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1.3.2 Kritische Anfragen an die narrativkritischen Deutungen der zwölf Jünger
ОглавлениеEbenso wie in den formkritischen und redaktionskritischen Mt-Studien steht auch in den narrativkritischen Studien der Zwölferkreis im Zusammenhang mit dem Jüngerkreis. Und auch hier haben einige Mt-Forscher die Jünger mit den Zwölf identifiziert. Die Gründe für eine solche Identifizierung lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Erstens die Rezeption redaktionskritischer Ergebnisse. Und zweitens einzelne Argumente auf der Grundlage des Endtextes. Im Folgenden sollen die Schwächen dieser zwei Gruppen aufgezeigt werden.1 Aufgrund fehlender Relevanz für unsere Fragestellung soll an dieser Stelle auf eine kritische Bewertung etlicher Grundannahmen der narrativkritischen Methodik verzichtet werden.2
Die Rezeption redaktionskritischer Ergebnisse. Es fällt auf, dass die wenigen narrativkritischen Studien, die den Zwölferkreis überhaupt thematisieren, die redaktionskritische (!) Verhältnisbestimmung von „Zwölf (Jünger)“ und „Jünger“ aufgreifen und beide als „identisch“ oder „synonym“ beschreiben. Obwohl das m.W. an keiner Stelle eindeutig ist, erwecken Kingsburys Ausführungen in seiner narrativkritischen Studie Matthew as Story den Eindruck, dass er die Zwölf und die Jünger als austauschbare Größen versteht. Diese These hatte er in seiner früheren Studie zu Mt 13 begründet, in der er noch einen redaktionskritischen Ansatz verfolgt hatte. Bevor Jeannine Brown ihre These, dass „die Jünger“ und die Zwölf identisch seien, mit Argumenten anhand des Endtextes begründet, verweist sie auf Luz und Wilkins, mit denen sie ihre These teilt. Doch sowohl Luz als auch Wilkins sind v.a. aufgrund redaktionskritischer Beobachtungen zu diesem Ergebnis gelangt. Ebenso bezieht sich Uta Poplutz bei ihrer Verhältnisbestimmung, nämlich, dass beide von Mt „gleichgesetzt“ bzw. „identisch gemacht“ wurden, explizit und zustimmend auf Bultmann und Luz. Das erste von ihren vier Argumenten für diese Verhältnisbestimmung ist redaktionskritisch: Mt habe die Identifizierung von Mk mehr oder weniger selbstverständlich übernommen. Angesichts dieses Befundes stellt sich m.E. die kritische Frage, ob es konsequent ist, einerseits gezielt narrativkritisch zu arbeiten und andererseits redaktionskritisch erarbeitete Thesen aufzugreifen. Wäre es nicht konsequenter, entweder ausschließlich den Endtext auszulegen oder aber bei allen Exegesen redaktionskritische Ergebnisse einzubeziehen, was dann aber eine kompositionskritische Methodik wäre?
Endtextbasierte Argumente. Jeannine Brown führt als Argumente für die These, dass mit „die Jünger“ die „Zwölf“ gemeint seien, erstens die Formulierung „zwölf Jünger“ an und zweitens die Beobachtung, dass mit „die Jünger“ durchgehend die Zwölf gemeint seien, so z.B. in Mt 19,28. Das aber sind keine logisch zwingenden Argumente. Denn die Formulierung „zwölf Jünger“ besagt zwar, dass die in 10,2-4 aufgelisteten zwölf Personen „Jünger“ genannt werden, aber sie besagt nicht, dass auch außerhalb dieses Kontextes mit „die Jünger“ notwendigerweise immer die Zwölf gemeint sind. Das gleiche gilt für Browns zweites Argument. Es mag stimmen, dass im Kontext von 19,28 nur die Zwölf mit dem Ausdruck „die Jünger“ gemeint sind, aber damit ist nicht belegt, dass das an sämtlichen Stellen des MtEv der Fall ist. Brown führt zwei weitere grammatische Argumente an. Erstens: „Jünger“ ohne Artikel bezeichne einen Jünger im allgemeinen Sinne (sogenannte „ideal disciples“; so z.B. 10,24f42; 13,52) und „Jünger“ mit Artikel bezeichne aufgrund seiner starken Referentialität die Zwölf (sogenannte „actual disciples“). Diese Unterscheidung ist m.E. zwar sachgemäß und förderlich, aber die jeweilige referentielle Stärke (d.h. ob auf einen unbestimmten oder einen bestimmten Jünger Bezug genommen wird) wird nicht nur vom vorhandenen oder fehlenden Artikel, sondern auch und besonders vom Kontext angezeigt. Das zweite grammatische Argument lautet: der Evangelist habe bei Joseph von Arimathäa (27,57) das Verb μαθητεύω eingesetzt, weil das Substantiv μαθητής für die Zwölf reserviert sei. Gegen dieses Argument wurde bereits eingewandt, dass Substantiv und Verb zu demselben semantischen Feld gehören und deswegen beide nicht getrennt werden dürfen. Ein weiteres Argument lautet: Personen, die sich Jünger-ähnlich bzw. wie ein „ideal disciple“ verhalten (z.B. die kanaanäische Frau, der Hauptmann von Kapernaum usw.), gehören dennoch nicht zum Jüngerkreis, weil ausschließlich die Zwölf zum Jüngerkreis Jesu gehören. Browns Argument, dass ein bestimmtes Verhalten nicht unbedingt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe anzeigen muss, ist richtig. Und dennoch: Browns Argument entkräftet die gegenteilige These, ist aber kein Beweis für ihre eigene These, dass nur die Zwölf die „Jünger“ Jesu sind. D.h.: es ist durchaus möglich, wenngleich nicht notwendig, dass Personen, die sich Jünger-ähnlich verhalten, zum Jüngerkreis gehören und vom Evangelisten als „Jünger“ bezeichnet werden, – der Text lässt beide Möglichkeiten zu. Ähnliches lässt sich zu Poplutz sagen: sie führt abgesehen vom redaktionskritischen Argument drei Argumente für die These ins Feld, dass die Jünger und die Zwölf identisch seien. Erstens: Niemand außerhalb des Zwölferkreises werde „Jünger“ genannt. An dieser Stelle wäre eine Diskussion zum Verb μαθητεύω wünschenswert gewesen. Zweitens: Zwar gebe es im MtEv eine ganze Reihe von „jüngertypischen Figuren“, die teilweise ein vorbildlicheres Jünger-Sein verkörpern als die Zwölf. Aber dazu meint sie: „All diese ,kleinen Leute‘ tangieren unsere Antwort auf die Frage nach der Benennung der Jüngergruppe als Figuren im Matthäusevangelium nicht, sondern festigen die Beurteilung, dass die μαθηταί mit den δώδεκα zu identifizieren sind.“3 M.E. ist das einerseits insofern korrekt, als dass möglicherweise tatsächlich niemand aus der Reihe der jüngertypischen Personen „μαθητής“ genannt wird (wobei „ein anderer Jünger“ in 8,21 wahrscheinlich eine Ausnahme bildet; dazu s.u. I,2.2.2). Andererseits hätte erwogen werden müssen, dass nicht jeder, der ein wichtiges jüngertypisches Merkmal erfüllt, damit auch alle notwendigen Merkmale erfüllt, die ihn zu einem „Jünger“ machen. Desweiteren hätte Poplutz für die Bestimmung der Figurengruppe der Jünger das Verhältnis zwischen einem gruppentypischen Verhalten und dem nomen appellativum „Jünger“ klären können: warum ist für Poplutz nur derjenige ein „Jünger“, der mit diesem Ausdruck bezeichnet wird? Drittens: die parallele Aussendung der zwölf bzw. elf Jünger in 10,1-4 und 28,16 zeige ihres Erachtens das theologische Anliegen des Evangelisten, dass es vorösterlich kein Wachsen der Jüngergemeinde gegeben habe, sondern die Jüngergemeinde bzw. Ekklesia erst durch den Auferstandenen gebaut werde, durch den Kern der Jüngergemeinde, nämlich die Elf. Dieses Argument macht richtigerweise auf die Kontinuität zwischen der ersten und zweiten Aussendung des Zwölferkreises aufmerksam. Das ist aber kein Argument gegen das Wachstum der Jüngergemeinde während Jesu irdischen Wirkens. Zudem hat nicht der auferstandene, sondern der irdische Jesus die zwölf Jünger zur Gruppe versammelt, weswegen auch ein Jüngerwachstum abgesehen vom Zwölferkreis vorstellbar ist.