Читать книгу In der Ferne scheint das Glück - Veronika Danzer - Страница 10
Hoch geflogen
ОглавлениеEin Albtraum: Ich musste eingeschlafen sein, mit dem Kopf auf dem Tisch neben der Nähmaschine. Die Kostüme waren nicht fertig. Da lagen noch die letzten Teile, die ich an den Kopfschmuck für die Pferde nähen sollte.
Noch dreißig Minuten bis zur Show. Ich rannte aus dem Kostümwagen ins Hauptzelt hinter die Bühne. Die Tänzerinnen lachten, als sie mich sahen. Ihre Taillen wirkten perfekt in ihren Korsagen, die kurzen Röcke zeigten ihre langen, schlanken Beine. Mein Kostüm hing noch im Wohnwagen. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, es anzuziehen.
Plötzlich fiel mir meine Schrittfolge nicht mehr ein. Und wann war eigentlich mein Einsatz? Was sollte ich tanzen?
Ich riss die Augen auf. Mein Nacken war steif, meine Beine kribbelten vom langen Sitzen. Irgendwie war ich also doch noch kurz weggenickt.
Das Baby in der Reihe vor mir jammerte schon wieder oder immer noch. In einem Flugzeug gab es leider kein Entkommen. Und das hier war der schrecklichste Flug, den ich je hatte.
Die Anschnallzeichen leuchteten auf, wir setzten zum Landeanflug an. Ich streckte mich im Sitz und versuchte meinen Hals zu lockern.
Ich war froh, nach neun Stunden Flug endlich aussteigen zu können. Als Erstes kramte ich mein Handy aus der Tasche und schaltete es an. Es piepte. Eine Nachricht von meiner Mutter: »Ich muss zu einer Geburt und kann dich nicht abholen. Ruf deinen Vater an.«
Frustriert wählte ich die Nummer meines Vaters und erklärte ihm, dass mich jemand in München abholen müsse.
»Vom Flughafen? Wo kommst du denn her? Das hätte ich gern früher gewusst, du hast Glück, dass du mich gerade erwischst.«
»Eigentlich sollte Mama mich abholen, sie hat aber einen Hebammen-Einsatz.«
Ich hörte lautes Schnaufen. »Gut, es wird aber zwei Stunden dauern, bis ich da bin. Bis dann.«
Ich ließ mich auf eine Bank fallen. Er schien sich auch nicht zu freuen, mich zu sehen, was mich schon wieder an ihn erinnerte, an den ich überhaupt nie wieder denken wollte.
Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, wann ich zuletzt mit meinem Vater telefoniert hatte. Das war Monate her. Da war ich gerade erst aus dem Musical ausgestiegen und hatte ihm nur die wichtigsten Fakten genannt: »Hallo Papa, ich bin aus der Show ausgestiegen, aber es geht mir gut und Robert auch, er tourt weiter.« In der Art etwa. Dann hatte ich eilig auch schon wieder aufgelegt, wahrscheinlich um mich mit ihm zu treffen. Mir drehte sich der Magen um – mein Vater wusste nicht mal, dass ich nicht nur das Pferdemusical, sondern auch Robert zurückgelassen hatte, denn es war nicht Roberts Entscheidung gewesen. Mir war alles zu viel gewesen nach fast fünf Jahren. Und Robert – ich wusste am Ende nicht mehr, was mich noch mit ihm verband. Nichts fühlte sich mehr richtig an.
Aber dann, als ich in meiner neuen Wohnung saß – eine eigene Wohnung, in einem Haus ohne Räder, für mich allein, ohne Crew vor der Tür und ohne Show-Vorbereitung –, fühlte sich das verdammt gut an. Ich stieg hoch wie der legendäre Phönix aus der Asche und nichts konnte mich runterziehen.
Leider hielt der Auftrieb nicht lange an. Ich hatte mich so gefreut, für mich allein zu leben, für nichts und niemanden täglich aufstehen zu müssen. Und plötzlich fiel es mir schwer, überhaupt aufzustehen.
Und dann traf ich ihn. Dunkelblonde, kurze Haare, selbstsicherer Gang, starke Schultern, um die sich das Shirt spannte, der kräftige Hals und die gebräunte Haut – mein Herz schlug schneller. Wenn er mich anlächelte, schoss mir die Hitze in die Wangen, sein Blick ging mir durch und durch, bis in die Magengrube. Das war genau das, was ich gebraucht hatte. Dass ein Mann wie er mich toll fand, riss mir den Boden unter den Füßen weg, auf der Stelle. Ab dem Moment konnte ich meine Augen und meine Finger nicht mehr von ihm lassen. Aber er konnte nicht lange bleiben. Ich hielt es jedoch nicht ohne ihn aus und setzte mich ins Flugzeug nach Las Vegas. Wozu hatte ich denn meine Freiheit, wenn ich sie nicht für eine solche Gelegenheit nutzte?
Das war vor vier Wochen gewesen und jetzt war ich wieder hier in Deutschland. Er hatte recht gehabt: Er hatte mich nicht gebeten, ihm hinterherzufliegen. Ich wollte mich einfach nur verkriechen und nie wieder ans Tageslicht kommen. Dummheit musste ja bestraft werden und das hatte ich in dem Fall gleich selbst erledigt. Nicht mal mehr eine Wohnung hatte ich jetzt und musste wie ein Teenager meine Eltern fragen, ob sie mich abholten.
Ich steckte mein Handy in die Handtasche und griff automatisch nach der Zigarettenschachtel – nur noch eine übrig. Die Frau mit dem Baby lief an mir vorbei. Es schlief. Das hätte ich jetzt auch gern getan. Das hätte ich im Flugzeug schon gern getan. Ich überlegte, was jetzt Priorität hatte: Zigaretten kaufen und rauchen, bevor ich mich ans Gepäckband stellte – dann warten, bis ich im Auto schlafen konnte.
Koffein und Nikotin ließen mich nicht im Stich. Nach einem Kaffee und einer Zigarette starrte ich durch die Glasfront in den Nieselregen und beobachtete die Taxifahrer, die entweder Zeitung lasen oder sich über ihre Autos hinweg etwas zuriefen – ob sie sich nur unterhielten oder miteinander stritten, war nicht zu erkennen. Ich war jetzt zwar etwas wacher, aber meine Augen fühlten sich immer noch verquollen an.
Auf dem Gepäckband kreisten noch einige Taschen, aber der erste Ansturm hatte sich gelegt. Ich stellte mich ans Ende des Bands. Irgendwann fuhren die Gepäckstücke zum zweiten Mal an mir vorbei. Doch! Die Tasche hatte ich schon mal gesehen, den roten Koffer auch. Auf der Anzeigetafel stand mein Flug, aber meinen Koffer hatte ich wohl übersehen. Ich wartete. Dann lagen nur noch drei Gepäckstücke auf dem Band, dann zwei. Das Gute an depressiver Verstimmung gepaart mit unendlicher Müdigkeit ist: Man regt sich nicht auf. War halt so und nicht zu ändern.
Ich schleppte mich zum Schalter, zeigte das Ticket vor und beschrieb meinen Koffer. Mir fehlte ein fester Wohnsitz, den ich melden konnte, also gab ich die Adresse und Telefonnummer meines Vaters an. Vielleicht kamen meine Sachen ja später noch, zusammen mit meinem Selbstwertgefühl. Das war mir nämlich auch abhanden gekommen und steckte hoffentlich noch in meinem Koffer. Wenn ich es nicht schon vor dem Abflug zurückgelassen hatte. In dem Fall lag es mit viel Glück noch in Eves Keller in einer meiner Kisten. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass es sich dort wohlfühlte. Eher war es wahrscheinlich beleidigt davonspaziert – soll sie sehen, wie sie ohne mich zurechtkommt.
Ohne Koffer, aber wieder mit Tränen in den Augen machte ich mich auf den Weg zur Toilette. Dank des langen Wartens am Gepäckband und der zu erledigenden Formalitäten hatte ich die zwei Stunden, bis mein Vater eintreffen würde, schon fast totgeschlagen. Ich wusch mir das Gesicht und blickte in den Spiegel. Mit einem aufgesetzten Lächeln sah ich vielleicht nicht ganz so schlimm aus. Meine Augenlider waren geschwollen und darunter waren deutlich dunkle Ringe zu erkennen. Das Licht war hier wirklich nicht nett. Auch egal.
Meinem Vater stand der Mund offen, als er mich sah.
»Mein Koffer ist nicht angekommen«, sagte ich zur Begrüßung.
Er hob die Arme, ich wandte mich schnell ab und öffnete die Beifahrertür. Hilflos ließ er sie wieder sinken.
»Veronika, was ist denn passiert? Ist es wegen des Koffers?«
Ich schwieg und setzte mich ins Auto.
»Hast du schon was gegessen? Wir können uns hier noch etwas holen«, versuchte er es weiter, während er ins Auto stieg.
Ich stöhnte und hielt den Blick aus dem Fenster gerichtet. »Ich will nur schlafen. Kannst du mich nach Hause bringen? Ich meine, zu dir?«
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass er sich mir zuwandte. »Musst du nicht in deine Wohnung? Du hast keine Sachen bei dir.«
Sein geduldiger Ton war nicht auszuhalten und ich hatte keine Lust, irgendetwas zu erklären. Mein Vater wartete trotzdem auf eine Antwort.
Ich seufzte und wühlte in meiner Handtasche nach einer Zigarette, fuhr das Fenster herunter und zündete sie an.
»Die Wohnung gibt’s nicht mehr und mehr musst du dazu nicht wissen. Das Einzige, was ich im Moment brauche, ist Schlaf.«
»Steig aus und rauch draußen«, fuhr er mich an. Ich öffnete die Tür und trat die Zigarette auf dem Boden aus.
»Veronika, ganz ehrlich, ich höre monatelang nichts von dir, ich wusste nicht mal, dass du weg warst, und dann führst du dich so auf. Ich habe sehr wohl ein Recht zu erfahren, was los ist. Robert stand vor meiner Tür. Ich weiß, dass du ihn verlassen hast. Von ihm. Was meinst du, wie ich mich gefühlt habe? Derart ahnungslos … Meine zwanzigjährige Tochter erzählt mir erst von ihrer Hochzeit mit ihrer Urlaubsliebe, als schon alles passiert ist, und dann, fünf Jahre später, erzählt sie mir nichts von ihrer Trennung. Was bin ich? Nur dein Chauffeur?«
Mein pädagogisch erfahrener, stets gutmütiger Vater schrie mich an und hatte Tränen in den Augen. Ich konnte ihm nichts entgegensetzen. Als er merkte, dass nichts kam von mir, legte er den Gang ein und fuhr los.
Ich verkroch mich sofort in das alte Zimmer meines Bruders, der die letzten Jahre bis zu seinem Schulabschluss bei meinem Vater gewohnt hatte. Obwohl ich mich völlig fertig fühlte, konnte ich nicht schlafen und starrte nur dumpf an die Decke. Irgendwann rief mein Vater, das Essen stehe auf dem Tisch.
»Du musst was essen«, sagte er und stellte einen Teller mit Kartoffelsuppe vor mich hin. Ich aß schweigend und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Er fragte nichts. So ging es den ganzen Abend. Auch am nächsten Morgen brachte ich nichts heraus. Im Schrank fand ich noch ein T-Shirt und eine Jogginghose von Tobias. Die zog ich an und steckte meine Klamotten in die Waschmaschine. Dann setzte ich mich wieder aufs Bett und grübelte. Eins ging mir nicht aus dem Kopf: das Bild von Robert, der hilflos hier vor der Tür gestanden hatte. Mein Vater hatte ihn damals nach der Hochzeit schnell akzeptiert. Jeder mochte Robert.
Eigentlich hatte ich ja einen ziemlich toleranten Vater. Nachdem er den ersten Schrecken verdaut hatte.
Irgendwann nach der hundertsten Heulattacke fielen mir dann die Augen zu.
Ich erwachte in einem dunklen Zimmer, verwirrt und mit Kopfschmerzen. Kurz schwebte ich auf einer Wolke der Dumpfheit. Dann kam alles wieder: Scheißleben! Scheißkerl! Meine abgrundtiefe Dummheit. Am liebsten hätte ich meinen Körper abgestreift und wäre vor mir selbst weggelaufen.
Ein Bedürfnis meldete sich: Durst.
Ich sah auf die Uhr – es war später Abend. Als ich die Treppen hinunterschlich, war es still im Haus. Nur im Wohnzimmer brannte Licht. Ich ging in die Küche, öffnete den Schrank und griff nach einem Glas. Die Schranktür klemmte, als ich sie wieder schließen wollte. Mein Vater hatte sie immer noch nicht repariert. Das war doch schon ewig so bei dieser Tür, da war dieser kleine Widerstand, man musste die Tür beim Schließen fast ein bisschen anheben.
Ich kam nicht klar, ruckelte an der Tür, stellte das Glas ab und nahm die zweite Hand zur Hilfe. Mit ein bisschen Gewalt ging hoffentlich alles. So.
Ich erschrak, als es plötzlich laut klirrte. Auf den Küchenfliesen verteilt lagen tausend Scherben, ich musste das Glas mit dem Ellbogen runtergefegt haben. Mein Vater kam in die Küche, mit seiner Lesebrille auf der Nase und einem Buch in der Hand. »Veronika, ist alles okay bei dir?«
Plötzlich sah ich nichts mehr durch den Tränenschleier hindurch und biss mir auf die Lippen. Ich spürte seine Hand auf meinem Rücken und lehnte meine Stirn an seine Schulter. Sein Hemd unter meinem Gesicht ganz nass. Ich versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken. Mein Vater hielt mich fest.
Eine Taschentuchpackung später saß ich auf der Couch und er hatte es sich auf seinem Lesesessel gegenüber bequem gemacht. Mit tiefen Atemzügen versuchte ich mich zu beruhigen.
»Du machst mir Angst, so hab ich dich noch nie gesehen, Veronika.«
»Ich mich auch nicht.«
»Was ist denn los? Ich weiß nicht mal, wo du bist, und dann tauchst du nach Monaten wieder auf … Bist du wegen Robert aus der Show ausgestiegen?«
»Nein.« Er wartete ein paar Sekunden und seufzte dann. »Ich will dir doch nicht in irgendetwas reinreden. Ich will nur wissen, was los ist.«
Ich konnte ihn nicht ansehen. »Nie wieder setze ich für einen Mann alles auf eine Karte. Ich hab ihn erst vor ein paar Wochen kennengelernt. Nachdem ich aus dem Musical ausgestiegen bin … Nie wieder!«
»Du hast noch nie halbe Sachen gemacht.« Er seufzte wieder. »Weißt du noch, als du ausgezogen bist, um die zehnte Klasse an der Schule da oben zu machen …«
Ich nickte.
»Da war ich noch nicht so weit, dich gehen zu lassen. Du warst doch noch ein Kind. Aber ihr habt mich vor vollendete Tatsachen gestellt.« Er machte eine Pause. »Du reist ewig durch die USA, kommst aus Ghana mit einem Mann wieder … Du warst doch erst zwanzig.«
»Du und Mama, ihr habt doch auch so jung geheiratet.«
»Ja, aber …« Er schüttelte den Kopf und stützte die Ellbogen auf seine Knie.
»Warst du deswegen so wütend? Als ich ausgezogen bin, meine ich. Weil ich es nicht mit dir besprochen habe?«
»Ja, natürlich. Es ist kein schönes Gefühl, danebenzustehen, während das eigene Kind alles im Alleingang entscheidet. Mit seiner Mutter.«
So etwas hatte ich ihn noch nie sagen gehört. Eigentlich hatten wir einfach noch nie viel miteinander geredet.
»Wie soll es jetzt weitergehen bei dir?«, fragte er dann in die Stille hinein.
»Ich weiß es nicht.« Bei mir öffneten sich schon wieder die Schleusen. »Ich brauche noch ein paar Tage, Papa.«
»Die kannst du haben, ich hab Platz. Es ist okay, mal eine Zeitlang auf die Bremse zu treten.«
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Weil ich zuletzt nur diesen Mann gesehen hatte. Wenn die Liebe da ist, dann würde sich schon alles andere regeln, hatte ich in meiner Naivität gedacht.
Ich konnte gar nicht aufhören zu weinen, wollte nur im Bett liegen. Irgendwie war doch alles egal. Da fiel mir wieder ein, was mein Vater gestern erzählt hatte …
»Robert war wirklich hier bei dir?«
»Ja. Vor ein paar Wochen. Er war am Boden zerstört, hat geweint und gefragt, wo du bist.«
Mein Magen zog sich zusammen. »Ich schulde ihm wohl eine Erklärung, hm?«
Mein Vater nickte. »Dein Koffer ist übrigens wieder aufgetaucht. Die haben bei mir angerufen. Er hat einen Umweg genommen. So wie du. Wahrscheinlich wird er morgen hier angeliefert.«
Dann ging er in der Küche und fegte die Scherben auf.