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2. Motivation

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»I'd sit alone and watch your light / my only friend through teenage nights / and everything I had to know / I heard it on my radio / You gave them all those old time stars / through wars of world invaded by Mars / you made 'em laugh you made 'em cry / you made us feel like we could fly radio / So don't become some background noise / a backdrop for the girls and boys / who just don't know or just don't care / and just complain when you're not there«

(Radio Gaga, Roger Taylor, Queen, The Works, 1984)

Ich gehör(t)e einer Generation und auch einer gesellschaftlichen Klasse in Argentinien an, bei der das Radio lange Zeit das einzige Medium war und noch längerer Zeit das wichtigste Medium blieb. Seit ich denken kann, war das Radio von frühmorgens, beim Aufstehen und Frühstücken, über das Nachmittagsprogramm bis spät in den Abend unser lautester bester Freund in der Familie. Das Radio erklärte uns die Welt und es war die politische Luft, die wir atmen konnten, atmen mussten, wenn wir nicht gleichsam politisch ersticken wollten.

Im Jahre 1983 verfügte meine Familie außerdem bereits über ein Fernsehgerät; doch als Argentinien in diesem Jahr den Falklandkrieg verlor, die Militärdiktatur bröckelte und aus der Geschichte verschwand, da verfolgten wir das Unvorstellbare täglich weiter im Radio, weil wir es den ganzen Tag hören konnten.

Das Bild von der geatmeten Luft trifft den Kern der Sache: Der Mensch muss den ganzen Tag, das ganze Leben lang ununterbrochen atmen – Radios gibt es auf Küchenanrichten, in Autos, in tragbarer Form im Bus, in der Schule und auf der Straße. Sie lassen sich am Abend auf dem Nachttisch einschalten und mischen sich in die Träume ein. Radios existieren an allen Orten und sie erlauben es unseren Beinen, Händen und Augen sich mit anderem zu beschäftigen, zu laufen, zu arbeiten, zu ruhen, während unsere Ohren dennoch weiter aufmerksam zuhören können. Das unterscheidet Radios von Fernsehern, Zeitungen oder Büchern. Diese gleichen – um im Bild des „Leben-müssens“ zu bleiben – dem zum Leben notwendigen Essen und Trinken, aber nicht der Atemluft.

Nicht nur für mich oder meine Familie, sondern für die argentinische Gesellschaft war das Radio das wichtigste Medium, um Informationen zu bekommen. Aber vor allem war es das wichtigste Medium, um analytisches und kritisches Denken zu erlernen und zu üben. Radio war ein Gleichmacher. Niemand musste lesen können, um es zu hören. Niemand musste reich sein, um es zu besitzen. Jeder musste gleichermaßen das eigene Vorstellungsvermögen trainieren, um dem Erzählten die passenden Bilder abzuringen, die Stimmen in Personen zu verwandeln, die Geräusche in Orte zu denken.

Das Radio war, besonders unmittelbar nach dem Ende der Diktatur, ein Labor der Medien und der Kritik der Medien. Viele Menschen, die heute in der argentinischen Medienlandschaft eine geachtete Rolle spielen, egal in welche politische Richtung sie sich mit den Jahren entwickelten, experimentierten und laborierten damals mit dem Radiomachen. Der Umbruch zur bürgerlichen Demokratie ließ eine zuvor nie geahnte Vielfalt politischer Sendungen entstehen, deren Grundlage und Grenzen natürlich in den materiellen Erfordernissen lagen, Technik, Sendeplatz und Personal bezahlen zu können. Auch das wissenschaftliche Nachdenken über das Medium Radio kam in Fahrt und hält bis heute an. Die Rolle des Radios in (insbesondere) der argentinischen Gesellschaft ist durch eine Vielfalt von Publikationen1 für weitere Generationen festgehalten worden. Sie falsifizieren das in Europa projektierte Bild der lateinamerikanischen TV-Familie2 und befassen sich mit der Entstehungsgeschichte und der Entwicklung des Mediums Radio von seinen Anfängen bis hin zum Ende der 1990er Jahre. Inhaltlich konzentrieren sie sich auf das Radio, das heute als etabliert verstanden wird, und zusammenfassend behandeln sie folgende naheliegende Schwerpunkte:

 Die Leidenschaft und Abenteuerlust der ersten Generation von Radiomachenden, die sich auf die Entwicklung des technischen Bereichs und des Radios als Gerät konzentrierten. (Los Locos de la Azotea3) (Ulanovsky, C. et al.: »Días de radio I« 2004: 13-28 und López Vigil, J. I. 2005: 11)

 Das Besondere der Live-Sendungen, entweder durch die Direktübertragung von Opernaufführungen oder durch die Vorbereitung von Radioabenden in großen Theatersälen.

 Die Rolle der Sendungssprecher*innen (Moderator*innen) und deren Verbindung mit der Hörerschaft, die sich zunächst durch Briefe und später über das Telefon an den Sender zu Wort meldeten.

 Das unmittelbare kollektive Gefühl einer Identifikation, bis heute können die meisten Argentinier*innen ohne Zögern auf die Frage antworten: »Welche Radiostation hören Sie gern?«

Die Antworten auf diese Frage fallen natürlich nach Region, Interessen, Musikgeschmack, politischer Verortung etc. ganz verschieden aus. In Argentinien wäre dies zunächst nicht anders als in der Bundesrepublik bzw. in Europa. Doch etwas wäre in Argentinien und in weiten Teilen Lateinamerikas ganz anders als hier in Europa. Viele antwortende Hörer*innen würden Sender nennen, die sich weder als öffentlich-rechtliche bzw. staatliche Sender noch als gewinnorientierte private Sender auffassen lassen. Es wären zahlreiche Sender unter den Nennungen, die einem bestimmten emanzipatorischen Projekt, einem selbstverwalteten Stadtteil, einer großen Fabrik in Arbeiter*innenhand oder einer sozialen Bewegung auf dem Land zugeordnet werden können. Menschen würden damit solche Sender nennen, deren Macher*innen sie häufig persönlich kennen, mit denen sie sich am Mittag oder Abend zum Essen treffen oder am Morgen in der Bürgerversammlung sitzen und die sie vermutlich schon mehrfach eingeladen haben, an der Programmgestaltung oder dem technischen Betrieb dieses Lieblingssenders mitzuwirken.

Einen Teil dieser Sender, die in der argentinischen und lateinamerikanischen Politik und Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, sich aber in ihrer Funktion und Relevanz deutlich unterscheiden lassen von den im deutschen und europäischen Kontext (leider) weit weniger bedeutsamen »Freien Radios« fasse ich im Folgenden unter dem Begriff der »Community-Radios«4 zusammen. Ihre Absichten, ihre innere Aufstellung, ihr Selbstverständnis und ihre Funktion für antikapitalistische Transformation und dem Kampf gegen Entfremdung sind ebenso Gegenstände dieser Studie wie die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen den Stationen und den sozialen Bewegungen5.

Als wichtiger Teil einer sehr agilen und wirksamen Gegenöffentlichkeit haben Community-Radios und ihre Aktivist*innen in Argentinien nicht nur den gesellschaftlichen Diskurs nach dem Ende der Militärdiktatur wesentlich mitbestimmt, waren Stimme und Zentrum für antikapitalistische und emanzipatorische Projekte, sondern sie haben auch eine wesentliche Rolle gespielt bei einer radikalen (und vorübergehend wieder gefährdeten) Umgestaltung der argentinischen Medienlandschaft.

Eine der europäischen und deutschen ähnlichen Diskussion über die (ungute) Dominanz der Massenmedien für den gesellschaftlichen Diskurs in der »Öffentlichkeit«6, die in Argentinien geführt wurde, endete im Dezember des Jahres 2009 für viele Beobachter*innen völlig überraschend mit einem Bundesgesetz, das nicht weniger als einen radikalen7 Umbruch der Medienlandschaft bedeutete. Staatliche Medien (öffentlich-rechtliche8) und gewinnorientierte (private) Medien sollten sich nun damit abfinden müssen, dass neben ihnen eine dritte Säule, eine dritte Art von Medien gleichberechtigt existieren würde und – das ist das Besondere – ein Drittel aller Sendeplätze und Frequenzen verlangen und zu ihrer Verwendung vom Staat die notwendigen materiellen Mittel fordern könnten. Diese dritte Medienart wird durch das neue Gesetz: private9 (aber) nicht gewinnorientierte Medien genannt.

Das Gesetz musste sich diese Gruppe der Medien nicht erst ausdenken. Diese Art der Medien existierte bereits. Ihre wirkmächtigste Form waren m.E. die Community-Radios. Aber auch andere Radios der dritten Art, erste Stadtteil- Fernsehsender und natürlich auch Zeitungen und Magazine10 dieser Art von Medien waren schon vor Inkrafttreten des Gesetzes zahlreich aktiv, engagierten sich seit Jahren für die Genese des neuen Gesetzes und erfuhren nun eine bis dahin unerhörte Aufwertung.

Die Gegenöffentlichkeit, die alternative Öffentlichkeit, die Gegenhegemonie wechselte aus dem Feld des gegen alle Widerstände dennoch möglich Gemachten hinüber in das Feld der vom Staat Gewollten und Geförderten. Die Kräfte der Veränderung und Überwindung der (kapitalistischen) Gesellschaft, der Entwicklung der Demokratie und der Humanität erhielten ein Drittel der medialen Potenz der Medienlandschaft des Landes als ihr Terrain und Schutzraum zugewiesen. Es war etwas geschehen, das in fast allen anderen Staaten der Welt derzeit vollkommen unmöglich erscheint. Wer es dort dennoch für sich wünscht, muss sich fragen: Wie wurde das Unmögliche möglich gemacht? Wie wurde es erkämpft? Was waren die gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Momente, die für diesen Kampf hilfreich Pate standen? Was wurde bis heute in der Praxis aus diesem unmöglichen Gesetz umgesetzt? Auch diesen Fragen geht diese Studie umfassend nach.

Vor allen wissenschaftlichen Interessen, Neigungen und natürlich auch dem Streben nach persönlicher Entwicklung gab es ein überragendes Motiv für mich, diese Studie zu verfassen: Hoffnung. Ich habe die Hoffnung, dass linke und progressive Kräfte in Deutschland und Europa aus den jüngeren Entwicklungen in Lateinamerika lernen können, weil die Lust auf neues Wissen größer sein kann als die eurozentristische und westliche Arroganz, die dem Prozess des Lernens »vom Süden« einstweilen noch deutlich entgegensteht: Lateinamerika wird hierzulande mitunter beschaut, bestaunt oder bedauert, doch die dort real stattfindenden Hinwendungen zu einer postkapitalistischen Gesellschaft werden meist als ein für hiesige entwickelte Zustände kaum relevantes Aufbäumen der Unterdrückten der unterentwickelten Peripherie wahrgenommen. Eine Übertragung der dortigen Ideen, Analysen, Strategien und Taktiken ist aber nicht so sehr gehindert durch die Verschiedenheit der Verhältnisse, sondern eher durch die hiesige Hoffnungslosigkeit. Zu hart, zu verletzend, zu lähmend wiegen der ökonomische Untergang und die moralische (Selbst-)Entweihung des europäischen Sozialismus und zu offenbar, zu vernünftig, zu klar scheint die Erkenntnis, der Kapitalismus habe auf lange Zeit gesiegt. Es sind aber die Menschen, die ihre Geschichte machen, dies eben nicht nur unter den Umständen, die sie vorfinden, sondern die sie gestalten, die sie mit Mühe dem Vorgefundenen und sich selbst abringen müssen.11

Ohne Hoffnung hat diese Mühe keinen Anfang. Der deutsche Philosoph Ernst Bloch schrieb, es »kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.« (Bloch, E. [1959] 1985: 1) Wer das Gelingen sucht, wer Hoffnung lernen will, braucht hoffende und handelnde Vorbilder. Die gibt es. Sie finden sich auf der ganzen Welt, und sie finden sich auch in Argentinien und in Lateinamerika.

Ich danke den Menschen, die sich in den Community-Radios und in den sozialen Bewegungen in Argentinien für eine postkapitalistische Gesellschaft engagieren. Ich danke den Dozenten der Universität Buenos Aires José Seoane, Claudio Vivori, Damián Loreti, Guillermo Mastrini und Santiago Marino, die mir erneut gezeigt haben, dass eine andere Universität möglich ist. Ich danke meiner Mitstudentin Ligia Nicolai, die mir bei der Transkription der Interviews unter die Arme griff und mit ihren Anmerkungen und Ideen die Analyse beflügelt hat. Ich danke der Rosa-Luxemburg-Stiftung, deren Stipendiatin ich zeitweilig war. Ich danke El Caminante und Marcus Wagner für das sorgfältige Lektorat. Ich danke all den vielen Menschen, die mich bei diesem Promotionsprojekt unterstützt haben, indem sie es durch ihre Kritiken und ihre Anregungen bereicherten.

Viviana Uriona, Berlin, Oktober 2016

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