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4.3 Zum Begriff »Kommunikation als Menschenrecht«

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Ein zentraler Begriff dieser Studie ist der von der Kommunikation als einem Menschenrecht. Die in den USA und Lateinamerika übliche sprachliche Phrase »Kommunikation als Menschenrecht« ist im europäischen Raum bislang weitgehend unbekannt geblieben. Es bestehen auch große Unklarheiten hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs.

Teleologisch mag sich zunächst nicht erschließen, warum die menschliche Kommunikation durch irgendein Recht geschützt oder gestärkt werden müsse. Denn die Kommunikation scheint dem Menschen als Bedürfnis inne zu liegen. Doch so steht es ganz ähnlich mit dem Bedürfnis nach Nahrung. Die Tatsache, dass Menschen regelmäßig Hunger verspüren, macht sie noch nicht satt. Aus diesem Grund gewähren viele nationale Rechtsordnungen und auch bereits die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 22) einen sozialen Schutz durch die Gesellschaft. Ein Recht auf Kommunikation hat teleologisch keine andere Funktion: Es würde einem menschlichen Bedürfnis zu einer (umfassenderen) Erfüllung verhelfen.

Juristisch-systematisch mag verwirren, dass einigen Rechten auch Pflichten gegenüber stehen. Wie müsste eine Pflicht zur Kommunikation aussehen? Allerdings sind die von Gesetzgeber, Rechtswissenschaft oder Gerichten ermittelten korrespondierenden Pflichten nur ganz selten exakte Spiegelbilder der Rechte.28 Selbstverständlich ist eine Pflicht zur Kommunikation ebenso abwegig wie die Pflicht, die eigene Meinung zu verkünden.

Juristisch-systematisch unklar erscheint weiterhin zunächst das Verhältnis zwischen dem in vielen nationalen Rechtsordnungen und den Menschenrechten historisch viel früher bereits anerkannten Recht der Meinungsäußerungsfreiheit sowie dem der Pressefreiheit29 einerseits und dem diskutierten Recht auf Kommunikation andererseits. Diese Verhältnis erhellt sich, wenn diese »älteren« Rechte als Teilmenge des neuen Rechtes eingeordnet werden, das insoweit weitgehender ist, als dass es das durchsetzbare Recht für eine wirksame Massenkommunikation für jeden Menschen beinhaltet und die Garantien der älteren Rechte beibehält. Das neue Recht wird dabei in kritischer Auseinandersetzung mit den realen Beschränkungen der alten Rechte diskutiert, wobei die Diskussion in inhaltlicher Hinsicht nicht erst seit kurzem stattfindet.

Der MacBride-Report30 problematisierte 1980 für diese Diskussion die relevanten Fragen: Wer hat die Meinungsmacht? Wer sendet wie für wen? Wer bleibt ungehört und wer wird gehört? Der Bericht rügte die Asymmetrie in der »öffentlichen« Kommunikation und regte ein »Recht auf Kommunikation« an, das auf symmetrische Kommunikation in allen Bereichen, in denen sie fehlt, zielte.

Die Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung etablieren sich historisch mit dem Übergang des feudalistischen in das kapitalistische Zeitalter. Sie sind Geburtshelfer und Kinder des Kapitalismus zugleich. Geburtshelfer waren sie, weil die Ausübung dieser Rechte den Absolutismus als letzte Phase des Feudalismus zu erschüttern half. Kinder sind sie, weil erst die entwickelte Form des Kapitalismus eine umfangreiche Garantie dieser Rechte überhaupt leisten konnte. Nach der bürgerlichen Selbstwahrnehmung sind diese bürgerlichen Freiheitsrechte solche Rechte, die gleichermaßen jeden Bürger gegenüber dem Staat31 und gegenüber Privaten in mittelbarer Drittwirkung32 schützen.

Für die Ausübung der allgemeinen Meinungsfreiheit im privaten Bereich mag dies zutreffend sein. Mit Blick auf die die Meinungsfreiheit konkretisierende Pressefreiheit »genießt« die übergroße Zahl der Menschen dieses Recht nur als Empfänger*innen von Informationen, weil es ihnen an den materiellen Grundlagen für eine wirksame Massenkommunikation fehlt. Es ist nun nicht ungewöhnlich, dass in einer arbeitsteiligen Gesellschaft Wenige etwas Konkretes für Viele produzieren. Das stört für sich genommen auch nicht sonderlich, wenn es um Grünkohl, Taschenrechner oder Jeans geht. Der Medienbetrieb (re)produziert jedoch als Hegemonie die Informationen, die die kapitalistische Struktur der Gesellschaft betreffen.

Pressefreiheit ist das Recht von Wenigen, den Vielen die Welt zu erklären, und dies oft auch noch so, dass diese Vielen an dieser Welt besser nichts Entscheidendes ändern möchten. Was mögen sich dagegen wohl die Vielen zu erzählen beginnen, wenn sie sich gegenseitig zuhören könnten? Was würden sie dann verändern wollen? Es ist dieses Experiment eines symmetrischen Massen-Kommunizierens33, dem das Recht auf Kommunikation Vorschub leisten will.

1 Das Projekt umfasst Forscher*innen aus diesem Bereich, die aus allen Ländern des Kontinents Material und Ergebnisse beitragen.

2 Die genaue Anzahl an Stationen ist umstritten, weil man sehr unterschiedliche Kriterien an den Begriff »Community-Radio« anlegen kann, wobei strengere Kriterien zu eher 3000 Stationen führen und weichere Kriterien 6000 ergeben können.

3 Die Rechtsnatur des Eigentums und seine faktische Funktion müssen nicht übereinstimmen. Sind zum Beispiel alle Mieter eines Mietshauses zugleich Eigentümer desselben Hauses (wie etwa beim deutschen Miethäusersyndikatsmodell), so hat sich an der Rechtsnatur des Eigentums nach § 903 BGB nichts geändert, wohl aber an der faktischen Funktion. Es dient nun dem Interesse der Mieter*innen nach möglichst niedrigen Mieten, nicht mehr der Erzielung möglichst hoher Mieteinnahmen.

4 Im deutschsprachigen Raum hat mittlerweile eine Unterscheidung der Benennung der Methode als Grounded Theory sowie eine Bezeichnung ihrer Resultate als gegenstandsbezogene Theoriebildung ihren Platz gefunden. (Lampert, S. 2005: 516)

5 Glaser, B. G. und Strauss, A. (1967): The Discovery of Grounded Theory – Strategies of qualitative research.

6 In dieser Arbeit wird »The Discovery of Grounded Theory« aus dem Jahre 1967 in der deutschen Übersetzung von 1998 »Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung« herangezogen.

7 Legewie, Heiner und Schervier-Legewie, Barbara (2004): »Forschung ist harte Arbeit, es ist immer ein Stück Leiden damit verbunden. Deshalb muss es auf der anderen Seite Spaß machen«.

8 Zur Vertiefung der »Fremdheitsannahme« bzw. »Verfremdungshaltung« rekonstruktiver Sozialforschung, die überwiegend in der Ethnografie ausgearbeitet wurde, siehe: Hirschauer, S. und Amann, K. (1997).

9 Von Strauss eher betont als von Glaser.

10 Sie entstanden in Workshops entlang der partizipativen Dreharbeiten zu dem Dokumentarfilm »Sachamanta«.

11 Ein faszinierendes und praktisches Handbuch, das Schritt für Schritt Interviewtechniken darstellt.

12 Manche Interviewpartner*innen antworteten auf eine Frage etwa mit Bemerkungen wie: »Nun, das müsstest Du ja selbst wissen« oder »Du kennst das ja«. Meine Reaktionen lauteten dann durchweg: »Nein, ich kenne das nicht.« oder »Ich möchte es von dir und aus deiner Sicht wissen.«

13 Für eine weitere Vertiefung des Gegenstands und zum Umgang mit Leitfaden-Interviews empfehle ich Helfferich (2005).

14 Im Laufe der Differenzierung der Methode in verschiedene Methoden betonte Strauss stärker, dass die Forschenden notwendig theoretisch vorgeprägt sind. Glaser bestand darauf, dass sich die Theorienbildung allein aus den Daten zu ergeben habe. Bereits in ihrer gemeinsamen Arbeit war dieser Konflikt angelegt.

15 Aktionsforschung oder auch action research geht auf den Sozialpsychologen Kurt Lewin zurück. Der deutsch-jüdische Wissenschaftler floh vor dem Antisemitismus des deutschen Nazismus und entwickelte den Ansatz in den USA. Ein Teil seiner Arbeiten ist heute online abrufbar: http://gth.krammerbuch.at/sites/default/files/articles/Create%20Article/25_KL_F.pdf

Im deutschsprachigen Raum brauchte es fast 20 Jahre, bis nach dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands die Ansätze von Lewin wieder interdisziplinär diskutiert wurden. Weiterführende Lektüre bei: Unger, H. von (2014): Partizipative Ansätze. Einführung in die Forschungspraxis, Berlin.

16 Dick, B. (2007): »What Can Grounded Theorists and Action Researchers Learn from Each Other?«, in: Bryant, A. and Charmaz, K.: The SAGE Handbook of Grounded Theory, S. 398–416.

17 Pieper, R. (1972): »Aktionsforschung und Systemwissenschaften«, in: Haag, F. (Hg.): Aktionsforschung, München, S. 100–116.

18 Lewin, K. (1946): Action research and minority problems. In Resolving social conflicts: Selected papers on group dynamics. New York, 201–216.

19 Moser widmet dem Minimalkonsens ein ganzes Kapitel. (Moser, H. 1977b: 30–34)

20 Die Tabelle der density der Codes befindet sich im Anhang II: Codesbuch dieser Veröffentlichung.

21 Dewey, J. [1927] 1954: Neuauflage: John Dewey: The Public & its Problems. Athens, Ohio.

22 u.a. Charles Horton Cooley, Walter Lippmann und John Dewey.

23 Wenn das Selbstgespräch der Verdeutlichung von Handelsoptionen diente, ist es Kommunikation.

24 Dann wäre dieser Roman ein relativ erfolgloser kommunikativer Akt.

25 Vielleicht kommt es auf die Mimik an.

26 Selbstverständlich ist der Begriff selbst älter, aber unser Verständnis des Inhalts des Begriffs entstammt einer sehr viel jüngeren Epoche.

27 Was kein bewusstes Handeln erfordert, wie diese Studie später präziser ausführt.

28 Dem Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, entspricht spiegelbildlich die Pflicht, das auch zu tun. (Artikel 6, Absatz 2, Satz 1 Grundgesetz)

29 Pressefreiheit wird hier (nach der historischen Herkunft) synonym verwendet für alle Formen der Medienfreiheit. Das Grundgesetz erwähnt die Presse- und Rundfunkfreiheit. Im englischen Sprachgebrauch umfasst »Freedom of Press« grundsätzlich alle Bereiche der (Massen)Medien.

30 Der MacBride-Report aus dem Jahr 1980 ist Teil einer Untersuchung mit dem Titel »Many Voices, One World. Communication and Society Today and Tomorrow«. Er war ein wichtiger Versuch, das Verständnis von Kommunikation als Menschenrecht auf dem internationalen Parkett zu präsentieren und beinhaltet auch bereits den juristischen Term »Kommunikation als Menschenrecht« sowie dessen Herleitung aus der grundsätzlichen Funktion aller Menschenrechte, die den Menschen (in liberal-freiheitlicher, sozialer oder weiterer Weise) davor schützen soll, zum Objekt fremder Macht erniedrigt zu sein.

31 Der Staat darf unliebsame Meinungen oder Meinungen grundsätzlich nicht unterdrücken.

32 Der Staat darf im Verhältnis zwischen Privaten der Unterdrückung unliebsamer Meinungen oder Tatsachen grundsätzlich keinen Vorschub leisten.

33 Hier ließe sich naheliegend einwenden, dass zunächst kaum vorstellbar ist, wie für eine symmetrische Kommunikation die Vielzahl an Frequenzen, Stationen, Druckerpressen oder Servern bereit gestellt werden sollte. Doch das ist ein Scheinproblem. Diese Studie wird in den folgenden Kapiteln zeigen, dass es um die Ausübung von Kommunikationsrechten in Gruppen geht, denen die notwendigen Mittel an die Hand zu geben sind, um diese Rechte wahrzunehmen.

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