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Wer schnell aufsteigt, läuft Gefahr, eine große Anzahl von Neidern auf den Plan zu rufen.

Der neuen Kommissarin Fatma, Deutsch Türkin der dritten Generation, waren alle Vorbehalte gegen ihre Person innerhalb der Abteilung „Organisierte Kriminalität“ im LKA bewusst. In der Reihenfolge ihrer Bedeutung.

Erstens Frau, zweitens aus einer türkischen Familie, drittens Berufsanfängerin.

Trotzdem hatte sie vor, sich Respekt innerhalb der Behörde zu verschaffen. Vor allem in ihrer Abteilung.

Nicht Auffallen als vornehmste Berufsauffassung, lautete die Dienstanweisung ihres Vorgesetzten Müller. Schlaflose Nächte hatte sie seit dieser Ansage verbracht. Einfach Ignorieren erschien gefährlich, denn sie war ja noch in der Probezeit.

Die zerstörerische Wirkung dieses inneren Konflikts konnte sie jeden Morgen im Spiegel beobachten.

„Meine Haare sind krank.“

Ein Phänomen, das jeden Tag sichtbarer wurde. Fatmas gewaltige, bläulich-schwarze Haarpracht spiegelte ihren Seelenzustand wieder wie eine Flagge die Windstärken. Von Tag zu Tag hingen sie schlapper auf ihrem Kopf.

Sie dachte an das seltsame Gehabe um ihren Vorgänger. Ob er in eine ähnliche Lage gebracht worden war?

Ein feines Gespür für menschliche Abgründe hatte ihr gleich signalisiert, dass die netten Kollegen imstande waren, Gemeinheiten auszubrüten, die sich gewaschen hatten. Um zum Beispiel eine Versetzung herbeizuführen.

Fatma besaß auch genügend Fantasie, sich das öde Arbeitsleben in einer Provinzstadt vorzustellen. Etwa in Brandenburg.

„Nach Brandenburg will ich auf keinen Fall!“

Sie starrte die leere weiße Wand ihrer Bürozelle an. So leer, wie Brandenburg, wo trotzdem Fremde oder fremd Aussehende oftmals von vornherein auf Misstrauen stießen. Wo in manchen Dörfern Neonazis die Bevölkerung terrorisierten.

„Niemals nach Brandenburg!“

Fatma wollte herausfinden, was ihrem Vorgänger widerfahren war. Die Aussagen der Kollegen über ihn waren ausweichend.

„Der war ein Einzelgänger. Keine Ahnung, was er jetzt macht. Frag am besten mal Müller!“

Die meisten der von ihm bearbeiteten Fälle waren mit dem Vermerk „Erledigt“ abgelegt. Wirklich, eine phänomenale Aufklärungsquote!

Da reichte noch nicht einmal ihre eigene aus der Zeit im Drogendezernat heran. Obwohl Mehmet so kooperativ gewesen war, seiner jüngeren Schwester die entscheidenden Hinweise aus der Szene zu liefern. Allerdings nicht allein aus Familiensinn.

So war er auch ganz nebenbei Konkurrenten los geworden und hatte seine eigene Position im Handel gestärkt. Seine Geschäfte liefen seitdem von Tag zu Tag besser.

„Mehmet, das darf niemand erfahren!“

Vom Charakter her war er mehr der legere Typ. Unter Schwerkriminellen hätte er sich bald verdächtig gemacht, zu viel geredet, zu viele Späße gemacht. Einmal im Visier der Mafia, wäre ihre Verbindung bald aufgeflogen. Mehmets Schwester bei der Polizei!

„Dann gute Nacht!“

Fatma redete manchmal halblaut vor sich hin. Für Außenstehende Worte ohne Sinn. Während ihrer Schlaflosigkeit war ihr auch die eigene Schulzeit in Erinnerung gekommen. Gesichter wieder aufgetaucht, an die sie sich lange nicht mehr erinnert hatte.

„Wie hieß eigentlich mein erster Liebhaber?“

Sie kritzelte Namen auf ein Blatt Druckerpapier. Zum Einzugsgebiet ihrer ehemaligen Schule hatten auch die Betonhochhäuser der Neuköllner Gropiusstadt gehört. Seit Kindesbeinen daran gewöhnt, von Jugendbanden kontrolliert zu werden.

„Kriminelle Jugendbanden. Für Fatma ein Widerspruch an sich.“

Aus der Sicht von Kriminologen hatten viele Karrieren in Jugendgangs begonnen. Schnell folgten daraus Straftaten wie bewaffneter Raubüberfall oder schwere Körperverletzung. Sexuelle Nötigung oder Schutzgelderpressung waren dann auch nicht mehr weit.

„Täter im Alter ab vierzehn? Mehr Opfer als Täter.“

Eine Nacht lang hatte sie halb träumend, halb wachend mit ihrer eigenen Vergangenheit gerungen. Dann, vormittags im Büro, die entscheidende Idee. „Wenn ich mich schon aus den aktuellen Aktivitäten der OK heraus halten soll, dann bleibt mir doch nur noch eines: Jugendkriminalität. Die organisierten Jugendbanden.“

Ihre Zukunft verband sich mit Jugendgangs!

„Präventive, sinnvolle Polizeiarbeit!“

Sie würde junge Menschen vor dem Knast bewahren.

Mit dem Rückgrat einer solchen Berufsauffassung hellte sich ihre Laune von Minute zu Minute auf.

Sie spazierte in die Teeküche, wo eine Kaffeemaschine stand und gönnte sich einen Milchkaffee. Bis Mittag fabrizierte sie ihren Matchplan.

Nach außen ganz offiziell die Vorgaben ihres Vorgesetzten einhalten. Scheinbar dösend den „Erledigt“ Aktenbestand verwalten, aber nebenbei unauffällig die eigene Perspektive gestalten.

Ein Kollege bemerkte ihre veränderte Stimmung.

„Na, Kollegin, inzwischen schon eingelebt?“

„Ja, alles gut.“

Schnell verzog sie sich wieder in ihr Büro. Im Beziehungsgeflecht dieser Bürogemeinschaft schien jede Regung bemerkt zu werden. Wenn sie eines Tages würde Erfolge vorweisen können, sollte das für alle eine Überraschung sein. Sie träumte ihren Weg sogar noch ein bisschen weiter. Von Gehaltsklasse zu Gehaltsklasse, über diese Dienststelle hinaus. Eine normale Laufbahn, wie in jeder Behörde.

Am Wichtigsten war jedoch, dass sie sich mit einer Stelle als Platzhalterin nicht zufrieden gab. Die Herren sollten sie kennenlernen!

Im schmalen Lichtschein des trüben Butzenfensters ihres Büros sah sie auf einmal Bienen schwirren. Bloß das Schattenspiel eines Tischventilators, den sie zur Belüftung mitgebracht hatte. Aber sie sah anstatt flirrenden Schatten Bienen im Taurusgebirge von Berghang zu Berghang fliegen, um aus Blütennektar süßen Honig zu destillieren.

„Um meine Identität nicht zu verlieren!“

Mit neuem Selbstbewusstsein fing Fatma an, sich einen Überblick über die auffälligsten jugendlichen Straftäter zu verschaffen. Der Aktenbestand gab einiges her. Besonders interessierten sie die Jugendlichen, die ihre Straftaten in Gegenden verübt hatten, wo sie selbst früher zu Hause war.

Kollege Kaiser, von ihr insgeheim auf den Namen „Stoppelkopf“ getauft, steckte seinen Kopf durch die zuvor geöffnete Bürotür herein.

„Auch einen Kaffee?“

„Ich hatte gerade.“

„Ja?“

„Danke! Also im Moment, nein!“

Sie ahnte im Voraus, was auf sein umsorgendes Getue zwangsläufig folgen würde. Einmal eingewilligt, würde er von da an täglich ohne Anzuklopfen seinen „Stoppelschnittkopf“ durch ihre Bürotür schieben, um auf seine schleimige Art ein Kaffeeangebot abzugeben.

Der Kollege sah enttäuscht aus.

„Ich hole mir gerade auch einen.“

„Runter!“ Ergänzte sie gedanklich mit schnippischer Miene.

Der Stoppelkopf hatte an ihrer Tür gefälligst anzuklopfen! Wie jeder andere unangemeldete Besucher auch!

„Das Fenster ist offen. Es zieht.“

Sein Kopf hing immer noch wie ein Vollmond in ihrem Büro. Sie fühlte, wie Ärger in ihr aufstieg.

Die Herren von der Fahndung würden von ihren Schreibtischen aus seine Avancen als lustiges Intermezzo betrachten, sicherlich mit Wetten auf dessen Ausgang. So würde sie todsicher zum Kollegengespräch. Was sie unbedingt hatte vermeiden wollen.

„Einer der Kollegen nimmt sicher einen Kaffee ab.“

Deutlicher konnte sie nicht werden.

„Ach, die!“

Je länger er es schaffte, in ihrer Tür zu bleiben, desto prekärer die Gerüchte. Falls sie ihm dann eines Tages die Tür einfach vor der Nase zugeknallt hätte, und der allseits beliebte „Stoppelkopf“ seine Enttäuschung über das nicht mehr genehmigte Penetrationsrecht durch den Türspalt vor versammeltem Dezernat mit einem lauten „Zicke“ angeklagt hätte, wäre selbstverständlich sie zum Störenfried des harmonischen Betriebsklimas erklärt worden

Das Urteil der Herren Experten stand sowieso fest.

„Tür zu!“

Sie hätte dem Stoppelkopf von Anfang an Avancen gemacht!

Erotische Avancen!

„Tür zu!“

Sonst wäre sie doch nicht auf ihn abgefahren!

„Sind Sie schwerhörig?“

So wollte sie als Frau auf hinterhältige Weise ihren Mangel an Fachkompetenz mit dem armen Kollegen Stoppelkopf kaschieren.

In Bruchteilen von Sekunden jagten ihr solche Gedankenfolgen durchs Hirn.

Taktische Erfahrungswerte!

Als junge Berlinerin mit türkischen Wurzeln ahnte sie jeden männlichen Denkabschnitt lange voraus. In einem männlichen Durchschnittsschädel zumindest läuft immer das gleiche Muster ab.

Das nutzte sie aus.

Wie eine brillante Schachspielerin, Zug um Zug und weit voraus denkend, aber letzten Endes zum Selbstschutz! Um dieses dumme Spiel nicht zu verlieren.

Stoppelkopfs schleimiges Grinsen in seinem glattrasierten Gesicht schnurrte nach ihrem „Tür zu“ zu einem harten Lippenstrich.

Sah aus wie in Zitrone gebissen. Aber noch hielt er aus.

Fatma bewaffnete sich mit einem schweren Sammelordner voller Ergänzungen von Anweisungen zur Durchführung der Strategie der Deeskalation. Damit holte sie zu einer Art von Kugelstoß aus.

Endlich begriff er.

Nach den unendlich langen Sekunden seines Begreifens, bei fortwährend saublödem Gesichtsausdruck, realisierte er langsam, dass sie keinerlei Vergnügen durch seine Anwesenheit empfand.

Endlich zog er seinen Kopf zurück.

Fatma grinste.

Stoppelkopf blieb in den nächsten Tage unsichtbar.

Bemerkbar machte sich jedoch der neu erworbene Respekt, den man ihr nun entgegenbrachte. Ihr beinahe geschleuderter Aktenordner sprach sich in der gesamten Behörde herum, und so konnte sie ihre Arbeitsstunden bald als angenehm ungestört empfinden.

Sollten manche Kollegen sie seitdem wegen ihrer Distanziertheit zum anderen Geschlecht verdächtigen, lesbisch zu sein, störte sie das nicht. Sie verspürte keine Lust, diesen Herren das Gegenteil zu beweisen.

„Plattgesessene Beamtenärsche!“

Zur Verbesserung der Luft stellte sie als Zimmerpflanze ein „Bubiköpfchen“ in ihr Büro. Diese grüne Kugel zierte fortan ihren Schreibtisch. Sie erwischte sich dabei, wie sie diesem Köpfchen das grüne Blätterwerk kraulte.

Der Pflanze schienen diese Zärtlichkeiten zu gefallen, sie gedieh prächtig.

Doch die ruhige Wohnzimmeratmosphäre in ihrem Büro blieb ihr nicht lange erhalten.

„Dimitri!“

Mit vollem Namen Dimitrios Malezas, Sohn einer Einwandererfamilie aus Griechenland.

Wurde in ihrer Schulklasse einfach nur Dimitri genannt.

Fatma verglich sein Foto auf dem Bildschirm mit dem in der Ermittlungsakte. Und mit ihrer Erinnerung an ihren ehemaligen Klassenkameraden.

Dimitris Gesicht war schwer wiederzuerkennen. Aber er war es. Sie kannte seine Augen, seinen in die Ferne gerichteten, traurigen Blick.

Sie waren bis zur neunten in einer Klasse. Dieselbe Schule, derselbe Schulhof, dasselbe Pausenklingeln. Die gleiche Angst vor Tests und Klassenarbeiten.

Bis zur neunten Klasse war es gut für ihn in der Schule gelaufen. Er war beliebt, sang im Schulchor. Singen machte ihm Freude, er sang auch im Chor der griechisch orthodoxen Gemeinde, in den sein Vater ihn gebracht hatte. Um in seinem Herzen die griechische Kultur zu bewahren.

Seine Stimme war von dort her gut ausgebildet. Einige Lehrer hielten sogar große Stücke auf sein Talent, prophezeiten ihm eine Karriere als Opernstar.

„Dimitri auf der Opernbühne!“

Doch dann kam zur Überraschung aller die große Verwandlung des Dimitrios Malezas. Keiner kapierte, was sich da abspielte. Der eben noch nette Junge prügelte sich mit anderen auf dem Schulhof, reagierte dünnhäutig auf jeden Spaß. Leistungsverweigerung und Schuleschwänzen folgten.

Seine tollen Karrierechancen spielten sich auf einmal auf einer ganz anderen Bühne ab. Seine Lehrer reagierten enttäuscht. Manche sogar wie persönlich beleidigt.

„Was für ein verdorbenes Gesicht!“

Fatma betrachtete Fotos, die sein Gesicht zeigten, wie es sich von Jahr zu Jahr verändert hatte. Ein Trauerspiel. Vom hübschen Jungen zur Geisterbahn Fratze.

Ein Spinnennetz als Tatoo war über sein gesamtes Gesicht gezogen. Auf seinem kahl rasierten Schädel thronte eine Vogelspinne. Mit starrem Insektenblick signalisierte sie die Warnung:

Komm mir bloß nicht zu nahe!

Darunter schaute Dimitri mit halb geöffneten Augenlidern in die Kamera der ihn zur ID Behandlung fotografierenden Beamten auf dem Revier. Ein Schimmern in den Pupillen von dem Jungen, der er früher war.

„Armer Dimitri!“

Fatma bestellte den kompletten Aktenbestand über ihn in der Registratur.

Wenige Stunden später lag Dimitris kriminelle Laufbahn, so weit sie denn aktenkundig geworden war, ausgebreitet vor ihr auf dem Schreibtisch.

Urkundliche Gerichtsschreiben, Jugendstrafanstalt, psychiatrische Gutachten, Vernehmungsprotokolle, Beweisaufnahmen.

Dimitris Register konnte sich sehen lassen.

Verglichen mit Karrieren von Mitschülern, bei denen alles glatt gegangen war, schien er mehr als aktiv gewesen zu sein.

Vor ihren Augen tauchten die Gesichter ihrer Schulklasse zu den erfolgreichen und weniger erfolgreichen Lebensläufen auf. Mit einigen davon war sie jahrelang gut befreundet gewesen. Die meisten waren dann zum Studium in andere Städte gezogen, oder hatten Kinder bekommen und lebten ihr Leben vollkommen neu.

An ihre besten Freundinnen erinnerte sie sich gern. Eine lustige Zeit! Doch aktuell gab es keinen Kontakt.

Mit Jungs war es zu Schulzeiten sehr kompliziert gewesen. Sie interessierten sich für andere Dinge, hatten Pickel im Gesicht oder dufteten unangenehm.

Fatma war aber mit allen ganz gut ausgekommen. Und auch selbst beliebt.

Nur auf dem Schulhof hatten sich Feindschaften zwischen einigen Gruppen entwickelt. Aus welchem Anlass, erinnerte sie nicht.

Sobald Schwächere drangsaliert wurden, hatte Fatma sich eingeschaltet und auch ausgeteilt. Daher rührte ein Teil ihrer inneren Stärke. Ihren Verstand hatte sie oft als Waffe genutzt und seine Schlagfertigkeit geschärft.

„Ich bin schon damals dazwischen gegangen, wenn ich etwas als ungerecht empfand.“

Sie las jedes Schriftstück aus seinen Akten. Was für absurde Meinungen psychiatrische Gutachten über den Jungen verbreiteten. Sie kannte ihn besser. Er war einer der wenigen Jungen, mit denen sie damals überhaupt etwas zu tun haben wollte. Weil er witzig sein konnte, ohne sich dabei über andere lustig zu machen. Schadenfreude war unter seiner Würde.

Ein wehmütiger Schimmer tauchte in Fatmas dunklen Augen auf.

„Mein armer Dimitri!“

Seit den gemeinsamen Schulzeiten war er aus ihrem Gedächtnis verschwunden gewesen. Wie von der Festplatte gelöscht und mehrmals mit neuen Erfahrungen ihres Lebens überschrieben.

„Aber in ihn war ich verliebt.“

Als er die Klasse verlassen musste, hatte sie zu ihm gehalten. Um ihre Freundschaft gekämpft. Angerufen, sogar einen Brief geschrieben. Doch niemals abgeschickt. Schüchtern war sie damals.

Und zum ersten Mal richtig verliebt. Manches Wort war ihr deshalb im Hals stecken geblieben.

Fatma blickte lange auf eines der letzten Polizeifotos von Dimitri.

Er blickte darauf mit zornigem Blick.

Kommissar Katzorke

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