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1.3.1 Narrativkritische Studien
ОглавлениеJack Dean Kingsbury1 äußert sich in seiner redaktionskritischen Arbeit The Parables of Jesus in Matthew 13: a Study in Redaction-Criticism zum Verhältnis Jünger – Zwölf:2 der Begriff „Jünger“ sei synonym mit den Zwölf. Das zeige die Verbindung „zwölf Jünger“ (Mt 10,1; 11,1; 20,17; 26,20) und die Austauschbarkeit beider Begriffe an vielen Stellen (z.B. der Wechsel von 9,37 zu 10,1f5; oder von 28,7f zu 28,16). Es sei also grundsätzlich von der Austauschbarkeit beider synonymer Begriffe auszugehen. Deswegen gilt für Kingsbury: sollte der Fall eintreten, dass Mt mit „Jünger“ nicht die Zwölf bezeichnet, dann mache Mt das auch deutlich; siehe der unpersönliche Gebrauch in 10,24.25.42, oder noch eindeutiger „die Jünger des Täufers“ (9,14; 11,2) oder „die Jünger der Pharisäer“ (22,15f).3 Ausschließlich in 8,21 werde der Begriff zweideutig gebraucht. Diese Austauschbarkeit von „Zwölf“ und „Jünger“ verhindere aber nicht, dass für Kingsbury das ab 13,16 Gesagte auch für die Christen der mt Gemeinde relevant sei: das Verstehen der Himmelreich-Geheimnisse sei nicht nur den Zwölf gegeben, sondern auch den Gemeindechristen. In Matthew: Structure, Christology, Kingdom arbeitet Kingsbury in typisch kompositionskritischer Weise fast ausschließlich auf der Grundlage des Endtextes, wobei er vereinzelt auf mt Modifikationen des MkEv hinweist.4 Er untersucht die erzählerische Struktur des MtEv, grenzt sich gegen andere thematische und theologische Strukturierungs-Versuche ab und gelangt aufgrund der Formel „von da an begann Jesus…“ (4,17 und 16,21) zum Ergebnis, dass Mt die Jesusgeschichte in drei Phasen strukturiert.5 Weil nun die beiden Elemente „Prophetie“ und „Erfüllung“ die Jesusgeschichte des MtEv bestimmen, bestehe die mt Heilsgeschichte aus diesen zwei Phasen. Eine dritte Phase, nämlich eine Phase der Kirche, gebe es nicht (gegen Strecker, Walker, usw.), da „Christus, der Sohn Gottes“ sowohl den irdischen als auch den auferstandenen Jesus bezeichne, und der auferstandene Jesus gleichermaßen „mit“ der Kirche sei wie der irdische Jesus „mit“ seinen Jüngern. D.h.: analog zur Kontinuität Jesu Christi gebe es eine Kontinuität zwischen den irdischen Jesusjüngern und den Christen der mt Gemeinde, erstere repräsentieren letztere. Aber Mt halte die vergangenen Jünger mit den gegenwärtigen Christen als eine Einheit zusammen, was der Selbstwiderspruch zwischen universalen und partikularistischen Missionsanweisungen in Mt 10 belege.6 Diese Ausführungen Kingsburys zum Verhältnis irdische Jünger – nachösterliche Christen passen zu seinen redaktionskritischen Ausführungen zur Gleichnisrede. Wenn also die irdischen Jesusjünger die späteren Gemeindechristen repräsentieren, dann sind mit den irdischen Jüngern wohl die Zwölf gemeint. In Matthew as Story lassen sich im Kapitel über den „single character“ Jünger nur indirekt Schlüsse auf eine Verhältnisbestimmung zwischen Jüngern und Zwölf ziehen.7 Kingsbury unterscheidet weder die Zwölf von den Jüngern noch Einzelfiguren von der Figurengruppe, wenn er Wesen, Charakterzüge und Aufgaben der Jünger in den letzten beiden Hauptteilen 4,17-16,20 und 16,21-28,20 zusammenfasst.8 Auch Passagen, die eindeutig von Personen des Zwölferkreises handeln, wie die Berufungen von Einzelpersonen (4,18-22; 9,9-13), die Mission zu Israel (10,5b-6) sowie zu allen Völkern (28,16-20), werden gleichermaßen allgemein unter „Jünger“ abgehandelt und sogar mit anderen Passagen verbunden, die die „Kirche“ thematisieren (16,18; 18,17; ähnlich 21,43). Mit „Kirche“ sei laut Kingsbury die vorösterliche Jüngerschaft gemeint und gleichzeitig die nachösterliche Gemeinde. Auch die Einzelfigur Petrus habe wegen Jesu Verbots „niemand nenne sich Rabbi“ (23,8) nur im heilsgeschichtlichen Sinne ein Primat, er sei primus inter pares. Wenn Kingsbury zuerst sagt, dass Petrus die Zwölf repräsentiere, später aber, dass er die Jünger repräsentiere, dann gebraucht er Zwölf und Jünger austauschbar (vgl. 16,16ff und 18,18ff).9 Den „Schriftgelehrten“ in 8,19f erkennt Kingsbury nicht als „Jünger“ an, weil der Schriftgelehrte erstens selbst die Initiative ergreife und zweitens Jesus „Lehrer“ nenne. Anders der „andere Jünger“ in 8,21f, den erstens Jesus auffordert „Folge mir nach!“und der zweitens Jesus „Herr“ nennt.10 In Mt 10 erkennt Kingsbury, dass die Zwölf als Gesandte adressiert sind, aber der implizite Leser wende diese Anweisungen auf die nachösterliche Mission an: „In these missionary instructions of Jesus to the Twelve, ,the particular‘ is not without the quality of ,the typical‘.“11 Aus diesen Beobachtungen kann man schlussfolgern, dass auch in diesem Buch die Jünger „Typen“ für die Gemeinde sind. Etwas unklar ist, ob Kingsbury hier die Zwölf mit den Jüngern austauschbar versteht: dafür spricht das Beispiel des Verhältnisses Petrus – Jünger, dagegen könnte das Beispiel des „anderen Jünger“ sprechen.
Richard A. Edwards behandelt in seinen Aufsätzen „Uncertain Faith: Matthew’s Portrait of the Disciples“ (1985)12 und „Characterization of the Disciples as a Feature of Matthew’s Narrative“ (1992)13 sowie in seinem Buch Matthew’s Narrative Portrait of Disciples: How the Text-Connoted Reader Is Informed (1997)14 die Jünger als eine Gruppe, ohne auf die spezielle Funktionen von Einzeljüngern oder von den Zwölf einzugehen: Petrus ist genauso selbstverständlich ein Jünger wie es die zwölf Jünger als Gruppe sind. Edwards spricht vor und nach Mt 10 konsequent allgemein von „Jüngern“ und in Mt 10 selbst von den „Zwölf (Jüngern)“. Bezeichnend könnte ein kleines Indiz sein: laut Edwards würden in 13,52 die „zwölf Jünger“ für das Verstehen der Gleichnisse gepriesen.15 Dabei ist in Mt 13 nur allgemein von den „Jüngern“ die Rede. Sollte man daraus schlussfolgern, dass es laut Edwards (spätestens ab Mt 10) nur die Zwölf als Jünger gab? Jedenfalls erweckt Edwards’ erster Aufsatz beim „impliziten Leser“ seiner Veröffentlichung diesen Eindruck. Der zweite Aufsatz und sein Buch dagegen machen klar, dass für den impliziten Leser des MtEv nicht nur die zwei in 4,18-22 berufenen Brüderpaare „Jünger“ seien (rückwirkend von 5,1 her), sondern auch der Schriftgelehrte (!) und der „andere Jünger“ in 8,19-22. Und weil die Volksmenge bei Jesu Bergpredigt anwesend war und mithören konnte, wie die wahre Jesus-Jüngerschaft aussieht (7,28f), muss der „implizite Leser“ sein „Jünger“-Bild ausweiten auf alle, die Jesus „nachfolgen“ wollen, also auch auf Personen, die aus dem Volk heraustreten, ohne speziell berufen worden zu sein!16 Diese Ausweitung des Jüngerkreises lässt sich so deuten, dass laut Edwards „Jünger“ und „Zwölf“ nicht austauschbar sind.
Jeannine K. Brown arbeitet in The Disciples in Narrative Perspective: The Portrayal and Function of the Matthean Disciples die These heraus, dass die Jünger Jesus und seine Botschaft immer wieder missverstehen (im Kontrast zum redaktionskritischen Bild der Jünger als Verstehende).17 Brown definiert hierbei die „Jünger“ als Zwölfergruppe. Den Grund dafür sieht Brown – im expliziten Anschluss an Wilkins und Luz und in expliziter Abgrenzung von Freyne – in der Verbindung von μαθητής und οἱ δώδεκα. Diese Verbindung zeige sich erstens an der Formulierung „zwölf Jünger“ (Mt 10,1; 11,1; 20,17; 26,20) und zweitens daran, dass mit den „Jüngern“ durchgehend die „Zwölf“ gemeint seien (z.B. im Kontext von 19,28).18 Während „die Jünger“ (οἱ μαθηταί) immer die Zwölf bezeichnen, seien „Jünger“ (μαθηταί) ohne Artikel normalerweise weniger stark referentiell und auf allgemeine Jünger(schaft) bezogen (10,24f42; 13,52). Dazu passe laut Brown, dass Mt bei Josef von Arimathäa in 27,57 das Verb μαθητεύω einsetze und somit das Nomen μαθητής vermeide, das er für die Zwölf reserviert habe. Einzig 8,19-22 lasse an einen oder zwei konkrete „Jünger“ denken, die sich vermutlich außerhalb des Zwölferkreises befinden. Die artikellosen Vorkommen von „Jünger“ gehören mit ihrem Verweis auf allgemeine Jüngerschaft in die Kategorie der „ideal disciples“, die Brown – im expliziten Anschluss an Daniel Patte19 – von den „actual disciples“ unterscheidet. Nicht selten treffen i.E. in ein und derselben Passage beide Arten, „ideal“ und „actual“, gleichermaßen zu; dann unterweise Jesus die konkrete Jüngergruppe (= Zwölfergruppe) in allgemeiner Jüngerschaft (z.B. 16,24-27). Ebenso wie die allgemeinen Jüngerschafts-Unterweisungen treffen auch Jünger-typische Figuren (z.B. die kanaanäische Frau, der Hauptmann von Kapernaum, usw. Hierzu zählt Brown auch Joseph von Arimathäa, s.o.) keine direkten Aussagen über die konkrete Figurengruppe „Jünger“. Allein die Zwölf seien die Jünger, und selbst wer sich Jünger-ähnlich verhalte, gehöre dennoch nicht zur Jüngergruppe.20 Weil die Zwölf bzw. „die Jünger“ wie ein „single character“ auftreten, können i.E. Einzelfiguren – z.B. durch ihr Verhalten – die gesamte Gruppe repräsentieren. Das zeige sich z.B. bei den drei Jüngern in der Verklärungs- oder Gethsemane-Szene (17,1ff; 26,36ff), aber auch sonst bei Petrus, dessen Verhalten Mt parallel zu den Zwölf zeichne, so dass er stets die gesamte Zwölfergruppe repräsentiere.21
Uta Poplutz stellt in Erzählte Welt: Narratologische Studien zum Matthäusevangelium22 zwei Merkmale eines Jesusjüngers fest: Berufung und Nachfolge. Und sie deutet namentlich genannte Einzelfiguren (z.B. Petrus), die aus der Gruppe hervortreten, als Repräsentanten und Typen eines „Jüngers“ (ausführlicher dazu im Anhang [online], Exkurs 3). Innerhalb einer exegetischen Skizze bestimmt Poplutz im Zusammenhang mit Mt 10 das Verhältnis der Jünger zu den Zwölf. Im expliziten Anschluss an Luz und Bultmann argumentiert sie, dass Mt die Identifizierung beider von Mk übernommen hatte und dass an keiner Stelle des MtEv eine Person außerhalb des Zwölferkreises „Jünger“ genannt werde. Deswegen kann sie schlussfolgern:
„Aus diesem Grund lässt sich die Figurengruppe der μαθηταί im Matthäusevangelium mit dem Zwölferkreis gleichsetzen. Zwar gibt es selbstverständlich andere Figuren – unter ihnen auch viele Frauen – die man als Jünger resp. Jüngerinnen Jesu identifizieren kann, aber der Zwölferkreis ist im Matthäusevangelium als Figurengruppe über weite Strecken mit οἱ μαθηταί αὐτοῦ identisch.“23
Bemerkenswert ist, dass Poplutz das Verhältnis zwischen dem Titel „Jünger“ und den Qualitäten eines Jünger-Seins diskutiert. So zählt sie viele jüngertypische Figuren auf, wie die erwähnten Frauen, die aber allesamt Randfiguren sind, und nicht mit der Figurengruppe „Jünger“ zu verwechseln sind, auch wenn sie manchmal ein vorbildlicheres Jünger-Verhalten an den Tag legen als die namentlich bezeichneten „Jünger“.