Читать книгу Die Fliege im Finanzamt - Volker Lüdecke - Страница 4
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ОглавлениеAuf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin liegt die kulturelle High Society der vergangenen Jahrhunderte unter der Erde begraben. Ein Ort zur Inspiration, dachte sich Konstantin Reuter, prominenter Krimiautor aus Detmold, seit dreizehn Jahren wohnhaft in Berlin.
Die Toten sind Geschichte und erzählen Geschichten aus Perspektiven, wie sie die Lebenden niemals einnehmen könnten.
Zwischen den Gräberzeilen spazierend kam er an der Grabstelle eines prominenten Denkers vorbei, Johann Gottlieb Fichte, 19. Mai 1762 – 29. Januar 1814.
Reuter kramte im Gedächtnisbestand seiner Allgemeinbildung, schemenhaft liftete sich die Philosophie des Deutschen Idealismus aus dieser Grube. Kant, Hegel, dessen Schreibstil er während seines Studiums gehasst hatte.
Er blickte vom Grabstein hinauf in die Höhe des Geästs eines Baumes und sah in dessen Schema gleich die vielfältige Verästelung der Einflüsse der deutschen Philosophie des Idealismus auf die Literatur der deutschen Klassik und Romantik bis heute.
Goethe, Schiller und Herder wirkten mit ihren Werken, diesen alten, halbblinden Spiegeln aus längst vergangenen Tagen, bis hinüber in unsere Gegenwart.
Selbst wenn die Schüler in den Schulklassen des Deutschunterrichts sich an ihnen langweilten und manche Bevölkerung ihre Schriftsteller zu Lebzeiten demütigte und hasste, nach deren Ableben verbreiten sie eifrig ihre Schriften und setzen Heerscharen von Studenten auf jeden Notizzettel an, der im Papierkorb eines verblichenen Dichters und Denkers vor dem ewigen Schredder gerettet werden konnte.
Konstantin Reuters zuletzt veröffentlichter Band, „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“, passte schon vom Titel her nicht in den illustren Kreis jener Geistesgrößen im Dichterolymp dieser Ruhestätte.
Sein Taschenbuch verkaufte sich immerhin erstaunlich gut, vor allem nach der Rezension im „Tagesspiegel“, eine jener Berliner Tageszeitungen, die seit der Wiedervereinigung vergeblich um internationales Ansehen als Hauptstadtblatt rangen.
Jahrelang hatte er mit mäßigem Erfolg versucht, sich in der Berliner Literaturszene Gehör zu verschaffen, und dann unverhofft dieser plötzliche, nahezu unerklärliche Aufschwung.
Reuter schreibt seine durch die Straßen mäandernden Figuren wie eine Liebeserklärung an einen Vergessenen, dessen aufgeschriebene Sätze in keine Zeit passen.
So stand es im Tagesspiegel.
„Meine Sätze passen in keine Zeit?“
Was wollte das meinen, „Liebeserklärung an einen Vergessenen“?
Meinte die Rezensentin mit dieser Sinnschleife etwa, dass er ein zeitloser Autor war?
Oder wollte sie versteckte Kritik anbringen, dass sein Kriminalroman „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“ keinen substantiellen Bezug zur Wirklichkeit habe?
Er grübelte, auf das mit Efeu bewachsene Grab von Ernst Litfaß schauend, hin und her, kam aber bald zu dem Schluss, dass es letzten Endes gleichgültig war, was diese Tagesspiegel Rezensentin gemeint haben wollte, denn das Blatt war ja auch nichts anderes als eine Litfaßsäule.
Einige Berliner, die noch Zeitung lasen, hatten sich seit seiner kleinen Erwähnung dort für Konstantin Reuters Kriminalromane interessiert, und zwar besonders für seinen zuletzt publizierten Band „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“.
Auf seinem Sterbebett würde er vielleicht eines Tages seufzen, mein größter Erfolg war „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“.
Sein Verlag, der ihn zwischenzeitlich als Karteileiche geführt hatte, drängte seitdem auf einen Folgeband, aber Reuter wollte seine Leser jetzt erst recht durch literarische Qualität überzeugen.
„Meine Leser zu begeistern, das kostet eben Zeit.“
Seinem neuen Manuskript fehlte noch der besondere Kick, die für den Leser unvorhersehbare, überraschende Wendung.
Vor ein paar Tagen, im Café M, wo er gelegentlich schreibend vor seinem Laptop saß, hatte er sich durch einige Gäste gestört gefühlt, die ihn offenbar mit einer Figur aus seinem Buch identifizierten.
„Was soll man solchen Idioten sagen? Nein, ich habe niemanden erschlagen? Ich bin nicht der Mörder aus meinem Buch?“
Die Schattenseiten der Bekanntheit ließen sich aber noch ganz gut ertragen. Reuter ging es seit einem halben Jahr richtig gut. Nur fiel es ihm nicht mehr ganz so leicht, sich auf seine Schreibarbeit zu konzentrieren, weshalb er immer öfter den Dorotheenstädtischen Friedhof aufsuchte.
Auch im Frühsommer ein morbider Ort, an dem es Reuter wie nirgendwo sonst gelingen sollte, seine fast perfekten Morde zu planen.