Читать книгу Das Vertrauen der Erde in die Samen - Veronika Wlasaty - Страница 11
Defizite ist ein Wort…
Оглавление„Kritik sollte eine Funktion von Liebe sein oder es wäre besser sie zu unterlassen.“ E. Freitag
Der Begriff „Defizit“ suggeriert, dass etwas sein sollte, was nicht ist – oder zu wenig davon, d. h. ein Mangel von etwas Erwünschtem oder Erwartetem. (Was das ist, darüber gibt es in der Regel einen gesellschaftlichen Konsens, der freilich einem Wandel der Zeit und ihrer Erfordernisse unterliegt.) Wird etwas, oder schlimmer jemand als defizitär betrachtet, verheißt das nichts Gutes für den Betreffenden, vor allem wenn er Schüler ist. Ein Defizit zu haben, bedeutet aus der Norm zu fallen, etwas „schuldig“ zu bleiben, über etwas nicht zu verfügen, das allgemein als wichtig erachtet wird. Man (Lehrer, Eltern, Gesellschaft…) macht es sich zur Aufgabe (oft gegen den Willen der Betroffenen), Defizite vor allem durch Maßnahmen der „Förderung“ zu beheben. Ist der Erfolg bescheiden und bleibt unter dem Erwarteten zurück, macht sich auf allen Seiten Enttäuschung breit: bei den Geförderten, die selbst bei größter Kooperationsbereitschaft oft bald an ihre Grenzen stoßen und sich als Versager wähnen, sowie bei den Förderern – wohl aus genau denselben Gründen. Da überdies meist weitaus mehr Zeit in die Behebung von mangelhaft ausgebildeten, als Schwächen bewerteten Fertigkeiten investiert wird als in die Förderung von dem, was gut beherrscht wird, die sogenannten Stärken, können sich letztere nicht oder nur unzureichend in dem Maß entwickeln, das ihnen zu eigen wäre. Vor allem dann, wenn diese nicht als „systemrelevant“ (d. h. der Gesellschaft bzw. Wirtschaft dienlich) bewertet werden, ist ihnen ein Aufschub auf später oder eine „Auslagerung“ in die Freizeit (bestenfalls noch in ein Freifach) bestimmt.
Aber nicht unsere Schwächen, unsere Stärken sind es, auf die wir unser Leben gründen. (Gäbe es überhaupt eine Fähigkeit, deren Erwerb allgemein verbindlich sein sollte, dann die, mit sogenannten Schwächen umzugehen und mit ihnen gut leben zu lernen.) In den seltensten Fällen wird jemand im späteren Leben eine Laufbahn einschlagen, die ihm Fertigkeiten abverlangt, über die er nicht (ausreichend) verfügt – und wenn doch, dann wird er Mittel und Wege finden, diese zu kompensieren. (So soll es angesehene Schriftsteller geben, die trotz ausgeprägter Rechtschreibschwäche – früher als Legasthenie bekannt – gut vom Schreiben leben können.) Deshalb sollte es unsere höchste Priorität sein, jeden Schüler dahin zu begleiten, dass er am Ende der Schulzeit um seine persönlichen Fähigkeiten weiß und diese auch ressourcenvoll nutzen kann. Da Begabungen äußerst vielfältig und nicht vergleichbar sind, sondern einander ergänzen, und vor allem immer der jeweilige Kontext über deren Nützlichkeit entscheidet, wäre genau genommen jede Form von Bewertung hinfällig. Eine Fähigkeit wäre eine Fähigkeit, jede Polarisierung und Kategorisierung in Stärken und Schwächen würde sich erübrigen.
Die schulische Realität ist davon freilich noch weit entfernt. Wer für seine Begabungen und Interessen innerhalb des gegenwärtigen Fächerkanons keine Nische für Entfaltung findet, wird, je nach Persönlichkeit und Temperament, Strategien entwickeln, um den Schaden für sich persönlich gering zu halten (von Sich-Arrangieren mit den Gegebenheiten bis hin zur Verweigerung). Viele mit für die Schule „belanglosen“ Stärken ausgestattete SchülerInnen müssen diesen Umstand mit erhöhtem Einsatz kompensieren, wenn sie nicht als Schulversager abgestempelt werden wollen. Dies bedeutet für sie, wiederholt an ihre Grenzen zu stoßen, immer wieder aufs Neue vor Augen geführt und bestätigt zu bekommen, dass sie nicht können, was sie nicht können, und auf die wichtigsten „Nebenwirkungen“ gelungener Potentialentfaltung – Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen – zumindest für die Dauer des Schulbesuchs zu verzichten.
Ich sehne die Zeit herbei, in der wir alle uns einer Stärkenkultur verpflichtet fühlen und damit einem Menschenbild, das niemand mehr fürchten muss. Wir alle haben die Wahl, worauf wir unseren Blick richten wollen: auf das, was wir haben oder das, was uns fehlt, auf das Gelingende oder unsere „Defizite“. Die Überlegung, wie wir selbst von anderen gerne wahrgenommen werden möchten, dürfte uns diese Wahl erleichtern. Wenn wir von einer globalen Verantwortung ausgehen, vorhandene Ressourcen so zu verwalten, dass sie uns allen zum Wohl gereichen und nicht zum allgemeinen (menschlichen) „Bankrott“ führen, dann kann die Verantwortung von PädagogInnen keine grundlegend andere sein: „Wie möchte ich mit den Schätzen (Ressourcen) meiner Kinder / Schüler umgehen, dass sie sich vermehren und ihre Kraft entfalten?“ wäre dann eine selbstverständlich gestellte Frage, in der sich ein Menschenbild ausdrückt, das sicherlich jeder gerne auch für sich selbst in Anspruch nehmen möchte. Mit dem Lehrer als „Schatzmeister“ würde der defizitbehaftete Begriff Fehler eine Umdeutung erfahren in das, was er genau genommen ist: eine Lern-, Veränderungs- und Entwicklungschance – und erst dann sind Schule und Unterricht für den Menschen wirklich lehrreich.