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Kenosis und Alltag: hingebungsvoll die Welt gestalten

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Die bisherigen Ausführungen stellen allerdings – und dies mag verwundern – nicht das Wesentliche an dieser Form des Gebetes dar. Bourgeault schreibt ganz unverblümt: „[D]ie Relevanz dieses Gebets [findet sich; KK] nicht während der Gebetszeit selbst“36. Denn Ziel ist nicht die mystische Erfahrung – welche aus einer Haltung einer spirituellen non-possessiveness37 auch nicht angestrebt werden soll –, sondern die in der Gebetszeit eingeübte kenotische Haltung in den Alltag zu integrieren und so immer mehr Christus gleichgestaltet zu werden. Die Hingabe an Gott und das Aufgeben der eigenen verkrusteten Vorstellungen, wie dieser Gott zu sein hat und wie das eigene Leben verlaufen soll, kann nur in jedem Augenblick des Alltags gelebt werden. Dabei erhalten gerade die unscheinbaren Tätigkeiten eine enorme Bedeutung, da man für sie keine Anerkennung erhält. Und doch sind sie durchdrungen von der Präsenz Christi, welche den separate-self sense heilt und so jeden Moment zu einem heiligen Moment macht.

Keating beschreibt es folgendermaßen: „Thus, even if we drink a cup of soup or walk down the street, it is Christ living in us, transforming us and the world from within. This transformation appears in the guise of ordinary things and of our seemingly insignificant daily routines.“38 Durch das konsequente Üben des Centering Prayer verändert sich die alltägliche Wahrnehmung, da die Muster des Falschen Selbst angegriffen werden und das Wahre Selbst nach und nach zum Durchbruch gelangt. Die imitatio Christi besteht dann darin: „jeder Lebenssituation mit einer vollständigen, freien Hingabe seiner selbst zu begegnen“39.

Dafür ist es im Alltag – und nicht während der Zeit des Centering Prayer – hilfreich, sich selbst und die Strukturen des eigenen Falschen Selbst immer besser kennenzulernen und dadurch aktiv an dessen „Reinigung“ mitzuwirken. Dabei können die Fragen im Mittelpunkt stehen: Aus welcher Motivation heraus handle ich? Was ist das „Woher“ meiner Handlung?40 Handle ich aus dem Falschen Selbst oder aus einem stillen Punkt in mir und aus einem inneren Frieden? Wer die Strukturen des Falschen Selbst bei sich klarer sieht, kann auch etwas dagegensetzen, nämlich Akte, die dem Falschen Selbst entgegenstehen41. Dabei ist die Raffinesse des Falschen Selbst nicht zu unterschätzen. Es ist sehr anpassungsfähig, um weiter das Narrativ über unser Leben aufrechtzuerhalten, und eine bewusste Distanz dazu kann schwerfallen. Dann bleibt nichts anderes übrig, als dies zu erleiden und ja zu sagen. Hier liegt jedoch für Keating die Unterscheidung von Leiden in und außerhalb der Gebetszeit: In der Zeit des Centering Prayer gilt es, dieses hinzunehmen bzw. loszulassen, durch die Rückkehr zum „Heiligen Wort“. Im Alltag – und dies ist der aktivere Ansatz – geht es darum, die konkrete Situation zu bejahen, um sich so mit der Präsenz Gottes in ihr zu verbinden. Aus dieser Verbundenheit kann dann gehandelt und an der Verbesserung der Situation gearbeitet werden. Aus der kenotischen Haltung der non-possessiveness, welche nicht schon von vornherein alle Antworten besitzt, kann die Mitgestaltung der Welt gelingen.42 Ja zu sagen – auch zum Widerstand und zum Nein – ist also ein wesentlicher Bestandteil einer Weltgestaltung aus Kontemplation, welche zwischen einer quietistischen Duldung und „passive[n] Opferrolle“ einerseits und einem „echten spirituelle[n] Sich-Ergeben“43 anderseits unterscheiden kann.

Geist & Leben 2/2022

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