Читать книгу Lebendige Seelsorge 1/2022 - Verlag Echter - Страница 6
„OH, WIE GROSS IST DER PRIESTER!“
ОглавлениеDie Antwort lautet: Ich wusste zu diesem Zeitpunkt gar nicht, dass ich mich wehren kann, ja darf – schon gar nicht gegen einen Kleriker! Das lag völlig jenseits meiner Vorstellungskraft! Ich bin in einer katholisch-fundamentalistischen Gruppierung aufgewachsen, in der noch in den 90er Jahren ein Priesterbild vorherrschte, das für lange Zeit auch in der gesamten katholischen Kirche gang und gäbe war (und das in bestimmten Kreisen gerade eine beunruhigende Renaissance erlebt).
Priester wurden durch ihre vermeintlich wesensverändernde Weihe den normalen, weltlichen Menschen entrückt und mit dem Nimbus der Heiligkeit, der moralischen Überlegenheit und der Unantastbarkeit versehen. Sie standen in der absolutistischen Kirchenhierarchie ganz weit oben und das Gottesvolk war ihnen zu völligem Gehorsam verpflichtet. Darüber hinaus hatten sie durch ihre uneingeschränkte Pastoralmacht, wie Michel Foucault sie bezeichnet hat, die völlige Herrschaft über die Seelen und den Intimbereich ihrer Gläubigen inne. Das wichtigste Herrschafts- und Kontrollinstrument hierfür war das Bußsakrament, sodass „der Beichtstuhl für die Pastoralmacht fast wichtiger noch als der Altar“ (Bucher, 89) war.
Als ‚Schutzpatron‘ dieses hochproblematischen Priesterbildes gilt Jean-Marie Vianney, der Pfarrer von Ars, von dem folgende Worte überliefert sind: „Oh, wie groß ist der Priester! Wenn er sich selbst verstünde, würde er sterben. Gott gehorcht ihm. […] Nach Gott ist der Priester alles!“ (zitiert nach Benedikt XVI.). Diese klerikalistische Vormachtstellung und dieses sakralisierte und überhöhte Priesterbild stattete die Gottesmänner mit einer immensen und unkontrollierten Machtfülle und somit auch mit umfangreichen Manipulations- und Zugriffsmöglichkeiten aus. All das stellte eine hochproblematische bis gefährliche Kombination dar – wie ich es auch leidvoll erleben musste und es ebenso diverse Missbrauchsstudien in den letzten Jahren bewiesen haben. So führt beispielsweise die MHG-Studie an: „In diesem Zusammenhang wird für sexuellen Missbrauch im Kontext der katholischen Kirche der Begriff des Klerikalismus als eine wichtige Ursache und ein spezifisches Strukturmerkmal genannt. […] Klerikalismus meint ein hierarchisch-autoritäres System, das auf Seiten des Priesters zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position innehat. Sexueller Missbrauch ist ein extremer Auswuchs dieser Dominanz“ (MHG-Studie, Zusammenfassung, 10).
Ich wusste zu diesem Zeitpunkt gar nicht, dass ich mich wehren kann, ja darf – schon gar nicht gegen einen Kleriker!