standen, und die umherschwirrenden Kristallwespen, mit denen Bandorchu kürzlich die Herztöter ersetzt hatte. Sie verhielten sich unruhig, als spürten sie, dass mit ihrer Herrin etwas nicht stimmte. Einen Angriff wagten sie jedoch nicht.

Bandorchus Blicke streiften die Wände, irrten weiter, als wolle sie nicht sehen müssen, was sich ihr dort bot. Schließlich warf sie den Kopf zurück, legte die Hände an die Ohren und schloss die Augen, als sei ihr alles um sie herum unerträglich. Die Perlen auf ihrem hochgetürmten Haar lösten sich und fielen wie ein milchiger Regenschauer zu Boden, während die gelöstem goldenen Strähnen ihnen wie ein Sturzbach folgten. Erneut stieg der Klagelaut aus ihrer Kehle auf.

»Ich will das nicht … das bin nicht ich! Ich bin Gwynbaen … ich bin Gwynbaen …«

Ainfars Magen zog sich zusammen. Gwynbaen! Wie lange hatte er diesen Namen nicht mehr gehört?

Seit sie im Schattenland lebten, hatte die Königin sich nur noch Bandorchu nennen lassen, die Dunkle Frau. Ainfar erinnerte sich vage an die Frau, die sie vor dem Krieg gewesen war. Er hatte sie nur einmal gesehen, doch damals hatte sie Güte und Weisheit ausgestrahlt, und eine Wärme, die nichts mit dem Begehren zu tun hatte, das jetzt so viele an sie band. Er war stets der Meinung gewesen, er wäre damals einer Täuschung erlegen, einer bewussten Illusion. Doch nun verdichtete sich die Annahme, dass es die wahre Gwynbaen gewesen war. Was hatte sie so sehr verändert? Was hatte sie in den Krieg getrieben, der so viele Elfen das Leben gekostet hatte?

Ein Knurren ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Bandorchu hatte den Kopf wieder gehoben, und ihr Gesicht hatte sich erneut verändert, strahlte Winterkälte aus. Ihre Finger tasteten über die Kratzer, die sie sich selbst zugefügt hatte, die Haut schloss sich darunter und nahm wieder die gewohnte blasse Tönung an. Sie schnaubte verächtlich.

»Warum muss einem jeglicher Genuss verleidet werden!«, fragte die Königin mit schneidender Stimme den leeren Raum. Sie hob die Hand, und eine der Kristallwespen ließ sich mit zufriedenem Surren darauf nieder. »Egal. Ein wenig Ruhe noch, um zu genießen, dass ich endlich wieder satt bin … und dann werde ich meinen treuesten Diener belohnen.«

Ainfar hatte genug gesehen. Bandorchu würde bald den Raum verlassen und sein Fehlen bemerken. Hastig drückte er sich durch den Schlitz, rannte und schlitterte durch die Schächte zurück in den Vorraum und ließ sich auf den Boden hinunter fallen. Direkt an das rote Stofffutter gedrückt begann er die Verwandlung und stoppte, als er merkte, dass der Kopf noch nicht richtig durch das Halsband gedrückt war. Er schob den Kopf in Position und setzte die Verwandlung fort. Dann ließ er sich erschöpft sinken. Wellen von Schwindel trieben über ihn hinweg, die nicht nur von der Anstrengung kamen, sondern auch von dem, was er gesehen hatte.

Die Tür zu Bandorchus Gemach öffnete sich, und sie kam heraus. Ihre Haare waren wieder in verschlungenen Flechten hochgesteckt und mit Perlen und Smaragden verziert, die mit ihren Augen um die Wette leuchteten. Eine spürbare Aura der Macht umgab sie, und die Sattheit, die sie ausstrahlte, ließ Ainfars Magen sich zusammenziehen, als sie sich hinunterbeugte, um ihn zu kraulen.

»Du musst noch etwas warten«, gurrte sie. »Ich erwarte Besuch und muss mich gebührend darauf vorbereiten. Sobald er sich verabschiedet hat, bist du wieder mein einziger Schatz.«

Ainfar zwang sich, in gewohnter Weise seine Nase an ihrer Hand zu reiben. Sie lächelte ihn an, erhob sich und verschwand in ihr Schlafgemach. Der Tiermann hatte keine Zweifel, wer sie dort bald besuchen kommen würde. Vorsorglich verkroch er sich unter einem der Schränke. Das Letzte, was er jetzt ertragen konnte, war eine weitere Begegnung mit dem Getreuen.

Gwynbaen, dachte er. Sie lebt, irgendwo unter all der Kälte und Grausamkeit, die Bandorchu ausmachen. Und der Seelenfraß hat sie geweckt. Vielleicht gelingt es mir, sie das nächste Mal dauerhaft wach zu halten. Wenn es gelingt, die Veränderung rückgängig zu machen … und wenn ich Regiatus das mitteilen kann, dann nimmt es doch noch ein gutes Ende.

Erschöpfung überwältigte Ainfar, und er sank in einen unruhigen Schlaf.

Elfenzeit 4: Eislava

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