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Kenosis im Gebet: auf dem Hocker mit Jesus sterben
ОглавлениеDiese theologischen Überlegungen sind nun in die Praxis des Centering Prayer, welche sich direkt daraus speist, zu übersetzen. „Kenosis auf dem Hocker“, also in der Zeit des Gebets, ist eine Einübung in die Haltung der non-possessiveness, wie sie in der göttlichen Trinität und im Leben Jesu Christi in vollendeter Form verwirklicht wird. Dies passiert in der Sichtweise Keatings unter dem Vorzeichen des „Falschen Selbst“17. Unter dem Falschen Selbst versteht Keating bestimmte Muster, bestehend aus Kompensationsmechanismen der frühen Kindheit. Diese musste sich der Mensch aneignen, um die Frustration, Nicht-Erfüllung oder gar Vernachlässigung seiner Bedürfnisse nach Sicherheit, Anerkennung und Selbstwirksamkeit ausgleichen zu können.18 Bis zu einem gewissen Alter sind diese Mechanismen überlebensnotwendig, werden im Laufe des Erwachsenwerdens aber dysfunktional. Ergänzt (und verschärft) wird dies durch die Überidentifikation mit der eigenen Gruppe – Familie, Peers, Glaubensgemeinschaft etc. – und deren Werten. Die Kombination dieser beiden Komponenten verstrickt den Menschen in ein Netz aus egozentrischen Bedürfnissen, an deren Wurzel für Keating jedoch der separate-self sense steht: das Gefühl, von Gott getrennt zu sein. Dieses stellt nach Keating allerdings die größte Illusion des Menschen dar!19
Auf diesem Hintergrund besteht ein großer Teil der spirituellen Reise im Loslassen von „emotionalem Müll“20, wie Keating es nennt. Hierfür spielt die Form der Methode des Centering Prayer eine zentrale Rolle: In den zweimal 20–30 Minuten, welche die Betenden der Übung täglich widmen sollten, geht es um Absicht (intention), Einwilligung (consent) und Hingabe (surrender). Die Keating’sche Unterscheidung zwischen Gebetsmethoden, die einerseits den Fokus auf Aufmerksamkeit (attention) und andererseits auf Absicht (intention) legen, ist hier entscheidend: Das Centering Prayer ist keine konzentrative Methode, um den Geist auszurichten. Sie beruht vielmehr darauf, die Absicht zu erneuern, sich in der Zeit des Gebets ganz für die Präsenz und das Wirken Gottes zu öffnen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Bedeutung des Heiligen Wortes („sacred word“21), welches von den Betenden innerlich gesprochen wird, wenn Gedanken22 auftauchen bzw. sie sich darin verstricken. Es ist kein Anker und keine Stütze, sollten die Gedanken übermächtig sein, es ist auch kein Mantra oder – wie Bourgeault es ausdrückt – „Minenräumgerät zur Vertreibung anderer Gedanken“23. Es ist ein Symbol oder Platzhalter für die eigene Intention, die Zeit Gott zu schenken und sich seiner Führung zu überlassen.
Durch dieses „Design“ wird das Falsche Selbst aufgelöst. Den Betenden bleibt gewissermaßen nichts anderes übrig, als sich in Hingabe dem Wirken Gottes zu überlassen: „Waiting for God, living with the feeling of powerlessness, is perhaps the most direct path to the resolution of these opposites and to inner peace. To be powerless is to accept and welcome all the consequences of being powerless.“24 Im „Herausschwitzen“25 des emotionalen Mülls und aller Anhaftungen des Falschen Selbst sind die Betenden nicht nur bei der Kreuzigung Jesu anwesend, sondern werden mit ihm ans Kreuz geschlagen. Noch mehr: Sie wirken so auch an der Erlösung der Menschheit mit.26 Auf diese Weise geraten Gebetszeiten zu einem „Sterben auf dem Hocker“, bei dem die Verhaftungen des Falschen Selbst und dessen Wurzel, der separate-self sense, herausgerissen werden. Positiv gewendet bedeutet diese kenotische Übung die Ermöglichung von Selbstüberschreitung, da die Fallstricke des Falschen Selbst, über die der Mensch immer wieder stolpert, gelöst werden.
Um ein umfassendes Bild von der Tiefe dieses Prozesses des Loslassens zu bekommen, sind an dieser Stelle noch zwei Ergänzungen notwendig: Für Keating ist es zentral, alle Arten von Gedanken27 loszulassen. Dazu gehören auch solche, die in anderen Formen von geistlichen Übungen als Anlass für intensive Selbstreflexion oder Gewissenserforschung verwendet würden. Im Kontext des Centering Prayer ist die Haltung der non-possessiveness auch gegenüber negativen oder unangenehmen Eigenschaften einzuüben. Das Anklagen oder Beweinen der eigenen Unzulänglichkeiten, die den Glaubensakt betreffen, ist für Keating nicht zielführend, da sie die Betenden nur auf sich selbst zurückwerfen und der wirklichen kenosis im Weg stehen. Die wahre „Bußübung“ liegt darin, sich selbst zu verzeihen, dass man Mensch und nicht Gott ist.28
Sowohl Keating29 als auch Bourgeault30 unterstreichen besonders einen zweiten – kontraintuitiven – Punkt, nämlich das Loslassen frommer Gefühle und Erfahrungen. Dies gilt für Gefühle des Gehaltenseins genauso wie für Botschaften31, welche als Privatoffenbarungen gedeutet werden könnten. Auch das sind „Gedanken“, die es genauso loszulassen gilt wie das mentale Schreiben des Einkaufszettels. Mit Cynthia Bourgeault ist festzuhalten, dass im Kontext des Centering Prayer „Kenosis (…) Schlüssel zu allem“32 ist; es ist „Kenosis in Meditationsform“33. Sie legt den Fokus so sehr auf die „kenotische (…) Erdung“34 des Centering Prayer, dass nicht mehr die Intention der Hingabe an Gott und sein Wirken das Entscheidende sind, sondern „das Loslassen selbst (…) die ganze Bedeutung des Gebets“35 ist.
Die non-possessiveness als Übersetzung der kenosis in eine (kontemplative) Haltung wird also im Kontext des Centering Prayer radikal ernst genommen und eingeübt, um tatsächlich alle Formen des Verhaftetseins zu lösen. Die mentalen und manchmal sogar physisch wahrnehmbaren Schmerzen, welche dabei entstehen können, gilt es (auch sie sind „Gedanke“) loszulassen. Keating unterscheidet freilich klar zwischen einem Leiden auf dem Hocker und einem Leiden außerhalb der Gebetszeiten. Zu leicht könnte die Praxis des Centering Prayer als in den Masochismus abgleitende Form der Meditation missgedeutet werden.