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1.2.3.2 Kritische Anfragen an die redaktionskritische Trennung zwischen Redaktions- und Traditionsstoff und die Irrelevanz des Zwölferkreises
ОглавлениеNorman Perrin definiert die redaktionskritische Methodik folgendermaßen:
„It is concerned with studying the theological motivation of an author as this is revealed in the collection, arrangement, editing, and modification of traditional material, and in the composition of new material or the creation of new forms within the traditions of early Christianity.“1
Gemäß dieser Definition manifestiert sich die Theologie des Redaktors in den redaktionellen Anteilen des Evangeliums, die aus zwei Elementen besteht: erstens aus dem Arrangement und der Komposition des Materials (das wird in der Forschung unter dem Stichwort „Kompositionskritik“ und teilweise unter dem Stichwort „Literarische Kritik“ behandelt) und zweitens aus der Trennung zwischen Tradition und Redaktion (das wird als „editorial criticism“ oder als „klassische Redaktionskritik“ bezeichnet).2 Die folgenden kritischen Anfragen richten sich in erster Linie gegen das zweitgenannte Element. Demnach kommt dem Redaktionsstoff und den redaktionellen Veränderungen eine besondere theologische Bedeutsamkeit zu, während die theologische Bedeutsamkeit des übernommenen Traditionsstoffs nivelliert wird. Eine wesentliche Folge davon ist, dass der Traditionsstoff im Lichte des Redaktionsstoffs gelesen wird.3 Gelegentlich werden inhaltliche Spannungen im MtEv damit erklärt, dass die Aussagen jeweils verschiedenen Traditionsstufen entstammen und der Redaktor ältere Überlieferungen übernommen hat, ohne sie ausreichend in Einklang mit seiner eigenen Theologie gebracht zu haben.4 Diese klassische redaktionskritische Methodik wurde auch auf die zwölf Jünger im MtEv angewandt. Das wirkte sich nicht nur auf die Auswahl der Textstellen zum Thema „Der Zwölferkreis im MtEv“ aus, sondern auch auf die Verhältnisbestimmung „Zwölf (Jünger) – Jünger“, ebenso wie auf die konkrete Deutung der Zwölf (Jünger).5 Z.B. konnte Strecker aufgrund bewusster Absehung von traditionellen Elementen argumentieren, dass für Mt die Jünger mit den Zwölf „synonym“ sind. Luz dagegen konnte die Gleichsetzung der Jünger mit den Zwölf nur deswegen für „selbstverständlich“ erklären, weil er die Zwölf-Passagen vom MkEv her las. Im Anschluss an Luz hat man häufig folgendermaßen argumentiert: weil der Redaktor Mt die Zwölf im Vergleich zu seinen Vorlagen nicht weiter ausbaue, den Ausdruck „Zwölf“ stattdessen gelegentlich streiche und häufig durch sein Vorzugswort „Jünger“ ersetze, müsse diese „Isotopie der Veränderungen“6 auf zweierlei Weise gedeutet werden: erstens als mangelndes (theologisches) Interesse an den textuellen bzw. den historischen Zwölf. Und zweitens als besonderes Interesse am Jünger-Sein der Zwölf. Durch ihr Jünger-Sein erscheinen sie den Adressaten wie typische Gemeindechristen (oder wie typische Gemeindeleiter), was zur Folge hat, dass sich die Adressaten mit den (Zwölf) Jüngern identifizieren und sie zu Vorbildern nehmen können. Gegen eine solche klassische redaktionskritische Methodik und ihre Folgen für das Verständnis des Zwölferkreises lassen sich u.a. folgende kritische Anfragen richten.
Das linguistische Prinzip der Kontextualität und die synchrone Lektüre des Endtextes. Ein prominenter Einwand gegen die klassische Redaktionskritik, der häufig von Vertretern des „literary criticism“ eingebracht wird, ist texthermeneutischer Art: äußert sich die theologische Intention des Evangelisten tatsächlich nur im Redaktionsstoff? Denn gegen eine derartige Fragmentierung eines Textes spricht das linguistische Prinzip der Kontextualität, womit die Kohärenz eines Textes zusammenhängt.7 Der Autor beabsichtige seinen Adressaten mittels des ihnen vorliegenden Textes bestimmte Inhalte zu kommunizieren. Deswegen sollte ein Text synchron analysiert werden. Aus diachroner Perspektive betrachtet bedeutet das, dass der Redaktor sein Interesse (auch) am Traditionsstoff darin zeigt, dass er ihn mit dem Redaktionsstoff zu einer kohärenten Einheit komponiert. Wenn der Evangelist den Traditionsstoff unverändert übernimmt, dann stimmt er dem Text in seiner vorliegenden Gestalt zu, da er zu seinen eigenen theologischen Überzeugungen und seinen pastoralen Anliegen passt.8 Folgt man aber der methodischen Annahme, dass das Interesse des Redaktors im intakten Gesamttext – bestehend aus Traditions- und Redaktionsstoff – zu erkennen ist, dann ist eine über Markus hinausgehende Akzentuierung nicht nötig, um ein Interesse des Matthäus an bestimmten Themen zu belegen. Ähnlich wie der Evangelist Matthäus – gemäß der klassischen 2Q-Hypothese – das ihm vorliegende MkEv als Endtext gedeutet hat und darin die mk Theologie enthalten sah, ohne nach chronologisch vorauslaufenden redaktionellen Veränderungen der Vorlage(n) des MkEv durch den Evangelisten Markus zu fragen, so ähnlich deutet die lesende oder hörende Gemeinde das MtEv, ohne es mit dem MkEv zu vergleichen. Sollten nun inhaltliche Spannungen auftauchen, so sollte man sich zunächst darum bemühen, alle Textelemente in kohärenter Weise zusammenzudenken.9 Daraus ergeben sich einige Schlussfolgerungen. Wenn nun das MtEv eine kompositorische Einheit darstellt, dann wirkt sich das auch auf das Thema „Zwölferkreis“ aus. Erstens muss man dann die (theologische) Bedeutung und Funktion der Zwölf entsprechend umfassend behandeln. Wenn aber alle Vorkommen der Zwölf im MtEv bedeutsam sind, dann darf man eine Analyse der Zwölf nicht auf einzelne redaktionell interessante Vorkommen beschränken, wie z.B. auf die Aussendungsrede im MtEv (so aber z.B. Freyne). Übrigens: Wenn man vom intakten Gesamttext ausgeht und sämtliche Vorkommen berücksichtigt, dann sollte man grundsätzlich auf den Begriff „Tendenz“ verzichten, weil er unpräzise ist. Denn wie soll man solche Fälle erklären, die nicht der redaktionellen „Tendenz“ entsprechen: als „Überbleibsel“ der Tradition, Zeichen der fehlenden Konsistenz oder fehlenden Kunstfertigkeit des Redaktors?10 Außerdem: Wenn es stimmen sollte, dass Mt häufig die „Zwölf“ durch „Jünger“ ersetzt (aus diachroner Perspektive), dann muss man sich fragen, wieso die „Zwölf“ im MtEv (noch) vorhanden sind, statt überall durch „Jünger“ ersetzt? Zweitens ist die Aussage, dass die Zwölf und ihr Apostolat für Mt „selbstverständlich“ seien, irreführend (gegen Bultmann, Luz, Trilling u.a.). Denn bereits aus der einfachen Erwähnung der Zwölf im MtEv sollte man stattdessen schließen, dass Mt sich für die historischen zwölf Jünger interessiere und sie (eine) bestimmte Funktion(en) im MtEv haben. Dabei ist ihr Vorbild als Jünger nur eine von verschiedenen möglichen Funktionen. Drittens sollte die Frage, ob Mt die Zwölf mit den Jüngern gleichsetzt, d.h. sie synonym macht, oder ob er beide unterscheidet, auf der Grundlage des intakten Gesamttextes – unter Einbeziehung sämtlicher Wortvorkommen – entschieden werden (gegen Strecker). Viertens sollten die Einzelpassagen, in denen die zwölf Jünger vorkommen, im näheren und weiteren Kontext des Gesamttextes ausgelegt werden. Man sollte dabei auf die „Komposition“ des Textes achten, nämlich die inhaltliche und formale Struktur, sowohl innerhalb von Einzelpassagen als auch innerhalb der Makro-Struktur.11 Auf diese Weise lassen sich thematische und theologische Schwerpunktsetzungen erkennen.
Die Synoptische Frage. Die größte Schwierigkeit für die klassische Redaktionskritik besteht wohl darin, geeignete Kriterien für die Unterscheidung von Redaktionsstoff und Traditionsstoff zu finden.12 Damit eröffnen sich weitreichende Fragen der Quellen-, Form- und Traditionskritik, die sich v.a. in der Debatte um die Synoptische Frage bündeln. Weil die meisten im Forschungsüberblick vorgestellten Positionen die Zweiquellenhypothese zugrunde liegen haben, wäre eine Revision dieser Positionen eine natürliche Konsequenz, falls die Zweiquellenhypothese nicht stimmen sollte.13