Читать книгу Die zwölf Jünger Jesu - Viktor Löwen - Страница 33

1.1.3 Literarischer Kontext

Оглавление

Das MtEv ist zuallererst ein Bericht über das Leben Jesu: beginnend mit einer Namenliste seiner Vorfahren und mit seiner Geburt in Bethlehem, über sein öffentliches Auftreten in und um Galiläa bis hin zu seinem Tod und seiner Auferstehung in Jerusalem und seiner abschließenden Erscheinung vor den elf Jüngern in Galiläa. Diese wenigen, aber wichtigen Ereignisse sind Beispiele für die biographische und geographische Struktur des MtEv, die das gesamte Buch durchzieht. In diese biographisch-geographische Erzählung sind fünf lange Reden Jesu integriert, die alle durch eine formelhafte Wendung (orientiert am Muster: „Und als Jesus seine Worte beendet hatte, geschah dies und das“) beschlossen werden. Die Reden sind derart in die Gesamterzählung integriert, dass es einen auffallenden Wechsel von Erzähl- und Redeteilen gibt (Mt 1-4: Erzählung; Mt 5-7: Rede; Mt 8-9: Erzählung; Mt 10: Rede; Mt 11-12: Erzählung; Mt 13: Rede; Mt 14-17: Erzählung; Mt 18: Rede; Mt 19-22: Erzählung; Mt 23-25: Rede; Mt 26-28: Erzählung). M.E. sollten die Erzähl- und Redeeinheiten nicht konsequent nach einem bestimmten Modell, sondern jeweils variabel einander zugeordnet werden, so dass es nicht fünf eindeutige Zweier-Paare ergibt. Diese variable Zuordnung der Erzähl- und Redeteile hat zwei Vorteile: erstens können thematische Inhalte der Teile besser berücksichtigt werden und zweitens können weitere formale Strukturmerkmale, die sich auf die Zuordnung der Erzähl- und Redeteile auswirken, integriert werden. Z.B. halten die Summarien Mt 4,23 und 9,35 die Bergpredigt (Mt 5-7) und die Wundererzählungen (Mt 8-9) zusammen, leiten aber auch zur Aussendungsrede (Mt 10) über.1

In Mt 1-2 schildert Mt Ereignisse rund um Jesu Geburt und frühe Kindheit, und legt das theologische Fundament für das Verständnis Jesu als messianischem Davidssohn: Retter von Sünden (Mt 1,21: σώσει τὸν λαὸν αὐτοῦ ἀπὸ τῶν ἁμαρτιῶν αὐτῶν), „Immanuel“ (vgl. 1,23: μεθ᾽ ἡμῶν ὁ θεός) und „König der Juden“ (2,2: ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων; vgl. 27,11). Darauf folgen in 3,1-4,11 Jesu Taufe durch Johannes und die drei Versuchungen durch den Teufel in der Wüste, wodurch Jesus auf den Dienst in der Öffentlichkeit vorbereitet wird. Laut 4,12-17 zieht Jesus ins galiläische Kapernaum und beginnt öffentlich aufzutreten. 4,17 ist ein Schlüsselvers für die biographisch-geographische Struktur des MtEv, nicht nur weil davor ein wichtiger Ortswechsel in die Gegend Galiläa vollzogen wird, wo Jesus von da an hauptsächlich wirken wird, und nicht nur, weil es den Startpunkt Jesu öffentlichen Auftretens beschreibt, sondern auch weil 4,17 den Inhalt seiner Predigt, einer Parole gleich, knapp zusammenfasst: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (μετανοεῖτε· ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.).2 Diese Zusammenfassung ist in einer weiteren Hinsicht für die Struktur des MtEv interessant, weil sie wörtlich identisch ist mit der Parole des Täufers Johannes in 3,2 (μετανοεῖτε· ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.). Die Angabe in 4,12, dass Johannes überliefert worden war, scheint der Anlass für Jesu Wohnortswechsel gewesen zu sein (4,13). Die wörtlich identische Predigt beider Personen verstärkt den Eindruck, dass Jesus an das Wirken des inzwischen verhafteten Täufers Johannes anknüpft und es fortführt. Unmittelbar nach der Nachricht, dass Jesus „von da an begann“ (4,17: ἀπὸ τότε ἤρξατο ὁ Ἰησοῦς) öffentlich aufzutreten, erfolgt in 4,18-22 die Berufung der ersten vier Jünger, die alles verlassen und Jesus nachfolgen, um zu „Menschenfischern“ (4,19: ἁλιεῖς ἀνθρώπων) ausgebildet zu werden. Nach der Berufungsgeschichte gibt der Evangelist in 4,23-25 eine kurze Zusammenfassung von Jesu Wirken in Galiläa und von der Reaktion des Volkes. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Vers 4,23, weil er ein Summarium von Jesu Wirken ist. Hier wird Jesu Bußruf aus 4,17 nicht mehr explizit erwähnt und stattdessen werden drei Elemente genannt: Lehre in den Synagogen (διδάσκων ἐν ταῖς συναγωγαῖς), Predigt des Himmelreichs (κηρύσσων τὸ εὐαγγέλιον) und Heilungen im Volk (θεραπεύων πᾶσαν νόσον καὶ πᾶσαν μαλακίαν ἐν τῷ λαῷ). Darauf folgt in Mt 5-7 die erste große Rede des MtEv, in der Jesus seine Jünger das Ethos des Himmelreichs lehrt. Sie wird – wie auch alle anderen vier Reden – durch eine nahezu identische formelhafte Wendung abgeschlossen: „Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte“ (7,28a: Καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς τοὺς λόγους τούτους). Diesen großen Block kann man als Jesu „Wort“ zusammenfassen. Nach der Bergpredigt setzt der Evangelist die Erzählung fort und bietet in 8,1-9,34 eine Sammlung von diversen Wundergeschichten. Diesen großen Block kann man als Jesu „Werk“ zusammenfassen. Eine auffallende Parallele zwischen diesen „Wort“- und „Werk“- Blöcken ist die jeweilige Reaktion des Volkes: auf Jesu Lehre reagieren sie mit „Erstaunen“ (7,28b: ἐξεπλήσσοντο) und auf Jesu Wunderwerke mit „Verwunderung“ (9,33b: ἐθαύμασαν). Weil beide Stellen sehr knapp die allgemeine Reaktion des Volkes auf sämtliche Worte Jesu in Mt 5-7 und auf sämtliche Werke Jesu in Mt 8-9 zusammenfassen, ragen somit zwei daran angegliederte Anmerkungen heraus: Das Erstaunen des Volkes wird damit begründet (7,29: γάρ), dass Jesus mit Vollmacht lehrte, anders als ihre Schriftgelehrten (7,29: οὐχ ὡς οἱ γραμματεῖς αὐτῶν). Und das Wundern des Volkes wird mit der Erklärung begründet, dass niemals derartiges in Israel gesehen wurde (9,33c: οὐδέποτε ἐφάνη οὕτως ἐν τῷ Ἰσραήλ). Die unmittelbar folgende Reaktion der Pharisäer bildet einen Gegensatz zur Reaktion des Volkes: Sie unterstellen Jesus, er hätte die Dämonen durch den Obersten der Dämonen ausgetrieben (9,34). Weil die Reaktionen des Volkes wie Zusammenfassungen wirken, gilt dasselbe für die Darstellung der Schriftgelehrten in 7,29 und für die Reaktion der Pharisäer in 9,34. Diese divergierenden Haltungen zu Jesus zeigen den Kontrast zwischen den Volksmengen und ihren Volksanführern. Die kritische Sicht auf die Volksanführer geht einher mit der Hinwendung des Volkes zu Jesus. Diese beiden großen Blöcke 5,1-7,29 und 8,1-9,34 werden durch ein weiteres Summarium in 9,35 abgeschlossen, das fast identisch formuliert ist wie das Summarium in 4,23. Beide Summarien bilden somit eine Inclusio, die alle dazwischen liegenden „Worte“ und „Werke“ Jesu zusammenfassen. 9,35 ist nicht nur der abschließende Rahmenteil der Inclusio, sondern auch ein Scharnierstück: es schließt also nicht nur den großen Block 4,23-9,34 ab, sondern leitet zusammen mit 9,36-38 über in den für uns relevanten Textblock 10,1-42. Zudem ist 9,35 eine Parallele zu 11,1, wo Jesu Handeln ebenfalls sehr knapp umrissen wird. Aufgrund der unmittelbaren Nähe sowie der Scharnierfunktion von 9,35 haben die Verse 9,36-38 ein besonderes Gewicht für die Auslegung von 10,1-42 (dazu s.o. unter Passagenabgrenzung II,1.1.2).

Der folgende große Textblock 10,1-42, der von der Berufung und Bevollmächtigung der Zwölf berichtet (10,1-5b) und die Aussendungsrede Jesu an die Zwölf (10,5c-42) enthält, stellt sich somit als die Erfüllung des vorangegangenen Gebets um Erntemitarbeiter dar. Die Auslegung von 9,36-10,42 wird zeigen, dass es viele Querverbindungen zum davor Berichteten gibt. Es wäre außerdem zu erwägen, ob 10,1-5a nicht derart den ersten Jüngerberufungen in 4,18-22 entspricht, dass sie den gesamten dazwischenliegenden Block rahmen. Dann läge folgender Chiasmus vor: 4,18-22 = A; Mt 4,23 = B; Mt 5-7 = C; Mt 8-9 = C᾽; 9,35 = B᾽; 9,36-10,5 = A᾽.3 Den Kern würden hierbei Jesu Lehre und Wundertaten bilden, die wiederum ebenfalls chiastisch aufgebaut sein könnten. Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal ist 11,1: Während der erste Teil des Verses (Καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς διατάσσων τοῖς δώδεκα μαθηταῖς αὐτοῦ) eine formelhafte Wendung ist, die alle fünf großen Reden abschließt, so auch hier die Aussendungsrede Mt 10, leitet der zweite Teil des Verses (μετέβη ἐκεῖθεν τοῦ διδάσκειν καὶ κηρύσσειν ἐν ταῖς πόλεσιν αὐτῶν) einen neuen narrativen Block ein. Der zweite Teil des Verses kann mit seinen beiden Verben „lehren“ und „predigen“ als Summarium der Tätigkeit Jesu gelten. Demnach steht 11,1 in einer Linie mit den anderen beiden Summarien in 4,23 und 9,35. Dabei fällt auf, dass Mt nach der Aussendung der Zwölf nicht von der Ausführung des Auftrags berichtet, sondern Jesus als denjenigen vorstellt, der missionarisch aktiv ist, was die Parallelität zum Stoff zwischen 4,23-9,35 verstärkt, wo ebenfalls Jesus der Einzige ist, der die Initiative ergreift und vollmächtig im Volk wirkt.4 Diese „Lücke“ in der Erzählung kann verschiedentlich erklärt werden. Z.B. könnte Matthäus dadurch den Eindruck erwecken wollen, dass dieser Auftrag noch unerledigt sei; und / oder, dass Jesus allein der „Held“ der Erzählung sei und demnach der Dienst der Jünger ein Bestandteil von Jesu Dienst ist. Kurz gesagt: Verbindet man beide Summarien (4,23; 9,35) und das dazwischenliegende Material (4,24-9,34) mit der Bitte um die Erntemitarbeiter (9,37-38) und mit der Berufung und Aussendung der Zwölf (10,1-42), so ergibt sich aus dieser Struktur eine besondere theologische Funktion für die Zwölf: sie sollen Jesus bei seinem Dienst am Volk Israel assistieren.5 Dieser Gedanke wird in der folgenden Auslegung von 9,36ff detaillierter entfaltet werden. Man könnte also 4,17-11,1 folgendermaßen überschreiben: „Jesu Darstellung des Himmelreichs in Wort und Werk und deren Fortführung durch die zwölf Jünger.“

Der nächste narrative Block Mt 11,2-12,50 gehört nicht zu den mit 4,23-11,1 verknüpften Blöcken. Denn während 4,23-9,35 die Anfangsphase von Jesu Auftreten beschreibt und dabei den inhaltlichen Schwerpunkt darauf legt, Jesu Verständnis des Himmelreichs in Wort und Werk vorzustellen, verlagert sich der inhaltliche Schwerpunkt von 11,2 an darauf, die Reaktionen auf Jesus und seine Botschaft darzustellen. Es gibt zwar insofern eine inhaltliche Kontinuität, als dass wieder Jesus die Initiative ergreift, wie schon zuvor in 4,17-9,38, aber gerade der Umbruch in 11,7-24 von den vorher fast durchgehend positiven Reaktionen des Volkes hin zu ihren negativen Reaktionen, markieren relativ deutlich die Schwerpunktverschiebung (vgl. in 11,2-6 auch den Umbruch bei Johannes dem Täufer hin zum Zweifel an Jesu Person [vgl. v.a. V.6: σκανδαλισθῇ]).6 Daraus folgt: Insgesamt ist der Aufbau des Textes ab 11,2 für das Verständnis von Mt 10 nicht besonders relevant.7

Die zwölf Jünger Jesu

Подняться наверх