Читать книгу In der Ferne scheint das Glück - Veronika Danzer - Страница 6
Mädchentraum
ОглавлениеDer Schmutz in meinen Handflächen vermischte sich mit Schweiß, als ich auf das Pferd zuging. Der junge Hengst zerrte am Halfter, mein Chef hatte ihn fest im Griff. Trotzdem hatte er mich mit seinem Buckeln aus dem Sattel katapultiert. Die dunkle Schicht, die sich unter meinen Fingernägeln festgesetzt hatte, war keine Farbe, sondern Sand, Erde, Mist, Zeichen meiner Knochenarbeit der vergangenen sechs Monate im Dressurstall. An der Fachoberschule in Nürnberg, bei der ich mich beworben hatte, war mein Schulabschluss aus Niedersachsen nicht anerkannt worden. Im Dressurstall hingegen war das zum Glück kein Problem. Erst mal widmete ich mich also meiner anderen Leidenschaft – den Pferden. Künstlerin konnte ich später immer noch werden. »Ich versuche es gleich noch mal«, sagte ich mit fester Stimme, nachdem ich mich wieder gefangen hatte. Ich war nicht das erste Mal von einem Pferd gefallen. Der Hengst trappelte mit den Hufen hin und her. Ich musste gut auf meine Füße aufpassen, als ich neben ihm stand, und stieg dann schnell in den Steigbügel. In einem Zug schwang ich das rechte Bein über seinen Rücken und saß wieder im Sattel.
Ich wollte ihn mit meiner Stimme beruhigen, während ich die Zügel fest anzog. »Ja, das magst du nicht, ich weiß. Ganz ruhig. Nur ein paar Minuten. Und los.«
Sanft drückte ich meine Unterschenkel in seine Seiten und er setzte sich in Bewegung. Seine Halsmuskulatur war angespannt und als wollte er gegen die Zügel anrennen, schoss er plötzlich los. Mein Chef konnte ihn nicht halten.
Ich zog stärker an den Zügeln, versuchte ihn zu bremsen, setzte mich tiefer in den Sattel. Der Hengst riss die Vorderhufe hoch, meine Füße glitten aus den Steigbügeln und ich hob ab. Im Fallen ließ ich die Zügel los und landete auf der Seite.
Sand klebte an meiner Wange. Meine Schulter schmerzte. Ich brauchte einen Moment, bis ich mich aufrappeln konnte. Der Hengst stand ruhig da. Er hatte seinen Willen bekommen.
Mein Chef näherte sich ihm vorsichtig und packte ihn wieder am Halfter. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Ich nickte. »Dabei lief er so schön an der Longe. Gestern hat er sich das Aufsitzen doch schon gefallen lassen.«
Ich klopfte mir den Staub von der Hose und lächelte geknickt. Jede Bewegung tat mir weh. »Mit dem haben wir wohl noch ein bisschen Arbeit vor uns!«
Ich übernahm den Hengst und führte ihn hinaus auf die Weide. Als ich ihm das Halfter abnahm, galoppierte er sofort los.
Das war bisher die schmerzhafteste Unterrichtsstunde gewesen, vom Muskelkater in der Anfangszeit abgesehen. Für heute hatte ich genug vom Reiten und war froh, dass ich mich jetzt wieder ums Ausmisten kümmern konnte: 27 Pferdeboxen – ich brauchte zwei Stunden, bis ich durch war. Zum Glück konnte ich dabei wenigstens kurz Suleika Hallo sagen, meiner Shagya-Araberstute, ein Geschenk meines Vaters zum guten Schulabschluss. Sie wartete schon darauf, dass sie dran war mit dem Reiten. Doch ich musste Suleika auf später vertrösten und fegte zuerst weiter den Hof. Bald schon versank ich angesichts der monotonen Arbeit in Gedanken. »Du hast echt was drauf!«, riss mich auf einmal eine Stimme aus meinen Träumen. Ich schreckte hoch, als Johannes scheppernd seine beiden Eimer neben sich abstellte. Er stützte die Hände in die Hüften.
Ich mochte Johannes. Er war zwanzig Jahre alt, schlaksig und arbeitete von früh bis spät wie wir alle hier, aber er hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Wenn ich um fünf Uhr morgens in den Stall kam, war Johannes stets schon da. Manchmal setzten wir uns am Vormittag zusammen hin, aßen unsere Brote und er teilte seinen Kaffee mit mir. Anfangs hatte er mir oft geholfen, wenn ich abends nicht fertig geworden war.
»Was?«, fragte ich verwirrt.
»Wie du einfach wieder aufgestiegen bist nach dem Sturz.«
»Das gehört dazu.« Ich lächelte. Selbst wenn das Pferd nicht wollte, ich musste es einfach wieder versuchen.
»Du bist zäh!«
»So leicht wird mich niemand los.«
Er lachte. »Hast du dir wehgetan?«
»Nicht schlimm.«
»Ich mach jetzt Feierabend. Bis morgen Früh.«
Johannes brachte die Eimer um die Ecke und war weg.
Es war 19 Uhr und nachdem ich den Hof gefegt hatte, war auch für mich Feierabend. Am liebsten wäre ich direkt ins Bett gefallen. Stattdessen nahm ich ein Halfter und ging zu Suleika, die gerade anfing, gegen die Wand ihrer Box zu treten. Von der anderen Seite der Wand kam lautes Wiehern.
»Suleika, hör doch auf. Zeit für Bewegung.« Mir tat alles weh, als ich aufstieg. Aber es musste sein. Den Sattel ließ ich weg, weil ich ihn nicht mehr heben wollte und ich es viel lieber mochte, Suleikas Rücken zu spüren.
Eine halbe Stunde ritten wir über die Felder hinter dem Hof.
Suleika war das eigensinnigste Pferd, das mir je begegnet ist, und ich liebte sie dafür. Sie ließ niemand anderen in ihre Box, aber das war kein Problem, denn das Ausmisten und Füttern war ja hier meine Aufgabe. Wenn sie nur die anderen Pferde in Ruhe gelassen hätte. Ich hatte den Eindruck, sie war eifersüchtig.
Nach dem Ausritt brachte ich sie für die Nacht auf die Koppel. Hoffentlich sorgte sie bei den anderen Pferden nicht für Ärger.
Es war gerade dunkel, als ich Halfter und Putzzeug wegräumte. Ich schlurfte mit schweren Beinen über den Hof auf das Wohnhaus zu.
Mir fielen fast die Augen zu und ich freute mich auf die Dusche und mein Bett, als ich plötzlich meinen Namen hörte.
»Warte, ich hab noch was mit dir zu besprechen«, rief mein Chef und kam auf mich zu. Oh nein. Ich hatte dem Pferd in der Dressurstunde heute nichts entgegenzusetzen gehabt, weil ich zu jung war, ein erst 17-jähriges Mädchen. Das war es, was er bemängeln würde. Irgendwie wartete ich schon die ganze Zeit darauf. Die Ausbildung im Dressurstall war eigentlich erst ab 18 vorgesehen. Mein Chef war indes kulant gewesen und hatte die ausdrückliche Erlaubnis meiner Eltern akzeptiert und jetzt bereute er es. Dabei war ich kein zartes Mädchen und ich hatte auch kein Problem mit harter Arbeit. Ich würde ihm versprechen, schneller zu arbeiten. Ich war nun mal als Lehrling für die Drecksarbeit zuständig.
»Ich schätze, du hast es schon selbst mitbekommen.« Ich nickte und wollte gerade ansetzen, da sprach er weiter. »Leider musst du eine andere Lösung für dein Pferd finden. Sie bringt zu viel Unruhe in den Stall.« Ich war kurz sprachlos, während er auf eine Antwort wartete. »Überrascht dich das?«
»Nein, Sie haben völlig recht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte ehrlich gesagt mit etwas ganz anderem gerechnet.«
»Womit?«
»Ich kam mit dem Jungpferd heute nicht zurecht. Das ärgert mich immer noch.«
»Mach dir keine Sorgen. Der heute ist ein Ausreißer. Du hast ein sehr feines Gespür für jedes Pferd. Das hab ich schon gesehen, als du beim ersten Mal vorgeritten bist. Sonst hätte ich dich nicht eingestellt, glaub mir.«
Meine Mundwinkel wanderten nach oben. Ich hatte mich wohl gut angestellt. Das hier schien mir der klassische Weg zu sein – vorbestimmt für ein Mädchen, das mit neun Jahren anfing mit Reitstunden und Voltigieren und mit zwölf Jahren das erste Pflegepferd hatte. Niemand in meiner Familie teilte meine Pferdeliebe. Aber hier fühlte ich mich gut aufgehoben, als hätte ich ein zweites Zuhause gefunden.
»Es ist zwar noch zwei Jahre hin, aber vielleicht stelle ich dich nach der Ausbildung ein. Jemanden wie dich kann ich gut gebrauchen als Bereiterin«, fügte mein Chef hinzu.
»Wow, vielen Dank … Tja, Suleika ist wohl nicht für einen so großen Stall geschaffen …«
»Alles klar. Du findest schon eine Lösung. Gute Nacht!«
Er stapfte davon. Jetzt erst wurde mir langsam bewusst, was das für Suleika bedeutete. Mir war nach Schreien und Fluchen. Hatte er mir das unbedingt jetzt am Abend sagen müssen? Ich war zu müde, um mir jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Das war eine ganz große verdammte … es war einfach nicht fair.
Gleich die erste Kaufinteressentin war dann begeistert von Suleikas Statur und ihrem gepflegten weißen Fell. Sie kaufte sie für einen guten Preis als Zuchtpferd. Es gab ab da für mich keinen Grund mehr, am Wochenende hierzubleiben, und so nahm ich jeden Freitag den Zug nach Hause. In meinem alten Kinderzimmer schlief ich durch und kurierte meinen Muskelkater. Ich hatte Schwielen an den Händen, an Oberarmmuskulatur beträchtlich zugelegt und einen Rückenschmerz, der sich hartnäckig hielt. Aber ich blieb auch konsequent dabei, in der Überzeugung, dass ich mich schon irgendwann an die körperliche Arbeit, das frühe Aufstehen und die Überstunden gewöhnen würde.
Mit 27 Pferden und überdies Reitschülern und Pferdebesitzern mit Sonderwünschen lief es nicht immer nach Plan. Das war nach einem Jahr noch genauso wie zu Beginn.
Und dann war wieder einmal so ein Tag, der unendlich viel Energie kostete. Die Woche war erst zur Hälfte vorbei, aber ich fühlte mich, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen, nur ohne die Euphorie, eher so, als wäre es nur die erste Etappe gewesen. Der Arbeitstag war mein persönlicher Marathon. Ich fiel aus dem Bett in meine schmuddeligen Arbeitsklamotten, schlurfte über den dunklen Hof und kniff die Augen zusammen, um mich vor dem Licht im Stall zu schützen.
Johannes pfiff ein Lied, ich schaufelte und schippte wie ein Zombie und versuchte dabei, das Stöhnen zu unterdrücken, wenn sich mein Rücken meldete, damit ich nicht auch noch klang wie einer. Ich streute Stroh aus, karrte Dreck weg und wagte nicht, mich auch nur eine Minute auf die Mistgabel zu stützen, weil ich befürchtete, im Stehen einzuschlafen.
Die drei Mädchen, die nachmittags zum Reitunterricht kamen, beneideten mich trotzdem. Sie waren wie ich früher. Ihre Augen leuchteten, als sie mit ihren Reitstiefeln und -helmen den Stall betraten und ihr jeweiliges Lieblingspferd begrüßten. Ich beaufsichtigte sie, als sie ehrfürchtig ihr Pferd striegelten, kratzte mit ihnen zusammen die Hufe aus und dann legten wir die Pferde nacheinander zum Warmlaufen an die Longe. Sie strahlten, als sie endlich oben saßen und ihre Runden drehten. Der Unterricht mit den Mädchen war mein Höhepunkt des Tages.
Und dann betrat sie auch schon den Stall. Wie Cruella de Vil auf der Suche nach den Dalmatinern stand sie auf einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht da. Ihre schwarz-weiß gefleckte Stola, die sie sich immer über die Schultern hängte, zu ihren rot geschminkten, missbilligend verzogenen Lippen erinnerte mich immer wieder unwillkürlich an den Disney-Film.
»Ist Kira vorbereitet?«
Ich erschrak und sah auf die Uhr. Mit den Mädchen hatte ich die Zeit etwas außer Acht gelassen. Cruellas Pferd müsste bereits gesattelt und gebürstet sein. Nicht mal das Warmreiten übernahm diese Frau gern selbst. Lieber bezahlte sie andere dafür.
»Es tut mir leid, dafür hatte ich noch keine Zeit. Kira steht noch auf der Weide.«
Da kam Johannes um die Ecke und blieb im Stalleingang stehen. Er nickte mir zu und ging schnellen Schrittes los. Ein Retter in höchster Not.
Cruella hatte uns ihr Pferd zum Bereiten gebracht, weil es vom Vorbesitzer völlig verzogen gewesen wäre, wie sie behauptete. Ich hatte mich vier Wochen lang fast täglich mit der Stute beschäftigt, erst unter Anleitung meines Ausbilders, dann, nachdem er sie mir anvertraut hatte, allein. Manchmal versuchte sie noch ihren Sturkopf durchzusetzen, aber ich wiederholte konsequent die Befehle, bis sie mich verstand. Sie lief an der Longe ihre Runden und führte die Gangarten perfekt aus, wenn ich im Sattel saß. Ich sah kein Problem mehr. Die Lektion heute hatte ich deshalb etwas kürzer gehalten, weil noch so viel zu tun war. Ich verstand nicht, wie Cruella dieses Pferd als verzogen bezeichnen konnte. So schlimm war es nicht. Ging es ihr nur darum, schön auszusehen, oder wirklich um die Liebe zum Pferd? Cruella und ich hatten jedenfalls nicht viel gemeinsam.
Jetzt sah sie mich missbilligend an und ließ ihren Blick von unten nach oben schweifen, von meinen Gummistiefeln über meine schäbigen, schmutzigen Klamotten bis hinauf zu meinen Haaren, die ich heute früh um fünf schnell zusammengeknotet hatte. Hätte sie den ganzen Tag im Stall geackert, statt in ihrem Bürosessel zu thronen, sähe sie auch anders aus … Die konnte mich mal. Ohne die Miene zu verziehen, drehte ich mich um und ging Johannes entgegen, der mit Kira um die Ecke kam. Ich nahm sie ihm ab und murmelte ein Dankeschön. Dann schlug ich Cruella vor, mir bei der Vorbereitung zu helfen. Das wäre auch positiv für die Bindung zwischen Pferd und Reiterin, erklärte ich ihr und wusste sogleich, dass das ein Fehler war.
»Das Pferd kennt mich gut genug. Angesichts des Geldes, das ich an den Reitstall zahle, ist dein Vorschlag eine Frechheit!« Sie lachte und wandte sich ab, wahrscheinlich um meinem Chef brühwarm davon zu erzählen. »Im Übrigen verfüge ich über etliche Jahre mehr Reiterfahrung als du. Ich hatte nur die besten Pferde und die haben mir alle gehorcht!«
Das Pferd tat mir leid. Für Cruella war es nicht mehr als ein Sportgerät. Bestimmt hatte sie wieder etwas an Kira auszusetzen, wenn sie fertig war.
Ich widmete mich dem schönen Pferd mit Hingabe und unterdrückte die Tränen. Für einen Heulkrampf war keine Zeit – die anderen Pferde warteten auf ihr Kraftfutter und ich verkniff mir zu zeigen, wie wütend ich war.
In diesem Moment hätte ich am liebsten alles hingeschmissen. Ich wollte den Tag nur noch hinter mich bringen und den danach auch und dann nach Hause fahren. Und vielleicht gar nicht mehr wiederkommen. Aber das ging ja nicht. Es musste weitergehen.
Ich longierte die Pferde, ließ sie Schritt gehen, traben und galoppieren, Bahn um Bahn, wechselte die Gangart und achtete auf ihre Haltung. Es war doch meine verdammte Pflicht, dass sie begriffen, was ich von ihnen wollte. Mein Chef hielt doch so viel auf mich – ich durfte ihn nicht enttäuschen.
Wenn sie das Grundsätzliche dann gelernt hatten, kam die nächste Stufe: Figuren reiten.
Am Ende eines langen Tages wollte ich mich oft gar nicht mehr wieder auf ein Pferd setzen. Erschöpft fiel ich ins Bett und hoffte auf die regenerierende Kraft des Schlafes. Nur zu einem letzten Gedanken war ich fähig, bevor ich wegdriftete: Wenn ich Pferde doch so liebte, warum hatte ich dann so häufig keine Lust mehr, morgens aufzustehen?